Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Charron
Charron, Pierre, französischer Theologe und Philosoph, … Leiter der Stiftskirche in Bordeaux und Freund von Montaigne… In der Philosophie ist Charron Schüler von Montaigne und Skeptiker; er erklärt die menschliche Vernunft für unfähig, die Wahrheit, die in Gott ruhe, zu erkennen. Darum bedarf die Religion der Offenbarung, der wir glauben müssen. Das Primäre jedoch ist nicht die Religion, sondern die Sittlichkeit. Diese aber besteht in der Rechtschaffenheit der Gesinnung, nicht in der äußern Gesetzlichkeit der Handlung. Mit sich selbst übereinstimmen ist die höchste Regel der Sittlichkeit. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. II, 1931, Sp. 842 – Sp. 843
Charron, Pierre, der „Patriarch der starken Geister“, ward als Sohn eines Buchhändlers zu Paris 1541 geboren, widmete sich zuerst der Jurisprudenz und wirkte mehrere Jahre als Advokat am Parlament zu Paris, wurde aber später Priester und dann Hofprediger der Königin Margaretha von Navarra. Er predigte in verschiedenen Städten Frankreichs, namentlich auch zu Bordeaux; hier wurde er mit dem Skeptiker Montaigne bekannt und ward von diesem in die skeptische Richtung hinein gezogen. Späterlebte er zu Cahors als Domherr und Generalvikar des Bischofs, dann zu Condom als Kanonikus. Während eines Aufenthaltes in Paris starb er imJahre 1603 plötzlich auf der Straße. Noch kürzlich ist sein Andenken geehrt worden, indem am 2. Februar 1879 zu Paris bestimmt wurde, daß die Rue de Morny fortan Rue Pierre Charron heißen solle. –
Als Schriftsteller hat Charron sich bekannt gemacht durch eine Apologie der katholischen Kirche, welche unter dem Titel Trois v´rités contre tous les Athées, Idololatres, Juifs, Mahométans, Hérétiques et Schismatiques, Bordeaux 1593, Paris 1594, die drei Sätze erörtert: es gibt einen Gott und eine wahre Religion; die wahre Religion ist das Christentum; im Besitz der wahren Religion ist nur die katholische Kirche. – für seine Charakterisierung als „starker Geist“ ist indes sein anderes Werk wichtiger, welches 1601 zu Bordeaux erschien unter dem Titel De la vraie sagesse. Der Grundgedanke des Werkes ist schon ausgesprochen in dem an die Spitze gestellten Satz, daß die Kenntnis seiner selbst für den Menschen, die Grundlage aller Weisheit sei. Demgemäß enthält der erste Teil theoretische Erörterungen über die Natur und die Kräfte des Menschen, über seine Stellung zu den andern Geschöpfen, über die sittlichen Dispositionen des Menschen, über die Verschiedenheit der Menschen unter einander nach Wohnsitz und Klima, nach ihren Anlagen, nach ihrer sozialen Stellung, ihrem Beruf und ihrem Glücksstand.
Bezüglich des Wesens statuiert Charron zwei Bestandteile im Menschen, Leib und Seele, die mit einander Eine Hypostase, Ein ganzes Subjekt bilden. Die Seele ist die innere, immanente Ursache des Lebens, der Bewegung, der Empfindung und des Denkens. Zwischen der Seele und dem Leib gibt es kein verbindendes Mittelglied, aber über der Seele steht als Höheres der Geist, der ein Funke, ein Bild und Ausfluss der Gottheit ist und seiner Natur nach dem Guten zustrebt, während das Fleisch, die niedere Natur des Menschen, stets nach dem Bösen strebt. Die Seele wird vom Geist und vom Fleisch sollizitiert (= angeregt, gereizt) und ist, je nachdem sie dem einen oder dem andern sich zuwendet, gut oder böse. –
Obgleich Charron der Seele Freiheit zuschreibt, obgleich er sie als immanente Ursache des Denkens bezeichnet, so leugnete er dennoch die Unkörperlichkeit derselben, da diese nur Gott allein zukomme. Als geschaffenes Wesen müsse sie, wi alles Endliche, örtlich sein, und ein Örtliches, Räumliches könne nicht ohne Körperlichkeit gedacht werden. Allein die Seele sei nicht als grobsinnlicher, sondern als feiner, unsichtbarer, unverweslicher Körper zu denken (l. 1, ch. 8, 4). Nach diesen Erklärungen ist es begreiflich, daß Charron nicht geneigt ist, den Unterschied zwischen Mensch und Tier sehr hoch zu spannen, da ja auch den Tieren geistige Fähigkeiten nicht abzusprechen seien, wenn sie auch denselben in schwächerem und unvollkommenerem Maße inne wohnten als den Menschen (l. 1, ch. 35, 6. 8). Der Mensch dürfe sich auf seine Vorzüge nicht viel einbilden, da sie ihm mehr Übles als Gutes bereiteten, weil sie die Quelle aller seiner Übel seien. In mancher Beziehung werde der Mensch sogar vom Tier übertroffen. –
Wie Charron hier an den Naturalismus streift, so erscheint er durch seine Lehre über die menschliche Erkenntnis als Skeptiker. Selbst in der natürlichen Erkenntnis können wir nach seiner Ansicht zu keiner Gewißheit gelangen. Zwar sei uns das Verlangen nach Erkenntnis der Wahrheit natürlich; aber die Mittel, die wir zur Gewinnung der Erkenntnis besitzen, reichen nicht hin. Vernunft und Erfahrung seien unsicher und irreführend, und darum sei der Zweifel in jeder Weise gerechtfertigt. Die Philosophie der Skeptiker sei die allein richtige; Letztere seien die wirklich Weisen. Der Weise müsse ja sein Urteil stets offen halten für Alles und sich bewußt sein, daß die menschliche Erkenntnis höchstens eine größere oder geringere Wahrscheinlichkeit beanspruchen könne. Dieses skeptische Verhalten sei auch die beste Disposition zur Aufnahme der göttlichen Offenbarung und des christlichen Glaubens. Eben weil die menschliche Erkenntnis unsicher sei, müsse die Wahrheit dem Menschen geoffenbart werden. Die geoffenbarten Wahrheiten unterlägen nicht mehr der Prüfung, sondern müssten ohne Diskussion auf die Autorität hin festgehalten werden.
Wenn aber mehrere Lehrsysteme sich als göttliche Offenbarungen ankündigen? Es ist wohl unmöglich, vom Standpunkt des Skeptizismus diese Frage zu lösen, und tatsächlich ist auch Charron in dieser Frage äußerst verwirrt und unklar. In der ersten Auflage des Werkes sagt er, daß alle Religionen mit Unrecht ihren Ursprung von Gott ableiteten, während sie doch durch menschliche Mittel entstanden seien, und wir sie von unserem Lan bei der Geburt empfingen. In der zweiten Auflage beschränkt er dieses auf die falschen Religionen, wogegen bei den wahren die erste allgemeine Verkündigung zu unterscheiden sei von der besonderen Weise, wie sie zu dem Einzelnen gelangen. Auffallend ist jedenfalls die Rede von mehreren wahren Religionen, sowie auch der von ihm weiter betonte Unterschied einer mehr populären und einer mehr geistigen, für die Höherstehenden bestimmte Religion. Während erstere einen äußeren Kultus, Abtötungen und Opfer kenne, betrachte letztere ein reines herz als den wahren Kult Gottes, und wenn sie den äußeren Kult mitmache, so tue sie es mehr, um die Sitte zu befolgen. – Auch im Wollen müsse der Weise seine Freiheit bewahren, d. h. nur dem Gesetz der Natur oder der Vernunft zu seinem eigenen Besten folgen; darin bestehe die Rechtschaffenheit. –
Betrachten wir den Grundgedanken des ganzen Systems, so erscheint Charron jedenfalls als eine sehr zweideutige Gestalt, wenn auch der Jesuit Garasse zu weit gegangen sein mochte, als er in seiner Somme théologique ihn „einen Christen zum Schein, einen Atheisten in Wahrheit“ nannte. –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 3, 1884, Sp. 91 – Sp. 93