Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Kasuistik
Kasuistik, in der Moraltheologie die Anleitung, die Moralgesetze auf einzelne Gewissensfälle (casus conscientiae) anzuwenden und dadurch im Einzelfall festzustellen, was zu tun oder zu lassen sei. Sie bildet die praktische Ergänzung der wissenschaftlichen Moraltheologie und ist unentbehrlich für den katholischen Seelsorger, der in und außer dem Beichtstuhl in oft recht verwickelten Gewissensfällen ein entscheidendes Urteil fällen muss.
Da genügt oft weder das angeborene sittliche Gefühl noch die theoretische Kenntnis der sittlichen Grundsätze; vielmehr ist praktische Schulung, die daran gewöhnt ist, alle Umstände des Einzelfalles rasch ins Auge zu fassen, notwendig. Nur eine Moraltheologie, die es, wie vielfach die protestantische, ablehnt, für Einzelfälle normativ zu sein, kann die Kasuistik ausschließen. Sie lässt nur „Einzelbeispiele“, aber unter Ausschluss jeden Autoritäts-Anspruches zu, weil „sonst der Handlung dasjenige genommen würde, was sie erst zu einer sittlichen macht, das Wagnis autonomer Entscheidung“ (RGG III 648).
Spuren kasuistischer Behandlung finden sich wie bei Paulus (1. Kor. 7 u. 8) so in den Schriften und Briefen der Väter. Lediglich kasuistische Normen auf Grund kirchlicher Gesetze enthielten die Bußbücher im 6.-10. Jahrhundert und die viel verbreiteten Summen für den Beichtstuhl aus dem 13.-15. Jahrhundert, beginnend mit der Summa de casibus poenitentiae von Raimund von Pennafort bis zu Summula Confessionis des hl. Antoninus von Florenz.
Sie bildeten das Rüstzeug des gewöhnlichen Beichtpriesters, dem tiefere wissenschaftliche Ausbildung abging. Daneben aber wurde die wissenschaftliche Moraltheologie von den großen Scholastikern (vgl. etwa die II. pars der Summa theol. des hl. Thomas) staunenswert ausgebaut und vertieft. Das kasuistische Element spielt darin eine verschwindende Rolle, eine weit größere schon bei den Meistern der Nachscholastik im 16./17. Jahrhundert, z. B. B. Medina, P. Ledesma, Gregor von Valentia, D. De Soto, Fr. Suarez, G. Vasquez, L. De Molina, L. Lessius, J. De Lugo, die sonst im systematischen Ausbau der wissenschaftlichen Moraltheologie würdig den mittelalterlichen Theologen nacheiferten.
Bald aber tritt, vorwiegend bei den romanischen Theologen, die Kasuistik räumlich in den Vordergrund: nach einer kurzen Feststellung und Begründung der damals von keiner Seite bestrittenen Moralprinzipien folgt in stets reicherer Fülle eine Reihe von Einzelfragen und typischen, zuweilen gesuchten Fällen, die unter der Beiziehung der bisherigen kasuistischen Literatur erörtert werden. Das Streben nach noch größerer Vollständigkeit führt hierbei oft zu einer Detaillierung, die zum mindesten überflüssig ist und namentlich bei geschlechtlichen Fragen für Leser anderer Zeiten, Völker und Anschauungen peinlich wirken kann.
Mit diesen Details war natürlich keine Richtschnur für die Fragestellung des Beichtvaters gegeben, dem alle Kasuisten die größte Diskretion in heiklen Dingen zur Pflicht machen. Die häufige Begründung aus äußeren Autoritäten (Theologen), die übrigens bei positiv-rechtlichen Pflichten ganz am Platz ist, erweckt den Schein einer veräußerlichten Auffassung; die Vorliebe mancher Kasuisten, gerade an Grenzfällen das Minimum sittlicher Anforderungen abzugrenzen und die Strenge der Moral möglichst mit den Forderungen des Lebens zu versöhnen, begünstigte im Verein mit der zu weit gehenden Anwendung des Probabilismus einen Laxismus in Einzellösungen, den auch die Päpste rügen mussten.
Alles in allem kann aber der sittliche Ernst der kasuistischen Moralhandbücher nicht angezweifelt werden. Ihre Beschränkung auf Pflichten- und Sündenlehre erklärt sich aus ihrem besonderen Zweck als Behelf für das Bußgericht; die Tugendlehre und Aszese wie die Grundfragen der Ethik fanden in anderen Disziplinen (Dogmatik, Moralphilosophie) die gehörige Berücksichtigung.
Die Kasuistik beschäftigte die katholische Moraltheologie des 17. und 18. Jahrhunderts so sehr, dass eine Aufzählung der hervorragendsten Kasuisten zusammen fällt mit der Anführung der damals bedeutendsten Moralisten … endlich alle zusammenfassend und sichtend der hl. Alfons von Liguori, dessen Moralwerke ausgesprochen praktischer und kasuistischer Natur sind.
Pascals Lettres provinciales und seiner Nachahmer bitterer Spott (Jesuitenmoral), der Jansenismus und die Aufklärungs-Philosophie machten auch auf katholische Kreise Eindruck und brachten mit der Kasuistik auch die kirchliche Moraltheologie in Misskredit. Mit der Neubelebung der theologischen Studien im 19. Jahrhundert erlebte die Kasuistik eine zeitgemäße Erneuerung. Nach wie vor trennte man in romanischen Ländern die spekulative Behandlung der praktisch-theologischen Fragen (Tugenden, Sakramente, Moralphilosophie) von der Kasuistik. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. V, 1933, Sp. 865 – Sp. 867