Der Geist der Erneuerung unter Pius IX. in der katholischen Kirche
Während der Deutschkatholizismus, trotz der Freiheiten, die ihm das Revolutionsjahr 1848 gebracht hatte, in sich zusammenbrach, wirkte sich der Geist der Erneuerung in der Katholischen Kirche in denselben Jahren immer stärker und weiter aus. In den verschiedensten Ländern entstanden religiöse, karitative und kulturelle Vereine, die von dem neu erblühten religiösen Leben beredtes Zeugnis ablegten. Blüten besonderer Schönheit in diesem neu erwachten Frühling katholischen Lebens waren die glänzenden kirchlichen Kundgebungen, die seitens des Oberhauptes der Kirche selber veranstaltet wurden.
Das Pontifikat Pius‘ IX. ist nicht nur einer der längsten (1846 bis 1878), sondern auch einer der bedeutendsten der ganzen Kirchengeschichte, bedeutend vor allem wegen der weiteren Entfaltung des Glaubens im Kampf gegen die Irrungen der Neuzeit.
Die weitere dogmatische Entwicklung setzte im Gebiet der Mariologie ein
Es spricht von einem außerordentlich tiefen katholischen Empfinden, dass diese dogmatische Entwicklung einsetzte auf dem Gebiet der Mariologie, als Ausdruck des Vertrauens, dass die Gottesmutter, die den wirklichen Christus der Welt geboren, auch an erster Stelle fürbittend in den Sorgen und Nöten des mystischen Christus eintreten werde. Am 8. Dezember 1854 erklärte Pius IX., nachdem er die Gutachten des gesamten Episkopates der Welt eingeholt hatte, die Lehre, dass Maria wegen ihrer göttlichen Erwählung zur Gottesmutter vom ersten Augenblick ihres Daseins an durch eine besondere Gnade und Bevorzugung Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu von jeglicher Makel der Erbschuld frei bewahrt worden sei, als Glaubenssatz der Kirche.
Das schon seit 1708 durch Papst Klemens XI. für die ganze Kirche vorgeschriebene Fest der unbefleckten Empfängnis Mariä, das Fest der absoluten Sündenlosigkeit der Gottesmutter, erhielt dadurch seine dogmatische Begründung. Der Inhalt des Engelsgrußes an die „Gnadenvolle“, des Wortes des Syrers Ephräm im 4. Jahrhundert, der Lehre des Duns Skotus im 13. Jahrhundert, der Reservation des Tridentinums im 16. Jahrhundert war nunmehr zur vollen Entfaltung gekommen.
Pius IX. verurteilt im „Syllabus“ die neuheidnischen Irrlehren
Zehn Jahre später, am 8. Dezember 1864, verurteilte Pius IX. im „Syllabus“ die modernen Irrungen im einzelnen und verkündete die organische Verbindung von Natur und Übernatur als das Heilmittel gegen die anwachsende neuheidnische Bewegung, die die Verabsolutierung des Menschlichen, besonders des Staates, dem Totalitätsanspruch Gottes entgegen stellte. In der dem Syllabus beigegebenen Enzyklika „Quanta cura“ verwarf der Papst die in der Enzyklika aufgeführten neuheidnischen Lehren feierlich und mit dem Anspruch der Glaubens-Unfehlbarkeit:
„Alle und jede der schlechten Meinungen und Lehren, wie sie in diesem Schreiben erwähnt sind, verwerfen, ächten und verdammen wir einzeln kraft Unserer Apostolischen Autorität und wollen und befehlen, dass sie von allen Söhnen der Katholischen Kirche als verworfen, geächtet und verdammt angesehen werden.“ In diesem Rundschreiben besitzen wir die erste lehramtliche Verurteilung des gesamten Neuheidentums. (1)
(1) Dem Syllabus selber kommt nicht der Charakter einer unfehlbaren Lehrentscheidung zu. Siehe dazu den Beitrag: Quanta cura ein unfehlbares Dokument
Wie notwendig diese Maßnahmen des Papstes waren, zeigt die Tatsache, dass in den sechziger Jahren in Mexiko, ähnlich wie zuvor in Deutschland, reformsüchtige katholische Priester unter Aufpeitschung der nationalen Instinkte des Volkes die Auflehnung gegen Rom einleiteten und die sogenannte „Kirche Jesu“ als Mexikanische Nationalkirche mit Unterstützung des Präsidenten Juarez ins Leben riefen, ein zahlenmäßig unbedeutendes Gebilde, das mit dem Protestantismus der Vereinigten Staaten in engste Verbindung trat und ganz dessen Geist trägt. (2) Zur selben Zeit schuf der zum Protestantismus apostasierte Negerpriester Holly auf den Antillen die „Orthodoxe Kirche von Haiti“ als katholische Nationalkirche der Neger. (3)
(2) Die in der Christenverfolgung des Calles gegründete „National-mexikanische Kirche“ ist noch unbedeutender geblieben.
(3) Auf dem Altkatholiken-Kongress zu Luzern 1892 war auch ein Vertreter dieser damals 100000 Mitglieder umfassenden Sekte erschienen.
Notwendigkeit einer allgemeinen Kirchenversammlung
Das starke Vordringen der nationalkirchlichen Bewegung in Verbindung mit der rationalistischen Geistesströmung forderten noch weit energischere Schritte seitens des kirchlichen Lehramtes. In den Tagen der Veröffentlichung des „Syllabus“ gab der Papst in einer Sitzung der Ritenkongregation den Kardinälen unter dem Siegel des strengsten Geheimnisses zum ersten Mal seine Absicht kund, eine allgemeine Kirchenversammlung zu berufen, um so durch ein ganz außergewöhnliches Mittel dem neuheidnischen Zeitgeist entgegen zu wirken und die neu erwachte katholische Sache aufs tiefste zu fundieren und zu stärken. Am Fest der Apostelfürsten 1868 schrieb er durch die Bulle „Aeterni Patris“ die Eröffnung der allgemeinen Kirchenversammlung auf den 8. Dezember 1869 aus.
Ankündigung und Eröffnung des allgemeinen Konzils im Jahr 1869
Da tiefer schauende Geister mit Recht in der Dogmatisierung der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenlehren, die in der Heiligen Schrift begründet und seit den Tagen des Irenäus im 2. und des heiligen Augustinus im 4. Jahrhundert immer klarer in das Bewusstsein der Gläubigen getreten war, den stärksten Wall gegen die immer mächtiger andringende rationalistische Welle und gegen die vom nationalkirchlichen Denken her drohende Gefahr der Zersplitterung der kirchlichen Einheit erblickten, gingen von Kardinälen und Bischöfen eine Anzahl von Vorschlägen für das Konzil in dieser Richtung ein.
Das erweckte in verschiedenen Ländern einen Sturm der Empörung, entfacht von liberal gesinnten katholischen Theologen, in Frankreich von dem Wortführer des Gallikanismus, Henry Maret, Dekan der theologischen Fakultät in Paris und Titularbischof von Sura, in Deutschland von Ignaz v. Döllinger, Theologieprofessor in München und infuliertem Propst des Hofkollegiatstiftes dort selbst, der wegen seiner gründlichen und umfassenden Gelehrsamkeit hoch geachtet, aber bereits seit längeren Jahren wegen seiner liberalen Ansichten mit der obersten kirchlichen Behörde in ein gespanntes Verhältnis gekommen war. Verschiedene Regierungen nahmen Stellung im Sinne der Gegner der Unfehlbarkeits-Erklärung. Russland verbot seinen Bischöfen den Besuch des Konzils. Die Freimaurer beschlossen, am Tag der Konzilseröffnung als Gegenaktion ein freidenkerisches Weltkonzil in Neapel abzuhalten.
Dogmatische Konstitution über den Glauben
Unbeirrt durch alle diese Stürme, eröffnete am 8. Dezember 1869 der 77jährige Papst im vollen Schmuck seiner hohenpriesterlichen Würde das Vatikanische Konzil in der Peterskirche in Anwesenheit von 43 Kardinälen, 9 Patriarchen, 8 Primaten, 107 Erzbischöfen, 456 Bischöfen, von denen 43 den orientalischen Riten angehörten, und einer Anzahl Ordensgenerale und Äbte. Bereits in der dritten öffentlichen Sitzung, am 24. April 1870, wurde die dogmatische Konstitution über den Glauben angenommen, in der die Grundlehren des Christentums von neuem bekräftigt und die Irrlehren des Rationalismus und des aus dem Rationalismus erwachsenen Atheismus, Materialismus und Pantheismus verurteilt wurden.
Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes
Schon Ende Januar 1870 hatten der armenische Patriarch Hassun und der Erzbischof Ledóchowski von Posen-Gnesen eine mit dreihundertundachtzig Unterschriften der Konzilsväter unterzeichnete Denkschrift dem Papst eingereicht mit dem Ersuchen, die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittensachen in „klaren, deutlichen, jeden Zweifel ausschließenden Worten“ zum Glaubenssatz zu erheben.
Der Kardinal Schwarzenberg von Prag überreichte dem Papst ein Schreiben mit hundertsechsunddreißig Unterschriften, in dem der dringende Wunsch ausgesprochen wurde, diese Lehre nicht zum Dogma zu erheben. Nachdem die Väter des Konzils in ernsten und eingehenden Beratungen aller erwogen hatten, was dieses Problem anging, nachdem vom 14. Mai an die Generaldebatte, in der vierundsechzig Redner aus den verschiedenen Ländern das Wort ergriffen, volle zwanzig Tage in Anspruch genommen hatte, dann noch wochenlang in Spezialdebatten alle in Betracht kommenden Fragen bis ins einzelnste erörtert und am 17. Juli fünfundzwanzig Bischöfe, hauptsächlich aus Deutschland, Österreich und Nordamerikas, mit Erlaubnis des Papstes in ihre Heimat zurückgereist waren (4), fand am 18. Juli 1870 die Abstimmung statt.
Von den 535 anwesenden Konzilsvätern stimmten 533 für die Definierung der Unfehlbarkeit des in Glaubens- und Sittenlehren feierlich als Oberhaupt der Kirche entscheidenden Papstes, darunter auch die deutschen Bischöfe von Paderborn, Regensburg, Eichstätt und Posen-Gnesen, und zwei, ein Sizilianer und ein Nordamerikaner, dagegen. Darauf gab Papst Pius IX. die Bestätigung.
(4) Es waren die Gegner der Unfehlbarkeits-Erklärung zum Teil nur deshalb Gegner, weil sie den Zeitpunkt der Dogmatisierung für ungeeignet hielten. Sie reisten ab mit der Versicherung der Treue gegen den Papst und des Gehorsams gegen die Beschlüsse des Konzils. –
aus: Konrad Algermissen, Konfessionskunde, 1939, S. 278 – S. 281
Beiträge von und über Pius IX finden sich auch auf der Website katholischglauben.online unter dem Stichwort Pius IX.