Der Protestantismus in seiner Entwicklung
3. Teil: Die Weiterentwicklung des Sozinianismus zum Theismus
Der Übergang vom Sozianismus zum Theismus ist kaum wahrnehmbar; sie liegen ungefähr auf gleicher Fläche. Der Theismus ist eigentlich nur ein entwickelter Sozinianismus, wie der Sozinianismus ein unentwickelter Theismus ist. Also ist der Theismus nichts Anderes als eine protestantische Sekte, die kaum etwas weiter geht als der Sozinianismus, und gewiß nicht so weit über den Sozinianismus hinaus geht, wie dieser über die ihm vorher gegangenen Sekten. Ohne Zweifel haben, durch eine natürliche Bewegung, welche den Irrtum bestimmt, auf der Bahn seiner fortschreitenden Zerstörung zurück zu schrecken, die Sozinianer sich gegen ihre Einheit mit den Theisten verwahrt; aber auch die Theisten verwahrten sich nicht weniger gegen ihre Gleichstellung mit den Atheisten, obwohl man sie diesen damals allerdings gleich achten wollte; sie sprachen sogar die Ehre von Schülern und Eiferern des Christentums an, aber des vernünftigen Christentums, wie man sagte, des Christentums ohne Tempel und ohne Altäre, wie Rousseau in seinem Contrat social den Begriff bestimmte.
Ein protestantischer Prediger, Antoine Jacque Rustan, hatte den Beweis versucht, daß die Theisten Atheisten seien. Voltaire entgegnete ihm mit seinem gesunden Verstande: „Sie selbst belehren uns, daß Sie nicht glauben, Jesus sei Eines Wesens mit Gott; Sie sind demnach Theist; Sie behaupten, daß die Theisten Atheisten seine; sehen Sie, welche Folgerung man aus ihren schönen Argumenten ziehen muss! Ach, mein armer Bruder, Ihnen fehlt der gemeine Menschenverstand“ (Remonstrances á Antoine Jacques Rustan, pasteur Suisse á Londres, tom. XLIV, p. 196, édit Beuchot).
Dieses Raisonnement Voltaire`s ist dasselbe, welches man gegen Herrn Guizot gerichtet hat. Man ersieht daraus, wie nichtig die Unterscheidung ist, welche Herr Guizot zwischen den Philosophen und Protestanten aufstellen wollte; denn hier ist die Grenzscheidung nicht zu entdecken. Die Sozinianer in ihren verschiedenen, so zahlreichen und so ausgebreiteten Sekten sind sicherlich Protestanten; und dennoch leugnen sie die Gottheit. Wodurch unterscheiden sie sich von den Philosophen, und diese von den Protestanten? Wodurch sind sie getrennt? Durch sie heilige Schrift? Aber was ist die heilige Schrift ohne die Gottheit Christ? Und ist nicht die Verwerfung dieser Gottheit hundertmal wichtiger, als die Nichtverwerfung der heiligen Schrift? … Herr Guizot behauptet einen unermeßlichen Unterschied zwischen den Theisten und den Atheisten, und doch begreift er sie beide unter den Philosophen; aber der Unterschied zwischen den Theisten und den Sozinianern ist viel geringer; wir sind also mit besserem Grund berechtigt, sie in eine Klasse zusammen zu werfen unter dem gleich bedeutenden Namen Protestanten oder Philosophen.
In Wahrheit, Alles das ist nur abgestufter Unglaube; es ist nur ein Haus, in welchem verschiedene Wohnungen sind, einige höher, einige tiefer; aber eine und dieselbe Stiege führt zu allen Gemächern, die Stiege der freien Forschung, auf der man leichter herunter kommen, als wieder aufsteigen kann, und deren Stufen gewöhnlich zusammen brechen hinter denen, welche hinab steigen. –
aus: August Nicolas, Über das Verhältnis des Protestantismus und sämmtlicher Häresien zu dem Socialismus, 1853, S. 126 – S. 127
Fortsetzung 4. Teil Vom Protestantismus zum Philosophismus