Die dogmatische Entwicklung im Ringen gegen rationalistische und nationalkirchliche Strömungen
Der Gallikanismus und der Febronianismus
Schon früh suchten in der Neuzeit nationalkirchliche Strömungen in der Gedankenwelt der Katholischen Kirche einzudringen, obwohl sie wenig Hoffnung haben konnten, in der Kirche Boden zu finden, die schon im Namen ihren weltumfassenden Universalismus und Übernationalismus kund gibt. Das klassische Land des Nationalismus hat dieser Bewegung, dem Gallikanismus, den Namen gegeben. Bis ins 13. Jahrhundert gehen diese Bestrebungen in Frankreich zurück, sich schon in ihren Anfängen auf die englische Kirchengesetzgebung berufend. Nachdem sie während des Aufenthaltes der Päpste in Avignon geruht hatten, brachen sie seit dem Ende des 14. Jahrhunderts mit erneuter Heftigkeit hervor, wurden auf dem Trienter Konzil vom Lothringer Kardinal verfochten und erreichten, durch die Ideen eines Marsilius von Padua und die theologische Gedankenwelt des Nominalismus befruchtet, theoretisch in der 1594 von dem Parlaments-Advokaten Pithou verfaßten Schrift „Les libertés de l’Eglise Gallicane“ und praktisch im Staatskirchen-Absolutismus Ludwigs XIV. ihren Höhepunkt. (siehe auch den Beitrag: Gallikanismus und Jansenismus)
Es wurde dem Papst jede Gewalt in zeitlichen Dingen abgesprochen, dagegen dem König das Recht zuerkannt, den päpstlichen Bullen seine Genehmigung zu versagen, Provinizial- und Nationalkonzilien einzuberufen, den Bischöfen die Reise zu einem allgemeinen Konzil zu versagen, Bischöfe und Äbte zu ernennen und das Ordensleben zu beaufsichtigen. Der Papst wurde als dem allgemeinen Konzil unterworfen und als nicht unfehlbar in Glaubens- und Sittenlehren erklärt.
Der Febronianismus
Von Frankreich übernahm diese Ideen der Trierer Weihbischof von Hontheim, der sie unter dem Decknamen Febronius (Febronianismus) verbreitete und lehrte, der Primat sei nicht von Christus dem Bischof von Rom übertragen, sondern von Petrus und der Kirche. Deshalb unterstehe der Papst dem die Gesamtkirche vertretenden allgemeinen Konzil. Da alle Bischöfe durch göttliches Recht vom Papst unabhängig und einander gleich seien, bekämen die päpstlichen Gesetze und die disziplinären Dekrete der allgemeinen Konzilien nur durch Zustimmung der einzelnen Landeskirchen verpflichtende Kraft. So gingen von Anfang an nationalkirchliche Bestrebungen mit einer Entwertung des päpstlichen Primates Hand in Hand. Doch bleiben dieselben vorerst im Rahmen der Kirche. Das wurde anders, je mehr die rationalistische Welle der Aufklärung einzelne Vertreter der Kirche erfasste und sich mit der nationalkirchlichen Strömung vereinte. Beide entstammen derselben Wurzel, der Renaissance. Im Josephinismus Österreichs und Wessenbergianismus Deutschlands sehen wir beide bereits verbunden, allerdings immer noch im Rahmen der Kirche.
Aftermystische Gegenströmung
Als aber in beiden Ländern eine aus katholischen Kreisen aufbrechende aftermystische Strömung in extremen Gegensatz gegen das Überwuchern der Aufklärung (1) trat und die Kirche seit ihrer wieder erlangten Freiheit unter Pius VII., besonders durch die Reformarbeiten und Verordnungen Papst Gregors XVI. (1831 bis 1846), an eine zielsichere und kraftvolle Überwindung der rationalistischen Welle ging, versuchte diese in Verbindung mit der nationalkirchlichen Strömung unter Aufbietung aller Mittel zu einem entscheidenden Sieg, zunächst in Deutschland, zu kommen.
(1) Es war zunächst die schwärmerische Bewegung, die der Augsburger Priester Martin Boos († 1825) in Süddeutschland und Österreich hervorrief, und die seine beiden Freunde, die später zum Protestantismus abgefallenen Priester Joh. Goßner und der unsittliche und unehrliche Ignaz Lindl, in ihrer Weise fortsetzten; ferner die Bewegung des vollständig überspannten, fast wahnsinnigen, aber menschlich edlen österreichischen katholischen Priesters Thomas Pöschl, die sich als „Gemeinschaft der Kinder des reinen Wortes Gottes“ bezeichnete, und von der sich unter Führung des Bauern Joh. Haas v. Ottnang die Sekte der „Brüder und Schwestern in Sion“ abspaltete. In Steiermark sammelte sich eine Schwärmergruppe um den katholischen Pfarrer Maurer; in Kärnten gründete die katholische Agnes Wirsinger die Sekte der Michaelsritter, die mit der von dem Kurat H. Hagleitner und dem Gemeindevorsteher Manzl (dem Besitzer des Manharthofes) im Brixental gegründeten Gruppe der Manharter in Beziehung trat. Im Schwarzwald entstand die Sekte der Salpeter. Alle diese Schwärmergruppen waren in ihrer Opposition gegen den weithin eingedrungenen Geist des Rationalismus in das entgegengesetzte Extrem geraten und vertraten vielfach eschatologische Lehren.
Erneuerungswelle im deutschen Katholizismus
Im deutschen Katholizismus war entgegen dem vordringen Rationalismus eine starke Erneuerungswelle in Klerus und Laienwelt entstanden. Was für Norddeutschland der um die geistig hochstehende Fürstin Amalie von Gallitzin in Münster bereits seit 1789 entstandene Kreis geistvoller, kirchlich lebendiger Menschen bedeutete, war für Süddeutschland der um den Offizial Eucharius Adam von Eichstätt gebildete „Eichstätter Freundeskreis“. Mit dieser aus dem Priester- und Laienstand erwachsenen Erneuerungs-Welle trafen sich die von den offiziellen kirchlichen Behörden, besonders von den Bischöfen Johann Michael Sailer in Regensburg, dem Erzbischof Klemens August von Droste-Vischering in Köln, dem Erzbischof Martin von Dunin in Gnesen-Posen ausgehenden Reformarbeiten und leiteten einen neuen katholischen Frühling ein. In der Geistesströmung der Romantik, in der die mittelalterliche Einheit von Glauben und Leben neu und sehnsüchtig empfunden wurde, begann sich eine geistige Atmosphäre auszubreiten, in der viele hervorragende nicht-katholische Dichter und Denker den Weg zur alten Mutterkirche zurückfanden. Die deutsche Konvertiten-Bewegung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ist eine der bedeutendsten in der Geschichte der Katholischen Kirche. –
aus: Konrad Algermissen, Konfessionskunde, 1939, S. 275 – S. 277