Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Antinomismus
Antinomismus (Anomismus), im allgemeinen soviel wie Bestreitung und Verwerfung des Gesetzes, in der Theologie besonders jene praktische Irrlehre, die unter dem Schein christlicher Wahrheit die Verpflichtung zur Beobachtung des Sittengesetzes leugnet. Antinomistische Richtungen sind, wie in der antik-heidnischen Ethik (Epikur) und in vorchristlichem Judentum (siehe Sap. 2, 1-23), so auch im christlichen Zeitalter häufig aufgetreten, z. B. Bei den Gnostikern und ihren Abarten, im Mittelalter bei manchen mystischen Sekten, in der Neuzeit bei den sogenannten Reformatoren des 16. Jahrhunderts und aller neuestens in der ungläubigen Philosophie.
I. Begründung. Seinen Grund hat der Antinomismus teils in einer (gnostisch-manichäischen) dualistischen Spannung des Gegensatzes zwischen Geist und Materie, teils in einer schwärmerisch übertriebenen Vorstellung von der sogenannten christlichen (paulinischen oder evangelischen) Freiheit, wobei man zugleich die allmächtige Wirksamkeit des Glaubens (sola fides) praktisch bewähren wollte, teils in einer materialistisch-pantheistischen Weltanschauung. Für die Theologie kommen insbesondere jene Richtungen des Antinomismus in Betracht, die unter Berufung auf das Neue Testament den gesetzlichen Charakter des Evangeliums Christi bestreiten. Die Existenz eines neutestamentlichen Gesetzes scheint in der Tat durch Aussprüche des Neuen Testamentes selbst verneint zu sein. Nicht dem Gesetz, das den bann der Sünde und des Todes nur gesteigert hat, verdankt Paulus seine Freiheit, und nicht nach dem Gesetz, sondern nach dem Geist Christi wandeln die Gläubigen (Röm. 7, 5-25; 8, 1-10); denn Christus ist „des Gesetzes Ende“ (Röm. 10, 4), und mit der Herrschaft des Glaubens hört die des Gesetzes als Pädagogen auf (Gal. 2, 16ff; 3, 25; 4, 5). Daher wird dem mosaischen Gesetz die Gnade und Wahrheit in Christus gegenüber gestellt (Joh. 1, 17). Bei Hebr. 7, 18 bzw. 8, 13 ist geradezu von „Aufhebung“ und „Veraltung des Gesetzes“ die Rede. Tatsächlich hat Paulus die Heiden ohne das Gesetz zu Christus berufen (Apg. 15, 10; 19f; 28f; Gal. 2, 3ff).
II. Widerlegung. Indessen ist hier überall nur das alttestamentliche Gesetz gemeint und nicht sein ganzer Inhalt, sondern nur das Zeremonialgesetz (und Judizialgesetz) als für die Christen nicht verbindlich bezeichnet. Christus selbst erklärt, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen (Mt. 5, 17), und spricht den gesetzlichen Charakter des Evangeliums klar und bestimmt aus, indem er, schon prophetisch als Gesetzgeber bezeichnet (Is. 33, 32), Gebote gibt (Joh. 12, 50; 13, 34; 14, 15ff; 15, 10), den Aposteln den Auftrag erteilt, seine Gebote dem Menschen zur Befolgung vorzulegen (Mt. 28, 19f), die Erfüllung der Gebote als Bedingung der ewigen Seligkeit fordert (Mt. 19, 17) und als Kennzeichen der Liebe zu Gott bezeichnet (Joh. 14, 15; 15, 10). So ist denn das Christentum selbst auch Gesetz (Jak. 1, 25; 2, 13; Röm. 3, 27; 8, 2; Gal. 6, 2), und zwar werden nicht die Hörer, sondern nur die Vollbringer des Gesetzes gerechtfertigt werden (Mt. 7, 21; Röm. 2, 13; Jak. 1, 22). Allerdings ist das Evangelium Jesu,, soweit es über die 10 Gebote Gottes hinaus geht, nicht ein Gesetzbuch, das streng formulierte Einzelgesetze darbietet. Aus seinen allgemein sittlichen Wahrheiten und Ideen des Guten und heiligen (z. B. Mt. Kap. 5-7; 19, 22; 21; 25, 31f) sind vielmehr erst die Normen für das sittliche Verhalten abzuleiten. Selbst die von Christus direkt vorgetragenen sittlichen Lehrsätze bedürfen für die subjektive Anwendung vielfach einer geistigen Auslegung (z. B. Mt. 5, 29f; 39-41). Insofern das Gesetz sodann in sich selber gut und heilig (Röm. 6, 2-6; 6, 16-22; Gal. 2, 18f), schließt die Gnade das Gesetz nicht aus, sondern bringt es zur vollen Herrschaft.
III. Richtungen. Mit diesem christlichen Nomismus sind die 2 antinomistischen Hauptrichtungen unvereinbar.
1) Die Reformatoren, von der „evangelischen Freiheit“ ausgehend, behaupten, im Neuen Testament sei der Zweck des Gesetzes, Zuchtmittel und Schranke für den menschen zu sein, weggefallen, da durch die Erlösung Christi die Sünde, um derentwillen das Gesetz gegeben, zerstört und die Freiheit zurück gegeben sei. Moses war Gesetzgeber, Christus nur Versöhner und Erlöser; Evangelium und Gesetz, evangelische Freiheit und Gesetzes-Gehorsam schlössen sich gegenseitig aus. Dagegen hat das Tridentinum (sess. 6, can. 21) erklärt: „Wenn jemand sagt, Jesus Christus sei den Menschen von Gott als Erlöser gegeben worden, dem sie glauben (vertrauen), und nicht auch als Gesetzgeber, dem sie gehorchen sollen, der sei ausgeschlossen.“ Mit Recht; denn die Theorie der Glaubens-Neuerer beruht einmal auf einer einseitigen Betrachtungsweise der Hl. Schrift, indem sie die dort ausgesprochene Befreiung vom alttestamentlichen Gesetz schlechthin als Befreiung von jedem Gesetz auffaßt, sodann auf einer irrtümlichen Anschauung vom sittlichen Stand der Erlösten, wonach jeder durch die objektive Erlösungstat Christi auch schon subjektiv erlöst bzw. zur persönlich-sittlichen Freiheit gelangt wäre, endlich auf der unrichtigen Vorstellung von der absoluten Unvereinbarkeit von Freiheit und Gesetz, während doch die christlichen Freiheit (Gal. 4, 31) nicht Zügellosigkeit und Ungebundenheit (Gal. 5, 13; 1. Petr. 2, 16), sondern gesetzmäßige, durch den Geist Gottes geheiligte Ordnung ist (2. Kor. 3, 17). Die speziell von Luther aufgestellte Lehre, daß Christus auch die 10 Gebote Gottes abgeschafft habe, und daß es wegen der unüberwindlichen Begierlichkeit überhaupt unmöglich sei, die Gebote zu erfüllen, steht in direktem Widerspruch mit der Lehre des Alten und Neuen Testaments (Gn. 4, 7; 1. Kor. 10, 13; 1. Petr. 5, 9; Jak. 1, 12).
Die unausbleiblichen schlimmen Folgen des Antinomismus für das religiös-sittliche Leben veranlaßten die Reformatoren, namentlich Melanchthon und seine Schule, teilweise auch Luther selbst, den christlichen Nomismus wieder geltend zu machen. Als Melanchthon in seinem „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen2 (1527) die Prediger ernstlich anwies, dem Volk fleißig das gesetz einzuschärfen, sah der Prediger Joh. Agricola darin „einen Abfall von den lutherischen Grundsätzen und eine Annäherung an den Papismus“. Seine Behauptung, daß im Neuen Bund das Gesetz nicht mehr gepredigt werden dürfe, weil die rechte Buße aus dem Glauben kommen müsse, führte zu dem heftigen Antinomistenstreit. Durch Luthers Zureden zuerst beschwichtigt, erneuerte Agricola seine Ansicht 1537 und wurde, nachdem er sich 3mal mit Luther ausgesöhnt, aber den Kampf immer wieder aufgenommen hatte, 1540 von Joachim II. von Brandenburg zum Widerruf genötigt. In der Praxis ist der Protestantismus dem Antinomismus noch heute stark überlassen. Wenn er sich auch mehr dem Nomismus zuneigt, so hält er doch die Beobachtung des Gesetzes nicht für notwendig zum Heil.
2) Vom Standpunkt einer einseitigen Mystik aus wird behauptet, daß das Gesetz nur für die Sünder sei (1. Tim. 1, 9), während der vollkommene Christ, in dem Christus selbst lebt und innere Befehle erteilt (Gal. 2, 20), der menschliche Gesetze und der äußern Formen nicht bedürfe. Obwohl diese Theorie auf der echt christlichen Lehre beruht, daß allein die innere Sittlichkeit über den Stand des Menschen entscheidet (Mt. 6, 1ff; Röm. 14, 5), so ist sie doch eine Überspannung des Prinzips der christlichen Mystik (1. Tim. 1, 8) und darum falsch (vgl. Trident. Sess. VI, can. 20); denn in diesem Leben tritt tatsächlich nie ein solcher Zustand der Vollkommenheit ein, daß sich der Mensch von Gesetz und Gehorsam entbinden könnte (Phil. 3, 11-13). Tatsächlich hat auch dieser aftermystische Antinomismus stets zum praktischen antinomistischen Libertinismus geführt, wie z. B. Die Geschichte der Brüder und Schwestern des freien Geistes bezeugt. – Über moderne antinomistische Richtungen sie Autonomie. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. I, 1930, Sp. 488 – Sp. 491