Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Schleiermacher
Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel, der einflußreichste protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts und bis zur Gegenwart bedeutender Philosoph der romantischen Richtung, wirkungsvoller Kirchenpolitiker, der für die Trennung von Staat und Kirche, für die preußische Union und gegen die Agende sich einsetzte, und eindrucksstarker Prediger, * 21.11.1768 zu Breslau, † 12.2.1834 zu Berlin. Schleiermacher studierte bei der Brüdergemeinde, aber seit 1787, von ihr wissenschaftlich nicht mehr befriedigt, in Halle; religiös freilich stieß er ihren Einfluß nie mehr ab. Nach philosophischen (Aristoteles und Kant) und praktisch-theologischen Studien ward er 1794 Hilfsprediger im Landsberg a. W:, 1796 in Berlin. Hier knüpfte er mit Friedrich Schlegel und den Romantikern Beziehungen an und ließ seine berühmten Reden über die Religion (1799; 1926), sowie seine Monologe (1800; neuere Aufl. 1902), den erstenEntwurf seiner späteren Glaubens- bzw. Sittenlehre, erscheinen. 1802 wurde er Hofprediger in Stolp, 1804 ao., 1806 o. Professor in Halle. Als wegen der Katastrophe von Jena der akademische Unterricht zu Halle geschlossen wurde, ging er 1807 nach Berlin als Privatgelehrter. Als solcher wirkte er, zumal seit 1809, wo er Prediger an der Dreifaltigkeitskirche ward, hervorragend für die Hebung des Patriotismus und für Gründung einer Universität. Mit Marheineke und de Wette bildete er in der 1810 eröffneten Universität Berlin die neue theologische Fakultät. Hier baute er jenes theologische System aus, das von entscheidender Bedeutung für die protestantische Theologie geworden ist.
In seinem Hauptwerk Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche (1821 u.ö., krit. Ausgabe mit Einleitung von C. Stange, 1910; vgl. M. Rade, Die Leitsätze von Schleiermachers Glaubenslehre, 1904) greift er auf seinen Religionsbegriff zurück: Religion (gemeint ist Religiosität, Frömmigkeit) ist ihm nicht Wissen (Gott ist für den Verstand unerkennbar), auch nicht Tun, sondern „Sinn und Geschmack für das Unendliche“, hervorgehend aus (Anschauung, d.i. Phantasie, u.) bestimmtem Gefühl, d.i. unmittelbarem Selbstbewusstsein. Frömmigkeit ist nämlich Abhängigkeitsgefühl (-bewusstsein) schlechthin und damit Bewusstsein („Gefühl“), daß ein weltüberragender Gott ist (das Wort „persönlicher Gott fehlt bei Schleiermacher, was seiner Gotteslehre einen pantheistischen Schein gibt). Da sich dieses Gefühl in Individuen und Völkern verschieden ausprägt, gibt es verschiedene Religionen bzw. Kirchen. Weil in der christlichen Religion dieses Gefühl am brauchbarsten für das Leben sich ausprägt, ist sie die höchste, aber nicht die allein wahre Religion; denn auch in andern Religionen gibt es Offenbarung, d.i. Abhängigkeitsgefühl schlechthin, wenn auch nicht so stark und rein wie in der christlichen. Offenbarung ist nämlich nicht Mitteilung von Lehren und nicht geschichtliche Kundgebung der Gottheit, sondern gerade jenes subjektiv äußerst verschiedene Abhängigkeitsgefühl. Kennzeichnend für die christliche Religion ist, daß in ihr die Verwirklichung der menschlichen Erlösungs-Bedürftigkeit an Christus geknüpft wird. Dessen wird aber der Mensch nicht durch die traditionelle Apologetik inne, sondern allein durch Glauben, d.h. durch vertrauensvolles Sichhineinstellen in die Gemeinde Christi. Die Erlöserkraft Christi besteht darin, daß er ein von Gott geschaffenes Urbild der Sündenlosigkeit ist und das höchste, weil durch kein Sünden-Bewusstsein getrübte Gottes-Bewusstsein (Abhängigkeits-Gefühl) hatte, das in seiner Gemeinde fortwirkt („Hl. Geist“). Die Dogmen sind nichts anderes als Ausdrücke der christlichen frommen Gemüts-Zustände in Worten; diese Gemüts-Zustände (ein sehr unklares Wort) waren und sind aber subjektiv stets verschieden. Dogmatik ist ihm daher eine historische Disziplin. Der christliche Glaube (im obigen Sinn) bleibt, die christliche Theologie wechselt, weil beides von einander verschiedene Dinge sind. Aus dieser Auffassung ergab sich für ihn allerdings, daß zwischen Lutheranern und Reformierten eine Union möglich sei. Schleiermacher erst hat durch seine Trennung von Glaube und Theologie mit dem Glaubensbegriff Luthers Ernst gemacht und ist dadurch für die neuere protestantische Theologie Bahnbrecher geworden, durch seine Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre übrigens auch für den modernen „Kulturprotestantismus“. Die altlutherische Theologie wie die rationalistische Aufklärungs-Theologie waren ihm intellektualistische Verkehrungen des religiösen Glaubens, der nicht Autoritäts-, sondern Vertrauens-Glaube und nichts anderes sei.
Schleiermachers Theologie, besonders seine Rechtfertigungslehre und Christologie, wurde indes in der Folgezeit (besonders A. Ritschl) vielfach berichtigt, zumal wegen ihres starken Mangels an historischer Grundlegung (so daß fast ein doketisches Christusbild seinen Schriften entnommen werden kann), wegen der zu geringen Beachtung des Kreuztodes Christi, wegen ihres ungenügenden Begriffs von Sünde und Sündervergebung, von Gottes Zorn oder die Sünde und seiner Versöhnung. Die dialektische Theologie lehnt Schleiermachers Theologie sogar vollständig ab. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. IX, 1937, Sp. 267 – Sp. 269