Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Harnack
Harnack, Adolf v., bedeutendster protestantischer Theologe Deutschlands seit Schleiermacher, anerkannter Führer des liberalen Protestantismus, Lehrer einer ganzen Generation von Geistlichen und Professoren, ein Mann von internationalem Ansehen, überaus fruchtbarer und vielseitiger Schriftsteller, der weit über sein Fach hinaus zu Fragen der geistigen Kultur, des sozialen Lebens, der Organisation der Wissenschaft, der Politik usw. Stellung nahm und ihre Lösung beeinflusste sowohl im kaiserlichen Deutschland als in der Republik. * 7.5.1851 zu Dorpat, 1874 Privatdozent, 1876 ao. Professor der KG in Leipzig, 1879 o. Professor in Gießen, 1886 in Marburg, 188 in Berlin, 1921 entpflichtet; † 10.6.1930 zu Heidelberg. 1905-21 Generaldirektor der Staatsbibliothek, seit 1910 Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 1903 bis 1912 Präsident des evang.-soz. Kongresses und als solcher unablässig tätig zur Weckung sozialer Gesinnung in seiner Kirche.
Bei Würdigung des Lebenswerkes Harnack`s muss man streng scheiden zwischen seinen literarhistorischen und kirchengeschichtlichen Arbeiten, die vielfach eine Rückkehr zur Tradition verkünden und teilweise zum notwendigen Handapparat jeden Forschers gehören, und seinen Dogmen-geschichtlichen Konstruktionen, die einen radikalen Bruch mit jedem positiven Christentum bedeuten. Wissenschaftlich steht er auf den Schultern A. Ritschls, bekämpft die Tübinger Schule mit ihren Hegelschen Anschauungen von Entwicklung, aber auch den Erlanger Thomasius, der in der Dogmen-Entwicklung eine Offenbarung des göttlichen Geistes sah. Das Christentum ist nach Harnack undogmatisch; es ist Vertrauen auf den Vatergott und Liebe zu den Brüdern (Wesen des Christentums); den Vatergott fasste der alte Harnack kaum noch persönlich: „Ich glaube an Gott, d. h. Ich glaube, daß alles, was ist, einen Grund hat, einen Zweck hat und einen Sinn hat“ (Geschichtsoptimismus). Das Dogma ist ihm Abfall vom Christentum, eine chronische Vergiftung durch die griechische Philosophie. Von diesen Voraussetzungen aus kann Harnack der katholischen Lehrentwicklung nicht gerecht werden. Namentlich dem nach-tridentinischen Katholizismus steht er verständnislos gegenüber. Aber auch der protestantischen Orthodoxie wird seine schärfste Kritik zuteil. Dabei hat er das Bewusstsein, Luthers Werk zu vollenden, der prinzipiell (nicht tatsächlich) jedes Dogma durch seine Sola-fides-Lehre zerschlagen habe. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. IV, 1932, Sp. 828 -Sp. 829