Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Aufklärung
Aufklärung als geschichtliche Erscheinung ist die theoretische und praktische Tendenz, von der christlichen Offenbarung und Kirche und allem, was mit ihr zusammen hängt, als einer „Verfinsterung des Geistes“ sich frei zu machen und nur einen Glauben, den an die sola ratio, anzuerkennen. Im Laufe der Religions-Geschichte haben fast alle Religionen Aufklärungs-Perioden durchgemacht.
Im vorzüglichen, gewöhnlichen Sinn versteht man jedoch unter Aufklärung die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa, die bedingt ist durch eine tief gehende Umwandlung des philosophischen Denkens (Skeptizismus und Rationalismus), durch den Überdruss an den Religionskämpfen und durch den Freiheitsdrang der Zeit. Die Aufklärung ist nicht nur eine theoretische literarische Erscheinung in der zünftigen philosophischen und theologischen Gelehrsamkeit, sondern greift tief in das praktische Leben ein und prägte der Geschichte ihre Spuren deutlich auf.
I. Die theoretische Aufklärung besteht vor allem in der zum Grundsatz erhobenen Autonomie der (theoretischen und praktischen) Vernunft, in ihrer schrankenlosen Herrschaft auch auf dem Gebiet der Offenbarung (Rationalismus). Sie betrifft einerseits das Verhältnis der Theologie zu den profanen Fächern der Philosophie und schönen Literatur, anderseits die rein theologischen Fächer.
1) Die Voraussetzungen zur theologischen Aufklärung liegen in der Aufklärungs-Philosophie begründet, die in Holland, England und Frankreich ihre früheste Heimstätte besaß. Das 15. und 16., besonders das 17. Jahrhundert hatten einen völligen Bruch mit der Methode, den wissenschaftlichen Ausdrucksmitteln und philosophischen Gedankengängen der aristotelischen Philosophie gebracht, mit der das theologische Lehrsystem eng verwachsen ist: Descartes leitete den philosophischen Rationalismus, Baco den Empirismus, Bayle den Kritizismus ein.
Ersterer mündete folgerichtig teils in den Pantheismus Spinozas, teils in den Idealismus ein. Unter Bacos Führung wuchs aus der nominalistischen Richtung der Scholastik die rein empiristische, sensualistische und skeptizistische Philosophie Englands (Locke, Hume), die mathematisch-mechanische Newtons, die rein naturalistische eines Toland, Collins, Woolston, Tindal, Chubb, Ashley heraus, aus dieser wiederum die ebenso seichte wie in der Darstellung elegante, witzige und im einzelnen geistvolle französische Philosophie der libres penseurs (Bayle, Voltaire, Rousseau, Montesquieu, der Materialisten Lamettrie, Helvétius, Diderot, Condillac, Holbach, Cabanis u.a.), deren Geisteserzeugnisse besonders den Adel verdarben.
Die deutsche Aufklärung, maßvoller als die französische, geht von Leibniz` und Wolffs` Aufklärungs-Philosophie aus und knüpft sich hauptsächlich an die Namen Reimarus, Lessing, Herder und nicht zuletzt an den Begründer des Kritizismus Kant. (Kant, Was ist Aufklärung? 1784).
Diese Umwälzung hängt zusammen einerseits mit dem Niedergang der Spätscholastik, anderseits mit dem Aufblühen der mathematischen Methode (Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, Huyghens), der empiristischen Geistesrichtung und der naturwissenschaftlichen Studien, unter deren Einfluss die Philosophie naturwissenschaftliche Methoden übernahm, sich von der Autorität der Offenbarung lossagte, die Autonomie der Vernunft verkündete und auch die bisherige teleologisch bestimmte (auf die danielischen Weltreiche, die Apokalypse und Augustins Civitas Dei aufgebaute) Geschichtsschreibung einer pragmatischen, kausal gerichteten Platz machte.
In der Ethik (Ashley, Baco, Charron, Bayle, Spinoza, Hobbes, Bentham, Kant u.a.) strebte man eine rein natürliche Begründung an, entwickelte das Ideal der Humanität (Lessing), studierte mit Vorliebe Epiktet und Seneca, leitete das Sittliche rein natürlich aus der Natur und den Bedürfnissen des Menschen ab und verselbständigte die philosophische Ethik gegenüber der theologischen Moral.
Die Staats- und Rechtsphilosophie (Machiavelli, Baudin, Grotius, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Pufendorf, Thomasius) änderte völlig die mittelalterliche theologische Auffassung vom Ursprung und Zweck des Staates und seinem Verhältnis zur Kirche. Wie die philosophische, so wandte sich auch die belletristische Literatur unter englischem (in Deutschland auch französischem) Einfluss immer mehr der Aufklärung zu und verkündete einen sentimentalen Kultus der Natur, der reinen Vernunft, verbreitete einen seichten doktrinären Moralismus, eine vage Gefühlsschwärmerei und gemeine Frivolität unter Führung der französischen Literatur.
Nicht zu übersehen ist, dass auch die ganze Pädagogik von Aufklärungs-Gedanken beherrscht war (Locke, Rousseau, Kant, Pestalozzi, die Philanthropisten). Auch sie wurde verweltlicht und unter den Humanitäts-Gedanken gestellt. Endlich setzte man an die Stelle der Offenbarungs-Religion eine Art natürlicher (Vernunft-) Religion mit dem Glauben an Gott, Vorsehung, Freiheit, Unsterblichkeit, jenseitige Vergeltung: so in Deutschland, während eine 2. Gruppe die natürliche Religion mit dem Christentum zu verbinden suchte (Locke, Leibniz, Kant) und die französische Aufklärung zur Ablehnung jeder positiven Religion kam.
2) Die theologische Aufklärung wuchs aus der Aufklärungs-Philosophie heraus. Sie geht von der protestantischen Theologie aus. Dies hat verschiedene Gründe. Das Prinzip der „freien Forschung“ schloss bereits das Aufklärungs-Prinzip „sola ratio“ in sich. Der innere Widerspruch der „sola ratio“ neben der „sola fides“ musste dem protestantischen Symbolglauben gefährlich werden. Von beiden Seiten polemisierte man gegen das „dogmatische Luthertum“, die einen (Rationalisten) vom Standpunkt der souveränen ratio aus, die andern (Pietisten) im Namen des „Glaubens“ (= Gefühlsglaube): Der Rationalist Thomasius kämpfte Schulter an Schulter mit dem Pietisten Francke und Lange gegen das amtliche Luthertum.
Durch die sarkastischen Spöttereien auf die „Pedanterie der Theologie“ und den „beschränkten Konfessionsglaube“ (besonders von Reimarus und Lessing) waren die protestantischen Theologen in großer Verlegenheit: entweder mussten sie den Bibelglauben aus der Wissenschaft ausschließen (Theologie als Wissenschaft verneinen) oder ihn rationalisieren (d. h. durch Vernunft meistern). Der erstrebte Ruhm der Wissenschaftlichkeit trieb die meisten auf den letzteren Weg. Man versuchte es mit einem „apologetischen Kompromiss“, wie man meinte: die Dogmatik musste sich die Einführung rationaler Demonstration gefallen lassen (Canz, Reinbeck, Ribov, Carpzov), oder man stellte auch eine Art Popularphilosophie aus den christlichen Dogmen zusammen (Mendelssohn, Reimarus, Garve, Jerusalem, Steinbart, Baumgarten, Grüner).
Den Höhepunkt für diese philosophische Rationalisierung der Religion bilden Kants „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ und die religions-philosophischen Spekulationen der deutschen Idealisten. Eine andere Richtung suchte das wissenschaftliche Heil in einer Scheidung von Dogma (= scholastisches Priesterwerk) und Bibelglaube. Nur letzterer habe Anspruch auf Geltung. Ihn galt es exegetisch festzustellen. Man exegesierte die Schrift aber wieder rein philosophisch ohne jede Rücksicht auf Inspiration und Transzendenz, stellte eigene rationalistische Erklärungs-Theorien auf, die es erlaubten, an den Wunderberichten sich „vorbei zu deuten“ (Ernesti, Michaëlis, Sack, Damm, Schmid, Semler, Jerusalem u. a.) Organe dieser Richtung waren die Allg. deutsche Bibliothek (hrsg. v. Ch. F. Nicolai, Berlin 1765ff) und die Miethauer Bibliothek.
Charakteristisch für die protestantische theologische Aufklärung ist ihre kritische Einstellung zur Bibel (Bibelkritik) und gegen den Wunderglauben (Bayle, Spinoza, die englischen Deisten, Reimarus, Bekker usw.). Im Zusammenhang damit steht die Erschütterung des Glaubens an eine übernatürliche Offenbarung überhaupt und der Versuch, als ihren Kern eine natürliche Vernunftreligion herauszuschälen. Die Aufklärungs-Kritik wandte sich gegen die Lehre von der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu, gegen den Erlösungs- und Auferstehungs-Glauben.
Als besonders kennzeichnend mag auch gelten die moralisierende Grundtendenz (Moral gegen Dogma, praktisches Wohltun gegen Zeremonien und kanonische Glaubensformeln), daneben aber auch eine unzweifelhaft laxe Auffassung von Sünde und Schuld, ein Zurückdrängen des Gedankens an die göttliche Gerechtigkeit, an Gottes Gericht, an die Hölle zu Gunsten der göttlichen Liebe, und ein Ermatten des Gedankens von der Erlösung am Kreuz und des Verständnisses seines Ernstes.
Der aufklärerische Geist drang auch in die katholische Theologie ein. Vorschub leisteten hier die Verweltlichung des höheren Klerus, der ganz von gallikanischen Ideen erfüllt war (Febronius), die Minierarbeit geheimer Gesellschaften (Freimaurer und Illuminaten) und die aufgeklärte Kirchenpolitik Josephs II. Die protestantische Aufklärungs-Literatur wurde eifrig studiert. Man eiferte gegen die veraltete und verrostete Scholastik in der Theologie, gegen die jesuitische Kasuistik, forderte Toleranz.
Die Kirchengeschichte (Stöger, Royko, Lorenz, Sienbiehl, Berg, Wessenberg), vor allem das Kirchenrecht (Lackics, Riegger, Pehem, Neupauer, Eybel) wurden häufig benutzt zu Schmähungen gegen Kirche und Papsttum, die Rechte des Papsttums bestritten, die Kirche dem Staat untergeordnet. Moral- und Pastoral-Theologie standen auf dem Standpunkt eines platten Utilitarismus; überall zentrifugale Bestrebungen: los von Rom. Die Fakultäten an den Universitäten der rheinischen Kurstaaten waren völlig aufklärerisch, wenn auch nicht alle ihre Mitglieder dieselbe Frivolität zur Schau trugen wie der Bonner Eulogius Schneider.
Die theologischen Fachblätter (Würzburger Gel. Anz., Auserles. Literaturzeitung, Mainzer Monatsschrift von geistlichen Dingen, Wiener Kirchenzeitung) dienten der Aufklärung. Diese zersetzte und lähmte auch das praktische kirchliche Leben: Feindschaft gegen die Orden im Allgemeinen, gegen die Jesuiten im Besonderen, Bewegungen gegen Zölibat, lateinische Kultsprache, Liturgie und Zeremonien, gegen Heiligen-, Reliquien-Verehrung, Wallfahrten und religiöse Gebräuche aller Art, Bestrebungen für Nationalkirchen und Verwässerung der Gesang- und Gebetbücher sind charakteristische Zeichen der Aufklärung.
Literarisch wurde die Aufklärung überwunden durch die Kontroversisten Merz, Stattler, Feller, Goldhagen und nicht zum wenigsten durch die pastoralen Bestrebungen eines Joh. Michael Sailer, durch die Erneuerung der theologischen Wissenschaft seitens der Tübinger Theologenschule und durch stärkere Betonung der Scholastik.
II. Die praktische Aufklärung wollte auf politischem Gebiet die politische und soziale Macht der Kirche brechen. Der Ursprung des Staates ist nach ihr ein rein natürlicher (Loslösung des Natur- und Staatsrechts von der Offenbarung); Baudin, Grotius, Hobbes, Rousseau, Montesquieu, Pufendorf, Thomasius u.a. sind die literarischen Träger dieser Richtung.
Absolute Superiorität des Staates über die Kirche wurde proklamiert, der alte Reichsgedanke durch die Territorial- und National-Herrschaften endgültig begraben. Geschichtliche Erscheinungen dieser Auffassung sind: Abschaffung des Feudalstaates, der geistlichen Territorial-Herrschaften, französische Revolution, Säkularisation, Staatskirchentum, die „Sacristanerie“ der Kultministerien der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Beanspruchung des Kirchen-, Schul-, Erziehungs- und Armenwesen durch den Staat. Paralysiert wurde diese Richtung durch die Konkordate, Gründung neuer politischer Parteien, Erziehungs-Anstalten u.ä. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. I, 1930, Sp. 794 – Sp. 797
siehe auch den Beitrag: Geschichte des politischen Liberalismus und seine Vertreter