Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Fraticellen
Fraticellen. Etymologisch soviel wie Brüderchen, hat das Wort nicht immer häretischen Sinn. Das älteste päpstliche Dokument, das den Ausdruck in der Bedeutung von Häretiker gebraucht, ist die Bulle Johannes XXII. v. 30.12.1317 (BullFranc V 134) gegen die spiritualistischen Anhänger des Angelus von Cingoli. Andere dort gebrauchte Namen sind: Brüder vom armen Leben, Bizochen, Beginen; die beiden letzteren bezeichnen die weltlichen Anhänger der Sekte. Chronisten gebrauchten Fraticellen fälschlich auch von den Apostolikern des Dolcino und von den schismatischen Anhängern des Michael von Cesena, den sog. Michelisten. Die häretischen Fraticellen, oft „Fraticelli dell`Opinione“ genannt, weil sie der Meinung waren, Johannes XXII. sei wegen seiner Dekretalen über die Armut Christi der Häresie verfallen und habe deshalb alle geistliche Gewalt verloren, ebenso wie seine Nachfolger und die Bischöfe und Priester, bildeten mehrere Gruppen ohne einheitliche Organisation. Sie lebten meist abseits in Schlupfwinkeln und Einsiedeleien, trugen den Habit der Franziskaner in kürzerer, ärmlicherer Form, hielten sich für die allein wahre Kirche, hatten zum Teil auch Bischöfe und Päpste. Rituale geschlechtlicher Ausschweifungen, denen sie sich in nächtlichen Konventikeln hingegeben haben sollen (barilotto), werden in den Prozessen erwähnt, aber nicht von allen Historikern als genügend beglaubigt angenommen. Begünstigt durch die Zeitumstände (Avignones. Exil, abendländisches Schisma) und auch von manchen italienischen Städten, erlangten sie trotz der Verfolgung durch die Inquisition ziemliche Verbreitung, besonders in Umbrien, Mark Ancona, Toskana, Kirchenstaat (sogar in Rom ca. 1330), Süditalien und Sizilien. Sie sind auch im Orient (Griechenland und Persien), Katalonien und Böhmen nachweisbar, in beiden letzten Ländern mit hussitischen Irrtümern behaftet. Mehrere Sendschreiben von ihnen sind erhalten. Schriftstellerisch wurden sie bekämpft von A. Richi (1381), Johannes von Capistrano, Jakob de Marchia, Antonius v. Florenz, Johannes des Cellis u.a. Nach dem letzten großen Inquisitions-Prozeß 1466/67 in Rom verschwinden sie aus der Geschichte. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. IV, 1932, Sp. 259 – Sp. 260