Kirchenlexikon Die Irrlehre des Chiliasmus

Kirchenlexikon: Die Irrlehre des Chiliasmus

Die Lehre des Chiliasmus gegen die Lehre Christi

Chiliasmus ist die Lehre von einem tausendjährigen Reich des Messias am Ende der Zeiten, welches mit der ersten Auferstehung der Gerechten beginnen und mit der allgemeinen zweiten Auferstehung, dem Weltende und dem allgemeinen Weltgericht, zum Abschluss kommen soll. Ihren Ausgangspunkt hat dieselbe in den Vorstellungen der irdisch gesinnten Juden, welche die Weissagungen der Propheten Isaias, Ezechiel, Daniel über das messianische Reich ganz wörtlich auffaßten und von einem weltlichen Reich verstanden, in welchem der Messias dem Volke Israel die Herrschaft über die ganze Erde verschaffen und eine Fülle paradiesischer Seligkeit überallhin verbreiten werde. In solchen Erwartungen wiegte sich zur Zeit Christi der größte Teil des jüdischen Volkes, und selbst die Apostel, wie deren Verwandte, waren Anfangs nicht ganz frei von denselben (Matth. 20,20ff).

Die Lehre Christi

Der Herr selbst entsprach denselben in keiner Weise. Er war als der eingeborene Sohn Gottes vom Himmel gekommen, um Alle zu Gott und zum Himmel zu führen; nur auf die Gründung eines solchen himmlischen Reiches war seine Lehre und sein ganzes irdisches Leben gerichtet. Er predigte Buße, Abtötung und Selbstverleugnung, d. h. die Lehre vom Kreuz, und stellte sie in seinem Leben auf das Vollkommenste dar. Der Sohn Gottes galt als der Sohn des Zimmermanns zu Nazareth, hatte während seines öffentlichen Wirkens nichts, wohin er sein Haupt legen konnte, und starb den schimpflichen Tod am Kreuz.

Um diese Lehren vom Himmelreich und diese göttlichen und übernatürlichen Lehren des Gottmenschen zu erfassen und mit ganzer Seele aufzunehmen, dazu bedurften die Apostel einer Erhebung über den Kreis ihres natürlichen Denkens und Trachtens einer geistigen Umwandlung, und diese wurde ihnen am ersten Pfingsttag durch den heiligen Geist zu Teil. Da erst wurden sie mit der Kraft von Oben ausgerüstet, die Lehren des Messias, auch die von seinem Reiche, zu verstehen und Alles, auch ihr Leben, für sie und für die Verkündigung derselben zu opfern.

Der Chiliasmus in der frühen Zeit

Erwartungen der Juden

Bei den irdisch gesinnten Juden fanden sie mit ihrer Predigt keinen Anklang. Ihren Erwartungen entsprachen die Vorspiegelungen der falschen Messiasse, welche in der damaligen Zeit, der eine nach dem andern, auftraten und das Volk zu gewaltsamen Empörungen gegen die römische Herrschaft aufwiegelten. Ihnen diente die Lehre des wahren Messias und die Religion des Kreuzes zum Spott und Hohn (2. Petr. 3,4), und dieses Gegensatzes sind sich die Apostel wohl bewusst. Auf die Lehre Christi und der Apostel, wie sie in den heiligen Büchern vorliegt, läßt sich die Vorstellung von einem irdischen tausendjährigen Reiche Christi gar nicht zurückführen, wenn wir vorläufig von der dunkeln prophetischen Stelle Offenb. 20 absehen. Ebenso wenig sprechen dafür die ältesten Zeugnisse der apostolischen Tradition. Die Schriften der apostolischen Väter, des hl. Clemens Romanus, Ignatius, Polycarpus, Hermas, der Brief an Diognet, enthalten nichts von den chiliastischen Vorstellungen.

Vorstellungen bei den frühen Sekten

Wohl aber wurden dieselben von solchen Sekten gehegt, welche dem Judentum näher als dem Christentum standen, von den Ebioniten und Cerinthianern (Hier. Inn Isai. 66,20; Eus. H.E. 7,25; Aug. De Haer. 8). Zugleich trug der Chiliasmus dieser Sekten einen entschieden häretischen Charakter an sich, indem man von dem tausendjährigen Reich die Befriedigung aller sinnlichen, auch der geschlechtlichen Triebe und die Wiederherstellung des jüdischen Kultes in Jerusalem erwartete. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Cerinth zur Stütze dieser Erwartungen eine apokryphe Apokalypse verfaßte. Von einer solchen Schrift redet der römische Priester Cajus in der Disputation mit dem Montanisten Proclus, und der hl. Dionysius von Alexandrien sagt, daß einige seiner Vorgänger die Apokalypse für ein Machwerk des Cerinth gehalten hätte (Eus. H.E. 3,28). Dieser häretische Chiliasmus findet sich in der Folgezeit bei vielen Sekten wieder, welche einen schwärmerischen Charakter an sich tragen.

Vorstellungen bei den Väter der vornicänischen Zeit

Daneben begegnen wir in der vornicänischen Zeit auch innerhalb der Kirche bei einzelnen Vätern chiliastischen Vorstellungen ohne die bezeichneten offenbar häretischen Auswüchse. Dieselben gingen zwar auch auf ein irdisches tausendjähriges Reich, welches am Ende der Zeiten von dem Messias in dem wieder auferbauten Jerusalem gegründet werden und mit der ersten Auferstehung der Gerechten beginnen sollte; allein der Sünde und dem Judaismus gaben diese keine Verheißungen für die Zukunft.

Die Väter dieses feineren Chiliasmus ist Papias, Bischof von Hierapolis in Phrygien; jedenfalls hat er durch sein Ansehen zur Verbreitung dieser Vorstellungen in Kleinasien viel beigetragen. Er schrieb fünf Bücher und hatte die Nachrichten, wie er selbst in der Anleitung angibt, nicht unmittelbar vom Apostel Johannes, sondern von Aristion und Johannes dem Presbyter, zweien Apostelschülern, sowie von Anderen, welche die Apostel gehört hatten. Im vierten Buch der Exegesen bekennt er sich zum Chiliasmus als einer apostolischen Lehre, was Eusebius (H.E. 3,39) aus dem beschränkten Geist desselben erklärt, indem er zwischen der buchstäblichen und figürlichen Auffassung der biblischen Stellen nicht zu unterscheiden gewußt habe. Den Verfasser der Epistola Barnabae kann man aber nicht mit Sicherheit zu den Chiliasten rechnen. Er zieht nur eine Parallele zwischen dem Sechstagewerk der Schöpfung und der 6000jährigen Geschichte der Menschheit, so daß er auf dieselbe den ewigen Sabbat folgen läßt (c.15).

Wohl aber gehört zu diesen Chiliasten der hl. Justin, der in dem Dialog mit dem Juden Trypho (c.80), welchen er zu Ephesus gehalten, seinen Glauben an das 1000jährige Reich bekennt und ihn zu den Bestandteilen des orthodoxen Glaubens rechnet, weil man mit der Leugnung desselben zugleich den Glauben an die Auferstehung fallen lasse. Derartige Hoffnungen und Vorstellungen hatten für das christliche Volk in der damaligen Zeit einen besonderen Reiz, woraus wir uns ihre Verbreitung leicht erklären können. Die schrecklichen Verfolgungen, unter denen die Christen seufzten, steigerten die Sehnsucht nach einer Besserung der Verhältnisse und nach einem irdischen Reich des Messias, wie nach einer baldigen Bestrafung und Vernichtung der Verfolger durch die göttliche Gerechtigkeit (Möhlers Patrologie 427f). Die übrigen Apologeten des zweiten Jahrhunderts, Tatian, Athenagoras, Theophilus, wissen jedoch nichts vom Chiliasmus.

Vorstellungen bei Tertullian und dem hl. Irenäus

Die Reihe der Chiliasten wird fortgesetzt durch Tertullian, der diese Vorstellungen mit den Montanisten teilte und in der verloren gegangenen Schrift De spe fidelium, wie im dritten Buch „gegen Marcion“, niedergelegt hat, sowie durch den hl. Irenäus,, einen Schüler des heiligen Polycarp, Bischof von Lyon, dessen Chiliasmus ebenso auf Kleinasien hinweist, wie der Glaube der Montanisten. Irenäus malt die Vorstellung vom tausendjährigen Reich im Einzelnen aus (Adv. Haer. 5,24-36) und meint, daß, wenn das römische Reich und die dreieinhalbjährige Herrschaft des Antichrists mit dem sechsten Jahrtausend der Weltgeschichte zu Ende gegangen, Christus der Herr in Herrlichkeit wiederkommen und mit den auferstandenen Märtyrern und Bekennern von dem neu erbauten Jerusalem aus die Völker der Erde regieren und paradiesische Zustände auf Erden begründen werde.

Für den hl. Irenäus kam noch eine spezielle Veranlassung hinzu, daß er den Chiliasmus lieb gewann, indem er darin eine Verurteilung des Gnostizismus erblickte, welchen er in seiner Schrift vornehmlich zu bekämpfen hatte. Denn die Annahme, daß die Materie der Sitz der Sünde sei, und diese eine unüberwindliche Macht besitze, wurde durch den Chiliasmus ausgeschlossen, und es wurde dadurch zugleich die Macht des Erlösers scheinbar in ein helles Licht gestellt (1. c. c. 31). Allein in anderen Gegenden als Kleinasien sind die Spuren des Chiliasmus gar nicht oder doch nur spärlich zu finden.

Die Väter gegen den Chiliasmus

Als die Montanisten ganz schwärmerischen Vorstellungen in dieser Hinsicht huldigten, traten die Väter denselben direkt entgegen. Namentlich ist dies von dem römischen Presbyter Cajus zu Anfang des dritten Jahrhunderts aus seinen Disputationen mit dem Montanisten Proclus bekannt (Eus. H.E. 3, 28). Er hielt Cerinth für den Vater dieser Irrtümer. Ebenso erhob sich Origenes (De princ. 2,11) gegen dieselben und nannte ihre Anhänger Sklaven des Buchstabens, weil sie die prophetischen Schilderungen der heiligen Bücher über das messianische Reich wörtlich auffaßten. Im Übrigen ging jedoch Origenes in der allegorischen Erklärung vielfach zu weit und provozierte dadurch von selbst eine Opposition.

In der alexandrinischen Kirche erhob sich der Bischof Nepos von Arsinoe (…), und nach dessen Tode sein Schüler Korakion für den Chiliasmus und gründeten ein förmliches Schisma. Diesen trat Dionysius der Große, Bischof von Alexandrien (…) entgegen und führte viele Anhänger des Chiliasmus durch mündliche Disputationen in Arsinoe zur Kirche zurück. Nur ging er in diesem Kampf dadurch zu weit, daß er die Apokalypse, um den Chiliasten ihre Anhaltspunkte im 20. Kapitel derselben zu entkräften, für eine Schrift nicht des Apostels Johannes, sondern eines anderen inspirierten Mannes erklärte und hinzu fügte, einige seiner Vorgänger hätten dieselbe für ein Machwerk des Cerinth ausgegeben (Eus. H.E. 7,24 u. 25). Er erwähnt hierbei nicht, daß diese Vorgänger wahrscheinlich, wie schon bemerkt wurde, eine andere Apokalypse im Auge gehabt haben. –

Die Vorstellung bei Lactantius

Nach Victorimus von Pictavium, den der hl. Hieronymus ( In Ezech.) zu den Chiliasten rechnet, und Commodianus (Instrukt. Adv. Gentium deos bie Pitram Spicileg. I, 47 sqq.), einem Zeitgenossen des hl. Cyprian, ist es zu Anfang des vierten Jahrhunderts Lactantius, der dem Chiliasmus in seinen Institutionen (7, 20 sqq.) das Wort redet.

An seinen Ausführungen wird recht ersichtlich, wie die genauere Beschreibung des tausendjährigen Reiches von selbst Verwirrung in die Lehre der heiligen Schrift über die letzten Dinge brachte. Er meint, daß nach Ablauf der sechstausend Jahre der Weltgeschichte ein Gericht über die abgehalten werde, welche an Christus geglaubt haben, wogegen die Ungläubigen von vornherein verworfen seien (c. 20). Das besondere Gericht nach dem Tode wird fallen gelassen, und für die Gerechten während der Zeit nach dem Tode bis zum Beginn des tausendjährigen Reiches nicht die Anschauung Gottes, sondern ein Gefängnis angenommen. Ebenso wird die gleichzeitige Auferstehung Aller geleugnet.

Je deutlicher dieser Widerspruch des Chiliasmus in seinen näheren Bestimmungen mit der biblischen Eschatologie hervortrat, um so mehr wurde er von nun an von den Vätern bekämpft. Er fand nur noch bei einzelnen Häretikern, wie bei den Apollinaristen (vgl. Epiph. Haer. 77), Aufnahme, aber Verwerfung beim hl. Basilius (Ep. 74) und beim hl. Gregor von Nazianz (Carm. 30). Der hl. Hieronymus kommt in seinem Kommentar zur heiligen Schrift oft auf die Fabel vom tausendjährigen Reich zurück, um sich dagegen zu erklären und der bildlichen Interpretation der betreffenden Stellen das Wort zu reden; so in Is. 17,60; in Ez. 36; in Zach. 14 etc.

Endgültige Widerlegung des Chiliasmus durch den hl. Augustinus

Am gründlichsten und nachhaltigsten wurde der Chiliasmus vom hl. Augustin bekämpft. Durch diesen ward er nicht nur seines Charakters als einer frommen Meinung, wofür er wegen des Ansehens der vornicänischen Väter bei Manchen gegolten hatte, vollständig entkleidet, sondern eigentlich zu Grabe getragen, obwohl Augustin selbst, nach eigenem Geständnis, demselben früher zugetan gewesen war. Dies erreichte er nicht etwa durch Verdächtigung der Apokalypse, welche die wichtigsten Anhaltspunkte bot, sondern durch eine gründliche allegorische Erklärung der einschlägigen Stellen in derselben, namentlich des 20. Kapitels.

Dem Wortlaut derselben gemäß soll der Satan auf tausend Jahre gefesselt und in einem Abgrund verschlossen werden, während welcher Zeit die Heiligen und Märtyrer mit Christo regieren werden. Am Ende dieser Zeit, welche mit der ersten Auferstehung der Gerechten beginnt, wird der Satan nochmals losgelassen werden und das Heerlager der Heiligen bekriegen, aber besiegt und in den Feuerpfuhl geworden werden. Alsdann wird der Herr in seiner Herrlichkeit und Glorie wieder erscheinen und alsbald nach der nun erfolgenden zweiten und allgemeinen Auferstehung das Weltgericht abhalten.

Der hl. Augustin bezieht nun diese Schilderung vom tausendjährigen Reich auf die christliche Zeit und die von Christo dem Herrn gegründete Kirche, d. h. auf die jetzige triumphierende Kirche im Himmel in Verbindung mit der streitenden hier auf Erden, besonders nach dem Sieg derselben über die heidnische römische Weltherrschaft. Tausend Jahre bezeichnen dann einen unbestimmten Zeitraum, und die erste Auferstehung ist nicht die des Leibes, sondern eine geistige, nämlich die Aufnahme der Heiligen und Märtyrer in den Himmel zur Teilnahme an der Herrschaft Christi über alle Menschen. Während dieser Zeit ist der Satan in Vergleich mit der vorchristlichen wirklich gefesselt; denn Christus hat ihn durch seinen Tod überwunden und ihn in Ketten gelegt, und die Kirche richtet ihr Lehr-, Priester- und Hirtenamt und die ununterbrochene Ausübung desselben darauf hin, das Reich des bösen Feindes immer mehr zu beschränken.

Aber am Ende dieser Zeit wird der Teufel nochmals auf eine kurze Frist losgelassen und macht seine letzten Anstrengungen gegen das Reich Gottes; es ist die Zeit des Antichrists und der Todeskampf für das Reich des Teufels; der Satan wird überwunden und von der Kirche zu Boden gestreckt werden. Alsdann naht das Ende der Welt, die zweite Wiederkunft Christi und die zweite Auferstehung, nämlich die des Leibes für alle Menschen. So De Civ. Dei 20,7. Auf die Widersprüche der chiliastischen Vorstellungen mit den Glaubenslehren über die letzten Dinge ging der hl. Augustin nicht speziell ein. Aber die biblische Grundlage war dem Chiliasmus unter den Füßen weg genommen, um so mehr, als die Interpretation des hl. Augustin von den nachfolgenden Vätern und Scholastikern fast allgemein rezipiert und so zu einer kirchlichen wurde.

Der Chiliasmus im Mittelalter

Die Scholastiker gegen den Chiliasmus

Die Scholastiker betrachten den Chiliasmus nicht nur als einen überwundenen Standpunkt, sondern bezeichnen ihn zum Teil als eine häretische Meinung; so der hl. Thomas (S. th. Suppl. qu. 77, a. 1). Der hl. Bonaventura hält den Satz von der gleichzeitigen Auferstehung aller Menschen, welcher durch den Chiliasmus ausgeschlossen wird, für einen Bestandteil des katholischen Glaubens (In Sentt. 4, dist. 43, a. 1). Soto, einer der tridentinischen Theologen, bemerkt, daß die chiliastischen Fabeln, wie er sie nennt, von der Sinnlichkeit eingegeben seien (In Sentt. 4, dist. 43, qu. 2, a. 1); Bellarmin bezeichnet sie als längste überwundene Irrtümer (De Rom. Pont. l. 3. c. 17), ebenso Suarez (De Inc. P. 2, disp. 50, sect. 8) u. A.

Joachim von Floris

Dagegen lebte der Chiliasmus bei einzelnen Sekten im Mittelalter fort und nahm bei ihnen ganz entschieden häretische Bestimmungen auf, indem man, wie Joachim von Floris, für die Geschichte der Menschheit drei verschiedene Zeitalter, das des Vaters (das vorchristliche), das des Sohnes (das christliche) und das des heiligen Geistes (das tausendjährige Reich) annahm. Ähnliche Vorstellungen hatten Peter de Oliva, die Apostoliker und Amalrich von Bena.

Der Protestantismus

Der Protestantismus mit der ursprünglichen Lehre über die gänzliche Verdorbenheit des gefallenen Menschen und seine Unfähigkeit für jegliches Gute bot von der Seite keinen Boden für den Chiliasmus. Die Augsburgische Konfession verwarf im 17. Artikel die jüdischen Vorstellungen von dem Millenium, welche die Wiedertäufer erneuert hatten. Aber für den sinnlichen Menschen behielten dieselben immer viel Verlockendes, und sie fanden allmählich auch innerhalb des Protestantismus bei den mystischen und pietistischen Sekten (siehe: Pietismus) immer mehr Anklang.

Von einer anderen Seite bot der Protestantismus nämlich auch Anknüpfungspunkte für den Chiliasmus. In der gegenwärtigen sichtbaren Kirche sah er nichts als Schatten, Irrtum und Böses, ja das Reich des Antichrists; und in den protestantischen religiösen Gemeinschaften konnte man noch weniger eine Darstellung des Gottesreiches vorzeigen. Von der Zukunft und einer Zukunftskirche die Erfüllung aller Wünsche zu erwarten, lag dem Protestantismus also nicht sehr fern. So erklärt es sich, wie nicht nur einzelne Protestanten, z. B. Petersen, Horch, Küster im 17., Bengel im 18. Jahrhundert, sondern in der neuesten Zeit fast sämtliche protestantische Exegeten dem Chiliasmus huldigen, und die Mormonen wie Irwingianer denselben zum Bestandteil ihres Bekenntnisses gemacht haben (vgl. Schneider, Die chiliastische Doktrin, Schaffhausen 1849, 240ff).

Entscheidende dogmatische Gründe gegen den Chiliasmus

Kein ausdrückliches Verwerfungsurteil der Kirche

Innerhalb der Kirche hat der Chiliasmus auch in der neueren Zeit nur ganz vereinzelte Vertreter gefunden, und gewöhnlich nur solche, welche ihn mit Rücksicht auf die vornicänischen Väter noch als einen locus liber glaubten annehmen zu dürfen. Das Unbegründete und Verfehlte der chiliastischen Erwartungen wird in der Kirche somit ganz allgemein angenommen. Es kann sich eigentlich nur darum handeln, ob der Chiliasmus auch in der milderen Form, wenn er die Aussicht auf Befriedigung der unordentlichen Begierlichkeit und auf Wiederherstellung des jüdischen Kults ausschließt, als sententia erronea oder als sententia haeretica anzusehen sei. Das Letztere glauben viele Theologen, wie Franzelin, Jungmann u.a., nicht behaupten zu können, weil die Kirche nicht nur keine förmliche Verwerfung desselben ausgesprochen, sondern den Irrtum auch bei vielen Schriftstellern toleriert habe, ohne das Verwerfungs-Urteil über denselben ausdrücklich gefällt zu haben.

Dogmatische Gründe gegen den Chiliasmus

Trotzdem stehen dem Chiliasmus solche entscheidende dogmatische Gründe der heiligen Schrift, der Tradition und ratio theologica entgegen, daß er als eine sentantia erronea, fidei divinae offensivae auch in der milderen Form bezeichnet werden muss.

Dogmatische Gründe der Hl. Schrift

1. Die heilige Schrift lehrt überall, wenn wir von Offb. 20 absehen, auf das Deutlichste keine doppelte, sondern nur eine allgemeine Auferstehung Aller am jüngsten Tage (Joh. 6,59) und zwar eine gleichzeitige der Guten wie der Bösen (1. Kor. 15,51), welcher für die Gerechten sogleich die Aufnahme in den Himmel auch dem verklärten Leibe nach folgen wird (Matth. 25,46; 2. Kor. 5,1). Es ist ferner eine ausgesprochene Lehre der heiligen Schrift, daß gleich nach dem Tode das besondere Gericht stattfinde, und die Gerechten, welche von aller Makel der Sünde und Strafe frei sind, sogleich zur Anschauung Gottes gelangen werden (Pred. 12,7; Luk. 16). Selbst die Chiliasten mussten diese Wahrheit wenigstens für die Märtyrer annehmen, wie Tertullian (De res. 43; Apol. 47) und der hl. Irenäus (Adv. Haer. 4, 33,9).

Nur in Folge des Chiliasmus ergaben sich über diesen Glaubenspunkt bei einzelnen Theologen gewisse Schwankungen und Zweifel, obschon sonst die Väter darüber vollständig übereinstimmen.

Die Bulle Benedictus Deus

Als im Mittelalter Papst Johannes XXII. in einer Versammlung der Kardinäle non definiendo, sed disputando sich ebenfalls mit Unsicherheit darüber geäußert hatte, definierte der nachfolgende Papst Benedikt XII. in der Bulle Benedictus Deus vom Jahre 1336 als Glaubenssatz, Homines pios plene purgatos vel justos ex hac vita decedentes statim consequi beatitudinem, et visione Dei beatifica perfrui. Dasselbe geschah auf dem allgemeinen Konzil von Florenz in dem Unionsdekret. Mit dieser dogmatischen Lehre der heiligen Schrift wie der Kirche steht nun aber der Chiliasmus in Widerspruch, indem für die Seligen des Himmels ein Aufenthalt hier auf Erden in Vermischung mit den noch sterblichen Menschen während des tausendjährigen Reiches nicht nur zwecklos, sondern zweckwidrig und als eine Strafe erscheint.

Die Tradition

2. Die Tradition kann nicht nur nicht als eine Stütze des Chiliasmus angeführt werden, sondern spricht direkt gegen ihn. Mögen auch einzelne vornicänische Väter sich für denselben ausgesprochen haben: nach dem Konzil von Nicäa, namentlich seit den Zeiten des hl. Augustin, hat innerhalb der Kirche kein namhafter Theologe sich je wieder für denselben erklärt. Jedenfalls hat vom angeführten Zeitpunkt an bis auf unsere Tage eine vollständige Unterbrechung oder ein Abbruch der Tradition stattgefunden; dies findet aber bei keinem Bestandteil des Glaubens statt. Es kann wohl über einzelne Folgesätze und nähere Bestimmungen des Glaubens ein Bewusstsein der Kirche sich erst allmählich entwicklen, so daß es an Zeugnissen für dasselbe in den voran gehenden Zeiten fehlt.

Aber wenn die Tradition einmal eine allgemeine geworden ist, so kann sie in der Kirche nicht wieder abgebrochen oder erstickt werden. Ja man hat die Meinungen einzelner vornicänischer Väter, welche nur auf einen Teil der Kirche, auf Kleinasien, hinweisen, in der Kirche nicht nur fallen gelassen, sondern als Irrtümer verworfen, wie oben gezeigt wurde.

Die theologische Vernunft gegen den Chiliasmus

3. Gegen die ratio theologica verstößt der Chiliasmus, indem die Vorstellung vom Millenium, in welchem auch das sterbliche Geschlecht sich fortpflanzen soll, zu einer ganz unvernünftigen wird. Denn die Verbindung der sterblichen Menschen mit den auferstandenen Gerechten zu einem sichtbaren Gottesreich würde für erstere den Glauben an die Auferstehung in ein Schauen verwandeln und ihm den verdienstlichen Charakter nehmen.

Er ist außerdem eine Frucht der Abneigung gegen die gegenwärtige sichtbare Kirche und zugleich eine Nahrung für diese Abneigung. Die allgemeine Idee von den paradiesischen Zuständen, welche ja im Anfang der Geschichte tatsächliche gewesen sind, und von der unberechenbaren Kraft des Erlösungs-Werkes auch für die irdische Ordnung beruht gewiss auf Wahrheit und macht uns für chiliastische Vorstellungen zugänglich. Aber diese Erneuerung und Wiedergeburt des Menschengeschlechtes will das Christentum eben unter der Form der von Christo gegründeten sichtbaren Kirche allmählich hier auf Erden hervorbringen, so daß es sich gar nicht im Voraus bestimmen läßt, was die Kirche durch die göttliche Wahrheit und Gnade, durch die christliche Caritas und Tugend noch aus dem Menschengeschlecht machen wird.

Allein der Abbruch der allmählichen geschichtlichen Entwicklung ist erst am Ende der Zeiten zu erwarten, wo der Herr wieder kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten, und alsdann seine Herrschaft an den Vater zurückgeben wird. –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 3, 1884, Sp. 142 – Sp. 150

Tags: Häresie

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