Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Pietismus
Pietismus von pietas=Frömmigkeit; Name zunächst Spottbezeichnung, wahrscheinlich 1675 in Hessen-Darmstadt aufgekommen, jene praktisch-religiöse Bewegung im deutschen Luthertum des 17. und 18. Jahrhunderts, die das Christentum durch pflege des im gottseligen Verhaltens sich betätigenden Glaubens zu erneuern suchte. Sein Ziel war die Kirchenreform durch Vertiefung und Verlebendigung der persönlichen Frömmigkeit und durch Sammlung der wahrhaft in Christus Wiedergeborenen aus der Masse der getauften Weltmenschen. Da er dabei vom allgemeinen Priestertum im Sinn einer seelsorglichen Verpflichtung jedes Gläubigen ausging, gefährdete er, beim Fehlen eines durch das Weihesakrament ausgesonderten eigenen Priesterstandes im Protestantismus, den bestand der protestantischen Kirchenordnung. Hierdurch wie durch seine Kritik an der protestantischen Kirche kam er in Spannungen zu ihr. Der Pietismus hatte von Anfang an manche Ähnlichkeit mit puritanischen Bestrebungen in England („practice of the piety“) und mit Reformströmungen in den Niederlanden („Practycke der godzaligheit“) und wurde von ihnen beeinflußt. Doch liegen seine tieferen Ursachen in den Zuständen und Zeitverhältnissen des deutschen Protestantismus und letztlich in der seelischen Auflehnung gegen die Einseitigkeit der lutherischen Rechtfertigungslehre: dem Fiduzialglauben an Christus wurde das Gleichförmigwerden mit Christus gegenüber gestellt. Hinzu kam die Reaktion gegen den in dogmatischen Formeln und kirchlichen Gebräuchen damals weithin erstarrten protestantischen Orthodoxismus, die zur Wertung des persönlichen religiösen Erlebens und Lebens und zur Rückführung der Frömmigkeit auf die Bibel drängte. Weiterhin wirkte das Bemühen mit, das durch den 30jährigen Krieg zertretene religiöse Leben zu erneuern.
Begründer des Pietismus ist der von Labadie angeregte Ph. Jak. Spener (1635-1705), der seine Reformgedanken, besonders die Anregung zur Abhaltung von Privaterbauungs-Versammlungen, 1675 in der Schrift „Pia Desideria“ niederlegte, in Frankfurt a.M. Die Collegia pietatis ins Leben rief und seinen Freund Aug. Hermann Francke gegen die Leipziger Theologen unterstützte. Der Kampf der Professoren von Leipzig gegen Francke wegen der von ihm 1689 eingerichteten Collegia biblica wurde der äußere Anlass für die Entstehung der pietistischen Bewegung. Sie wuchs schnell, hatte bereits 1695 in 7 deutschen Staaten und 25 Städten Fuß gefaßt und drang bald von Deutschland in die Schweiz und die nordischen Länder, besonders Dänemark (Erik Pontoppidan) vor. Von den Staaten stellten sich für den Pietismus am günstigsten Württemberg und Preußen, wo Friedrich Wilhelm I. Sogar ein 2jähriges Studium an der pietistischen Universität Halle für alle evangelischen Theologie-Studierenden vorschrieb; die norddeutschen Staaten verhielten sich durchweg ablehnend; Hannover erließ ein allgemeines Konventikel-Verbot. Der religiöse Subjektivismus ließ den Pietismus zu keiner Einheit kommen. Von dem unduldsamen, rigorosen, methodistischen, rein ethisch eingestellten, Halleschen Pietismus unterschied sich der weitherzige, innerliche, mehr kirchliche, theologisch tiefere Pietismus Württembergs (J.A. Begel u.a.), während sich eine dritte Richtung zur Herrnhuter Brüdergemeinde entwickelte bzw. in die Erweckungs-Bewegung ausmündete. –
Auf Seelsorge, Caritas und Missions-Tätigkeit hat der Pietismus, trotz vieler Überspanntheiten und Engherzigkeiten in der Methodisierung der Bekehrung, befruchtend gewirkt. Er förderte die Einzelseelsorge, belebte die Konfirmation und den Religions-Unterricht, wirkte mit zur Neugestaltung des Volksschulwesens besonders in Preußen, sorgte für Bibelverbreitung und -lesung und nahm sich der Armen- und Waisenpflege (die Franckeschen Stiftungen in Halle) und der Heiden- und Judenmission mit Eifer und Erfolg an. Für Wissenschaft und Kultus hatte er im allgemeinen weniger Verständnis; sein Interesse ging nicht auf Dogma und Spekulation, sondern auf das rein Praktische. Einseitigkeiten und Überspanntheiten, die unnatürliche Gleichförmigkeit des von allen geforderten Bekehrungsganges, die pessimistische Stellung zu Gesellschaft und Leben und die oft puritanische Strenge hinderten seine Dauerwirkung auf die Massen. Ohne wesentlichen Widerstand erlag er der Aufklärung, der er durch seinen religiösen Subjektivismus (Gefühlschristentum), seine Erweichung der Dogmen und seine Ethisierung der Religion vorgearbeitet hatte. Aus seinem Subjektivismus, seiner Geringschätzung der theologischen Wissenschaft und Minderbewertung des Dogmas erwuchsen zahlreiche separatistische und sektiererische Gruppen, so die Inspirations-Gemeinden, die Buttlarsche und Bordelumsche Rotte, die Zionsgemeinde u.a., bei denen die in ernsten pietistischen Kreisen gepflegte, zum Teil an katholische Gedankengänge anknüpfende Jesusmystik zu Schwärmerei und Aftermystik entartete. Zerstreute Pietisten gründeten unter J.A. Urlsperger 1780 die Deutsche Christentums-Gesellschaft mit Sitz in Basel, woraus die Missions- und Bibelgesellschaften des 19. Jahrhunderts hervor gingen. Der über das 19. Jahrhundert bis heute fortlebende Pietismus steht mit der kirchlich-protestantischen Orthodoxie in Frieden und Zusammenarbeit. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VIII, 1936, S. 270 – Sp. 272