Religiöser Subjektivismus und Jansenismus

Die dogmatische Entwicklung im Ringen gegen rationalistische und nationalkirchliche Strömungen

Der religiöse Subjektivismus und der Jansenismus

Religiöser Subjektivismus führt zu zahlreichen Sektengruppen

Das Formalprinzip des Protestantismus, die Lehre von der Bibel als alleiniger und sich selbstgenügender Glaubensnorm, hatte dem religiösen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet. Zahlreiche Schwärmer- und Sektengruppen erwuchsen schon früh auf dieser Grundlage aus dem Protestantismus sich samt und sonders auf die Bibel berufend. Das Ungenügen dieses Formalprinzips hatte bereits um das Jahr 200 Tertullian in den Worten ausgesprochen:

„Bei der Entscheidung darüber, ob etwas wahre Lehre oder Irrlehre ist, hat man sich nicht auf die Schrift zu berufen. Es ist vielmehr zunächst die Frage aufzuwerfen: Wer ist der rechtmäßige Besitzer des Glaubens? Wem steht das Eigentum auf die Schrift zu? Von wem, durch wen, wann und wem ist die Lehre übergeben, wodurch an zum Christen wird? Denn dort, wo sich offensichtlich die rechte Lehre und der echte christliche Glaube befinden, dort werden auch die richtige Bibel, dort deren richtige Erklärung und alle wahrhaft christliche Überlieferung sein.“ (Tert., De praesc. Haer., 19)

So wie von Tertullian war schon vor ihm von Irenäus auf den Entscheid der lebendigen Kirche in Zweifelsfragen hingewiesen. Der Protestantismus hatte, entgegen der Lehre der Urkirche, an Stelle des kirchlichen Lehrentscheides die Bibel gestellt. Deshalb konnte die Folge keine andere sein, wie sie wurde.

Religions-Streitigkeiten innerhalb der protestantischen Welt

Wir finden das ganze 16. und 17. Jahrhundert innerhalb der protestantischen Welt mit Religions-Streitigkeiten aller Art angefüllt, die sich im protestantisch gewordenen England besonders scharf zuspitzten. Gleichzeitig entwickelte sich in England aus dem Geist der Renaissance heraus, die die Bedeutung des Menschen und seiner Kräfte in den Vordergrund gerückt hatte, infolge des Fortschrittes auf dem Gebiet der mathematischen und naturwissenschaftlichen Forschungen der Rationalismus, der zur einseitigen Verherrlichung der menschlichen Vernunft kam.

Da der Protestantismus Religion und Vernunft, Glaube und Wissen auseinander gerissen hatte, konnte der Einfluss der Aufklärung sich nur in zersetzender Richtung auswirken. Die unterdrückte Vernunft warf sich der Aufklärung in die Arme; der Protestantismus erlag der neuen aufklärerischen Strömung, die auch in religiöser Hinsicht die Macht an sich riss und den Deismus entwickelte, jene Religionsphilosophie, deren Ziel eine natürliche, über allen konfessionellen Parteien und Richtungen stehende, auf der Vernunft aufgebaute Universalreligion war. Seit 1660 beherrschte der Deismus das englische Leben.

Vom Deismus zur Freimaurerei

Der konkrete, organisierte Ausdruck dieser deistischen Bewegung wurde die moderne spekulative Freimaurerei, die am 24. Juni 1717 zu London ins Leben trat als Vereinigung der anständigen und vernünftigen Menschen jenseits aller religiösen und politischen Zänkereien, zum Zweck der Hebung des allgemeinen Kulturniveaus der Menschheit. Auf Grundlage der rein natürlichen Vernunft als letzter Wahrheitsnorm kam es zur Leugnung der übernatürlichen Glaubens-Wahrheiten, zur Vernichtung des Glaubens-Mysteriums.

Vom Deismus zur Aufklärung und monistischen Weltanschauung

Die von England bald nach 1700 über Frankreich flutende aufklärerische deistische Welle erhielt dort eine radikal-revolutionäre Form, entwickelte sich zur Moralitätslehre ohne Gott und endete unter der Hand der Enzyklopädisten im Sensualismus und in der materialistisch-monistischen Weltanschauung eines Lamettrie und der Gottlosigkeit eines Holbach und Diderot. Indem die Sinneserkenntnis als letzte Wahrheitsnorm erklärt wurde, kam es zur Deutung des Geistigen als eines Produktes der Materie und zur Leugnung der geistigen Substanz, religiös zur Gottlosigkeit.

Die Verwerfung des Gottglaubens bedeutete die Zerstörung der tiefsten und einzig sicheren Grundlage des menschlichen Gemeinschaftslebens. Familien-Gemeinschaft und die Einheit des gesellschaftlichen Lebens zerbrachen in den einzelnen christlichen Völkern mit derselben Folgerichtigkeit, mit der der Individualismus auf politischem Gebiet das Leben der Menschheit auseinander riss. Im Nationalkirchentum drohte er auch in das Denken und Leben der Kirche einzudringen.

Der Jansenismus

Zunächst versuchten Gedankengänge des Protestantismus, allerdings nicht unter seinem Namen, im Hyper-Augustinismus des Bajus und Jansenius den katholischen Glauben zu beeinflussen. Die Jesuiten hatten sich am stärksten der reformatorischen Strömung entgegen gestemmt und dabei mit Recht die Bedeutung der menschlichen Willensfreiheit hervorgehoben. Hiergegen erhob sich Michael de Bay (Bajus † 1589), seit 1551 Professor der Theologie an der Universität Löwen. Die Opposition trieb ihn ins Extrem und in Glaubensirrtum, indem er die übernatürliche Seinsordnung zur notwendigen, natürlichen Ausstattung des Menschen rechnete und demgemäß zu einer Überschätzung der Folgen der Erbsünde und Unterschätzung der sittlichen Freiheit kam. 1585 kam der gelehrte Jesuit Lessius als Theologieprofessor an das Jesuitenkolleg Löwen.

Im gleichen Jahr wurde Kornelius Jansenius geboren. Er erhielt an der Löwener Universität seine Ausbildung, war seit 1617 als Leiter des holländischen Kollegs in Löwen tätig und wurde 1636 Bischof von Ypern. Die Abneigung gegen die Jesuiten, die seinem Gesuch um Aufnahme in den Orden nicht entsprochen hatten, führte ihn der Irrung des Bajus in die Arme. Zwei Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1640, erschien sein Hauptwerk „Augustinus“, das Resultat langjähriger Studien der Gedankenwelt Augustins, das die Irrungen des Bajus nicht nur wiederholte, sondern Konkupiszenz wie Gnade für unwiderstehlich erklärte und die irrige Lehre aufstellte, der durch den Sündenfall unfreie Wille unterstehe so lange der unwiderstehlich wirkenden Konkupiszenz, bis diese durch die Liebe zum Guten überwunden sei.

Auf Betreiben der Jesuiten verbot Papst Urban VIII. das Werk, das der Verfasser selber vor seinem Tod ausdrücklich dem Urteil des kirchlichen Lehramtes unterworfen hatte. Der Priester Antoine Arnauld und die Nonnen des Klosters Port Royal, dem Angelika Arnauld als Äbtissin vorstand, stellten sich auf Seite des Jansenius; ihnen schloss sich der geniale Blaise Pascal an, dessen Schwester Nonne in Port Royal war. Das hinderte nicht, daß Papst Innozenz X. auf das Ersuchen von fünfundachtzig französischen Bischöfen folgende fünf Lehren des Jansenius im Jahr 1653 verurteilte:

1. Bestimmte göttliche Gebote kann auch der Gerechte wegen mangelnder Gnade nicht erfüllen. – Dieser Satz war lutherisch und im Tridentinum verworfen.

2. Der inneren Gnade widersteht der Mensch im Zustand der gefallenen Natur niemals. – Auch dieser calvinistische Satz war verworfen.

3. Für sittliches Verdienst und Missverdienst genügt das Freisein vom äußeren Zwang; es bedarf nicht der Freiheit von innerer Nötigung. – Diese irrige Einschränkung der sittlichen Freiheit hatte Jansen von Bay übernommen.

4. Die Behauptung, der Mensch könne der zuvorkommenden Gnade widerstehen, sei semipelagianisch.

5. Die Behauptung, Christus sei für alle Menschen gestorben, ist semipelagianisch. – Diese Lehren sind katholisch, ihre Bezeichnung als semipelagianisch ist deshalb Irrtum.

Somit wurde noch einmal vom kirchlichen Lehramt die Notwendigkeit der Gnade, die Freiheit des menschlichen Willens und die Allgemeinheit des göttlichen Heilswillens wie des Erlösungsopfers Christi betont.

Da der Jansenismus in ethischer Hinsicht einer übergroßen Strenge huldigte und sich gegen den angeblichen Laxismus der Jesuiten wandte, gewann er manche ernste Geister, die gegen die päpstliche Verurteilung Stellung nahmen, vor allem den Oratorianer Paschasius Quesnel. Nur mit Mühe wurde eine Kirchenspaltung in Frankreich verhütet.

Die fatalen Folgen des Jansenismus

Der Jansenismus hat, obwohl das kirchliche Lehr- und Hirtenamt in so klarer und entschiedener Weise gegen die Irrung vorging, eine Erschütterung der kirchlichen Autorität und einen starken Rückgang des religiös-sittlichen Lebens im Gefolge gehabt, also das Gegenteil von dem hervorgerufen, was er beabsichtigte. Aus ihm ist die noch heute bestehende Kirche von Utrecht hervorgegangen, die sich als „Römisch-Katholische Kirche der altbischöflichen Klerisei“ bezeichnet und sich als Zweig der Altkatholischen Kirche betrachtet, obwohl diese viel später und aus anderen Ursachen entstanden ist.

Von Frankreich waren im 17. Jahrhundert zahlreiche Jansenisten in das protestantische Holland geflüchtet. Die Katholiken Hollands standen seit dem Abfall der Niederlande von Spanien unter Leitung eines Apostolischen Vikars, mit dem Sitz in Utrecht. Seit 1688 bekleidete diese Stelle der Oratorianer Peter Codde, Erzbischof von Sebaste. Mit einem Teil seines Klerus begann er Beziehungen zu den eingewanderten Jansenisten anzuknüpfen. Da er die darauf erfolgte Aufforderung des Papstes, die Verurteilung der fünf jansenistischen Grundirrtümer zu unterzeichnen, ablehnte, setzte ihn Klemens XI. im Jahr 1702 ab.

Es kam zum Schisma, wobei der abgesetzte Codde insoweit kirchliche Disziplin hielt, daß er die Ausübung bischöflicher Funktionen unterließ. Da traf im Jahr 1719 der jansenistisch infizierte Titularbischof von Babylon, der Franzose Dominique Varlet, auf einer Reise zum Orient in Holland ein und spendete auf Ersuchen der schismatischen Gruppe die Firmung. Sobald er im Orient eintraf, erreichte ihn schon die päpstliche Suspension. Varlet kehrte, erbittert über die von ihm selbst verschuldete Bestrafung nach Utrecht zurück und weihte am 14. Oktober 1724 den bisherigen Generalvikar Cornelius Steenhoven zum Bischof der neuen Bewegung und nach dessen Tod hintereinander mehrere Nachfolger, zuletzt 1739 Meindaerts. In der Besorgnis, daß die nur mit einer Stelle verbundene Bischofsweihe durch Unglücksfall leicht zugrunde gehen könne, weihte Meindaerts 1742 den Hieronymus de Bock zum Bischof von Haarlem und 1758 Bijewelt zum Bischof von Deventer.

Der Papst exkommunizierte den Weihenden wie die Geweihten. Die Utrechter Kirche aber erhielt sich auf Grund des Bischofsamtes bis heute. Von ihr bekam 1873 die Altkatholische Kirche die Bischofsweihe. (1)

(1) die Gültigkeit der Bischofsweihe in der Utrechter Kirche ist nicht zu bezweifeln, ebenso wenig wie die der in dieser Hinsicht von ihr abhängigen Altkatholischen Kirche.
1889 kam durch den Zusammenschluss zwischen der Utrechter Kirche und dem Altkatholizismus die Utrechter Union zustande, der sich später auch die Nationalkirchen von Polen und Kroatien anschlossen. Die Utrechter Kirche, (…), hat unter dem Einfluss des Altkatholizismus rationalistische und nationalkirchliche Elemente in sich aufgenommen. Die holländische Sprache wurde in der gesamten Liturgie eingeführt und 1923 die Zölibats-Verpflichtung aufgehoben. Die Erweichung des alten Konservatismus scheint allerdings nicht zum Segen für diese Kirche auszugehen… –
aus: Konrad Algermissen, Konfessionskunde, 1939, S. 271 – S. 275

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