Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Marcion
Marcion, neben den Gnostikern der gefährlichste Irrlehrer des 2. Jahrhunderts, * in Sinope (Pontus), reicher Schiffsherr, von seinem Vater, der Bischof war, aus der Heimatkirche „wegen Verführung einer Jungfrau“ ausgeschlossen, kam um 140 nach Rom, wo er 144 exkommuniziert wurde, † um 160. Marcion konstruierte einen absoluten Gegensatz zwischen Altem und Neuem Testament, Judentum und Christentum, Gesetz und Gnade; er verwarf das ganze Alte Testament, nahm in seinen Kanon nur Lk. und die 10 ersten paulinischen Briefe (Apostolicum) auf, nachdem er sie von angeblichen judenchristlichen Fälschungen gereinigt hatte.
Außerdem schenkte er eine scharfe Gegenüberstellung (Antitheses) der Religion des Alten und Neuen Testamentes seinen Anhängern. Nach Marcion ist der Gott des Alten Testamentes der jüdische Nationalgott, ein leidenschaftlicher Tyrann, voll Ehr- und Herrschsucht, nicht allwissend, nicht allmächtig. Er ist Schöpfer der Welt und des Menschen, die er aus unerschaffener Materie geformt hat. Auch die Seele ist von ihm erschaffen (antignostisch). Er verlangt Gehorsam, Opfer, Zeremonien und andere Gesetzeswerke, quält seine Feinde auf Erden und in der Hölle. Er wird am Ende der Welt mit seinen Anhängern vernichtet.
Der Gott des Neuen Testamentes ist der „Vater der Erbarmungen und der Gott alles Trostes“. Er hat sich in Jesus geoffenbart (modalistische Christologie); er ist nur gut, verdammt nicht, verlangt bloß Glauben, erlöste auch die Verdammten in der Hölle, die bei seiner Höllenfahrt an ihn glaubten. Er heißt der fremde Gott, weil er vor Jesus gänzlich unbekannt war und weil er Fremde, die Geschöpfe des Demiurgen, durch seinen Kreuzestod erkauft hat. Dieser gute Gott gewährt seinen Gläubigen ewiges Leben im Himmel. Eine Auferstehung des Fleisches erfolgt nicht; das Fleisch als Sitz der Sünde wird vernichtet; es muss schon auf Erden durch Ehelosigkeit, Fasten, Enthaltung von Fleischspeisen abgetötet werden. Nur Ehelose oder Geschiedene können getauft werden. –
Marcion ist kein Gnostiker, sondern positiver biblischer Theologe. Bei ihm fehlen die gnostischen Äonen-Spekulationen und der orientalische Synkretismus. Er hat auch keinen Geheimbund mit geheimnisvollen Anrufungen, Weihen und Zauberformeln gegründet, sondern eine Gegenkirche mit Bischöfen, Priestern, Diakonen und Sakramenten. Erst nach seinem Tode drangen gnostische Spekulationen ein und führten zu Spaltungen. Die Sekte der Marcioniten überragte an Bedeutung und Umfang alle andern. Erst durch die Strafgesetze von 381 des Kaisers Theodosius I. gegen die Häretiker erhielt sie den Todesstoß. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VI, 1934, Sp. 875