Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Ritschl
Ritschl, Albrecht, protestantischer Theologe, * 25.3.1822 zu Berlin, studierte in Bonn, Halle, Berlin, Heidelberg und Tübingen, wo er, schon vorher für die Hegelsche Philosophie interessiert, von F. Chr. Baur gewinnen wurde. 1846 Privatdozent für das Neue Testament in Bonn, hier 1852 ao. Professor und 1859 o. Professor, seit 1864 in Göttingen, † ebd. 203.1889. Seit 1856 hatte er mit Baurs Schule völlig gebrochen und ein neues theologisches System begonnen. Es liegt von 1974 an in seinem Hauptwerk ausgebildet vor, gewann nach heftigem Streit mit der kirchlichen Orthodoxie, mit der Erlanger (J. Hofmann) und der Baurschen Tübinger Schule einen immer größeren Kreis von Anhängern und hatte um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, mit bestimmten Weiterbildungen, die Mehrzahl der protestantischen Theologen für sich (Ritschlianismus). Die literarischen Hauptorgane waren: TheolLitZtg, Zschr. Für Theol. u. Kirche und Christl. Welt. Die Eigenart des theologischen Systems Ritschls ist weniger die an Kant orientierte Anerkennung bloßer Werturteile auf dem Gebiet der Religion und der Theologie, der Ausschluß jeglicher Metaphysik aus der Theologie (hierin ist schon Schleiermacher mit ihm eins, und hieran ist die Schule Ritschls zuletzt gescheitert, besonders unter der Kritik der dialektischen Theologie), als vielmehr sein Ausgehen einerseits vom Zustand der Rechtfertigung, in den der christliche Theologe durch die Gemeinde hinein geboren ist, anderseits von der in den neutestamentlichen Schriften (wie Ritschl gegen Baur sagt) einheitlich enthaltenen Religion Jesu Christi. Das Wesen der letzteren ist die Rechtfertigung durch den von Gott gewirkten Glauben, bestehend in (äußerlicher) Sünden-Vergebung durch Gott und in Versöhnung, d.i. (äußerlicher) Wiedergeburt, geweckt und gewirkt durch Gott und durch den Menschen in treuer Berufserfüllung. Der rechtfertigende Glaube kommt nur zustande innerhalb der Gemeinde Jesu, weil nur in ihr Gott als Liebeswille gepredigt wird, so wie ihn Jesus gepredigt hat, und weil nur sie von Jesus zu Gott hingeführt wird. Vom Bewußtsein der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde hängt darum auch die Heilsgewißheit ab. Durch Jesus hat sich Gottes Liebeswille auf die Menschheit übertragen und überträgt sich fort und fort, weil Gott von Ewigkeit her es so wollte. Insofern ist Jesus präexistent und Stellvertreter der Menschen. Ihm hat die älteste Gemeinde dasselbe Vertrauen geschenkt wie Gott; er war ihr „Herr“, ihr „Gott“. So auch noch heute.
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VIII, 1936, S. 908-909