Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Joachim von Floris
Joachim von Fiore (Flore, Floris), auch J. v. Celico (sel.), Mystiker und Apokalyptiker, * um 1132 (?) zu Celico in Kalabrien, † 20.3.1202 zu Fiore. 1177 Abt des Zisterzienser-Klosters Corazzo, als Aszet und Prophet hoch angesehen, lebte einige Jahre als Einsiedler, gründete um 1190 das Kloster S. Giovanni in Fiore (Kalabiren) mit eigener Regel, das, von Papst und Kaiser begünstigt, Ausgangspunkt der Floriazenser wurde. Joachim war durchaus kirchlich gesinnt – er unterstellte seine Schriften vor dem Tode ausdrücklich dem Urteil der Kirche. Aber unvorsichtige Spekulation und schwärmerische Anlage verleiteten ihn zu verhängnisvollen Irrtümern. Wie Gilbert de la Porrée lehrte er in Bezug auf die Trinität tritheistisch; seine (verlorene) Schrift De unitate Trinitatis gegen Petrus Lombardus wurde deshalb auf dem 4. Laterankonzil 1215 (ca. 2) verurteilt.
Noch folgenschwerer war seine tiefsinnige, aber von Überspannung nicht freie allegorisch-typologische Auslegung der Hl. Schrift, besonders der Apokalypse, gipfelnd in der Prophezeiung eines bald kommenden Zeitalters des Hl. Geistes, das eine gründliche Reform der verderbten Kirche bringen werde. Joachim legte seine Anschauungen über den Gang der Welt- und Kirchengeschichte, die wahrscheinlich unter griechisch-orientalischem Einfluß entstanden sind, nieder in 3 Hauptschriften: Concordia Novi et Veteris Testamenti (Venedig 1519), Expositio in Apocalypsim (ebd. 1527) und Psalterium decem chordarum (ebd. 1527). Danach gibt es entsprechend den 3 göttlichen Personen 3 Zeitalter (status): a) das vorchristliche Reich des Vaters im Alten Testament, die Zeit der Knechtschaft des Gesetzes, des Buchstabens, der Verheirateten und Laien; b) das Reich des Sohnes im Neuen Testament (42 Generationen von je 30 Jahren nach Mt. 1,17), Mittelstand zwischen Fleisch und Geist, Periode der Kleriker; c) die Fülle der Zeiten, vorbereitet durch den hl. Benedikt und voll einsetzend 1260, die Periode der Freiheit, des Geistes, der Mönche, wo das „Ewige Evangelium“ (vgl. Apk. 14,6), d.i. das höhere, geistige Verständnis der beiden Testamente, durch einen neuen Mönchsorden (Ordo justorum) gepredigt, fast die ganze Welt zu Gott bekehrt und die vollkommene Geisteskirche begründet werden wird.
Joachims Geschichtsdeutung und Reformträume, die, folgerichtig aufgefaßt, zu einer Auflösung des Kirchen- und Sakraments-Begriffs führen mussten, wurden durch zahlreiche Schüler (Joachitae oder Joachimiten) fort gepflanzt und fanden namentlich bei der strengeren Partei der Franziskaner, den Spiritualen und Fraticellen, weiteste Verbreitung. Auch der Generalminister Johannes von Parma (1247-57) begünstigte sie. Der Minorit Gerhard von Borgo San Domino erklärte in seinem Introductorius in Evangelium aeternum (1254) die 3 Hauptschriften Joachims selbst für das „Ewige Evangelium“, gleichwertig mit den kanonischen hl. Schriften, und gab die Franziskaner-Spiritualen als den von Joachim verkündeten neuen Orden aus. Es erhob sich aber heftiger Widerspruch, und der Introductorius wurde nach Untersuchung durch eine päpstliche Kommission zu Anagni von Alexander IV. 1255 verurteilt; die Schriften Joachims selbst verbot eine Provinzialsynode zu Arles um 1263. Gleichwohl beherrschte die joachimitische Idee der Erneuerung der Kirche, mehrfach mit politischen Bestrebungen verquickt und durch ein phantastisches Schrifttum gefördert, noch lange die Geister, vor allem im Franziskanerorden (P. J. Olivi, Angelus v. Cingoli, Ubertino v. Casale, Joh. v. Roquetaillade), aber auch bei Arnald v. Villanova und Telesphorus v. Cosenza, bei Häretikern wie den Amarikaner und Frau Dolcino, ja selbst in höfischen und höchsten Kreisen. Spuren des Joachimismus finden sich bis Ende des Mittelalters. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. V, 1933, Sp. 448 – Sp. 450
Dieses apokalyptische Prophetentum erwies sich gefährlicher als seine Trinitätslehre; seine schädlichen Nachwirkungen lassen sich noch durch zwei Jahrhunderte verfolgen. Seine eifrigsten Schüler fand Joachim in den aus dem Franziskanerorden hervor gegangenen Kreisen der Spiritualen und Fraticellen, welche, der schulgerechten, theologischen Bildung abgeneigt, einem ihr Armuts- und Ordensideal überhebenden apokalyptischen Mystizismus huldigten. Über das Denken und Treiben dieser Joachimiten berichten besonders Salimbene in seiner Chronik und Angelus de Clareno in der Historia tribulationum ord. Min.
Teilten auch die übrigen Spiritualen des Franziskanerordens, die Fraticellen und südfranzösischen Beginen, nicht alle Ideen Gerards (Gerhard von Bogo), so war doch auch ihnen Joachim ein heiliger, gotterleuchteter Seher, der die Sendung des hl. Franz und seines Ordens der Welt kund getan habe; auch sie lebten und zehrten von Joachims apokalyptischen Träumereien, Salimbene nennt und schildert als hervorragende Joachimiten Hugo von Digne und den seligen Johann von Parma, der von 1248 bis 1257 Ordensgeneral war und wegen zu eifriger Verteidigung Joachims vom hl. Bonaventura zur Rechenschaft gezogen wurde (vgl. Historai tribul. a.a.O. II, 277,284). Ein Gesinnungsgenosse dieses letzteren und Leidensgefährte Gerards war Fr. Leonardus. Daß dieser Joachimismus wirklich ein typisches Merkmal aller Gruppen der Spiritualen war, zeigen die Schriften der Führer derselben. –
Als gelehrige Schüler Joachims erweisen sich in ihren Schriften an der Wende des 13. zum 14. Jahrhunderts der berühmte, theologisierende Arzt Arnold von Villanova und der Apostelbruder Dolcino, um die Mitte des 14. Jahrhunderts Johann von Rochetaillée (Ruprescissa) und der Eremit Telesphorus von Cosenza, sowie die Fraticellen des 14. und 15. Jahrhunderts. –
Quelle: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 6, 1889, Sp. 1479 – Sp. 1480