Der heilige Laurentius Justiniani über die Demut
Die Demut ist die Wurzel und Lehrerin aller andern Tugenden, sie muss von den Gottesfürchtigen geliebt und ihrem ganzen Lebenswandel zu Grunde gelegt werden, sie darf nicht in der Redeweise und äußern Schein sich zeigen, sie hat ihren rechten Sitz inwendig im Herzen. Dort gedeiht ihr Leben, dort übt sie ihr Lehramt, dort leitet sie alle Arbeiten unter den Augen des Richters, welcher die Herzen durchforscht, alle Gedanken und Geheimnisse kennt und nicht getäuscht werden kann, welcher von den Menschen nicht verlangt, daß sie aus Ehrfurcht vor Ihm Tiere schlachten, Gold und Silber opfern, duftenden Weihrauch verbrennen, fasten, Not leiden, ihr Fleisch abtöten, ihre Nachtwachen und Gebete verlängern, rauhe Kleider tragen, sich selbst verachten, sondern daß sie in wahrer Demut sich selbst erkennen. Die genannten Werke, obwohl sie lobenswert und gut sind, haben doch an und für sich keinen Wert, erwerben keine Gnade, wirken kein Heil, sondern sie machen nur tauglich zum Empfang der Gnade, bereiten nur vor zur Erlangung der Verzeihung. Deshalb aber darf man sie nicht verachten, unterlassen, für nutzlos halten; sie haben großen Nutzen und lieblichen Wohlgeruch, wenn sie mit der Würze der Demut gewürzt sind.
Das Wesen dieser Demut besteht in der klaren Selbsterkenntnis, und diese Selbsterkenntnis ist die solide und feste Grundlage, auf welcher das Gebäude der Demut fußend, sich erhebt und vollendet. Ja diese (Selbsterkenntnis) ist zum Heil des Menschen durch aus notwendig; denn ohne sie ist unmöglich jene Reue über die Vergehen, welche die Mutter der Verzeihung ist, die Sünde tilgt, den Fehlenden Hoffnung einflößt, die Türe zur geistigen Auferstehung öffnet, und himmlische Arznei für die gereinigte Seele ist. Wer sich selbst nicht kennt, versteht nicht Reue zu erwecken und verabscheut die Demut; obwohl ganz beladen mit Sünden, hält er sich für ganz gesund, geht zu keinem Arzt, verschmäht die Heilmittel, bleibt taub gegen liebevolle Ermahnungen und leidet so lange an dieser tödlichen Krankheit, als er in dieser Blindheit verharrt; er häuft Sünde auf Sünde, taumelt von einer Finsternis in die andere, wird täglich mehr verhärtet, freut sich über seine Bosheiten und frohlockt über seine Schandtaten: er lacht über die Einfalt, verfolgt die Unschuld, verachtet die Demut, höhnt die Gerechtigkeit und verdammt die Unterwürfigkeit gegen Christus… Wahrhaft, wer sich selbst nicht kennt, kennt auch Gott nicht, und er wird von Gott ebenfalls nicht erkannt. Das zeigt sich an den törichten Jungfrauen, welche die Lampen der Selbsterkenntnis in ihrem Herzen erlöschen ließen und dann an der Türe der göttlichen Barmherzigkeit und des hochzeitlichen Freudenmahles anklopften. Sie erhielten zur Antwort: Wahrlich sage Ich euch, Ich kenne euch nicht.
Wunderbar! Der Allwissende kennt also auch die nicht, welche sich selbst nicht kennen. Wohl kennt Er sie als Schuldige, aber nicht als der Verzeihung Würdige. Denn mag der Sünder alle möglichen Schlupfwinkel aufsuchen, nach irgend einem geistigen oder körperlichen Versteck spähen, um vor dem Augen Gottes sich zu verbergen, jede Mühe ist vergebens. Nach der Übertretung des Gesetzes meinte Adam, er sei ganz verborgen; aber doch hörte er Gott im Nachmittags-Lüftchen daher kommen und rufen: Adam, wo bist du? Also fand Gott den Versteckten, und dieser verstand wohl den Fragenden. Denn der Herr fragte nicht nach der Beschaffenheit des Aufenthaltes, sondern nach der Schande des Nacktseins und warf dem Frevler die Finsternis der verlorenen Selbsterkenntnis vor. O hätte der Schuldbeladene damals sich selbst erkannt und die begangene Sünde bekannt in Demut, dann hätte er sich selbst und seine Nachkommenschaft vor dem Verderben bewahrt. Aber die Selbstverblendung hat ihn dahin gebracht, daß er die Veranlassung seiner Schuld sogar Gott selbst aufbürdete, statt aufrichtig und ohne Entschuldigung sich über sein Vergehen, als über sein eigenes anzuklagen. Daher möchte ich selig preisen den, der sich nicht nur etwelche, sondern eine gründliche Kenntnis seiner selbst erworben hat.“ –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 659 – S. 660