Kirchenlexikon Stichwort Syllabus von Pius IX.

Pius IX. sitzt auf dem Papststuhl, umgeben von Kardinälen, die den Segen des Papstes erhalten

Kirchenlexikon: Der Syllabus von Pius IX.

Die Erstellung des Syllabus

Syllabus, im Allgemeinen so viel wie „Verzeichnis“, wird heutzutage allgemein das berühmte Aktenstück genannt, welches Pius IX. am 8. Dezember 1864 zugleich mit der Enzyklika „Quanta cura“ vom selben Datum durch seinen Staatssekretär Kardinal Antonelli allen Ordinarien der katholischen Kirche zugehen ließ… –

Schon in den ersten Jahren des Pontifikates Pius IX. (s.d. Art.) war der Gedanke aufgetaucht, ein Verzeichnis der hauptsächlichsten damaligen Irrtümer über die Religion und die übernatürliche Ordnung zusammenzustellen. Wie es scheint, war es 1849 auf dem Provinzialkonzil von Spoleto (…), wo dieser Gedanke zum ersten Male ans Licht trat. Im Jahre 1852 beauftragte dann Pius IX. den Kardinal Fornari mit der Befragung einiger Bischöfe und anderer Gelehrten hinsichtlich einer solchen Zusammenstellung… die Kommission, welche für die Definition des genannten Dogmas die Bulle Ineffabilis Deus vorbereitet hatte, erhielt nun den Auftrag, einen Syllabus der modernen Irrtümer zusammenzustellen. So kam ein erstes derartiges Verzeichnis auf Grund verschiedener päpstlicher Allokutionen und anderer Aktenstücke zustande, welches dem Papst unterbreitet wurde. Ehe dasselbe aber promulgiert war, erschien am 23. Juli 1860 eine Pastoralinstruktion des Bischofs Gerbet von Perpignan, worin dieser Prälat seinem Klerus 85 Sätze als ebenso viele moderne Irrtümer bezeichnete. Daraufhin wurde nun in Rom 1861 eine neue Kommission eingesetzt (zur Hälfte Weltgeistliche, zur Hälfte Ordenspriester), welche für ihre Arbeiten die genannten 85 Sätze zur Grundlage nehmen sollte. Die Frucht ihrer Bemühungen war ein Syllabus von 61 Thesen, deren jeder die ihr gebührende theologische Zensur beigefügt war. Aber auch dieser Syllabus kam nicht zur Promulgation, obschon derselbe 1862 bei Gelegenheit der feierlichen Kanonisation der 26 japanischen Marthyrer (…) den in Rom anwesenden Bischöfen zur Begutachtung mitgeteilt und von ihnen allen gebilligt worden war. Der Grund zur Zurückhaltung desselben desselben war wohl der, daß ein kirchenfeindliches Blatt sich in den Besitz des bis dahin streng geheim gehaltenen Aktenstückes gesetzt und dasselbe vorzeitig veröffentlicht hatte. Nunmehr arbeitete eine neue Kommission, unter deren Mitgliedern der gelehrte Barnabit Bilio, später Kardinal und einer der Präsidenten der General-Kongregationen des vatikanischen Konzils, vor allen anderen hervorragte, an einem neuen Syllabus. Als Grundlage ihrer Arbeiten dienen die vom Papst bei verschiedenen Gelegenheiten erlassenen Enzykliken und gehaltenen Allokutionen; denn nachgerade hatte man bemerkt, daß ziemlich alles, was in Bezug auf die Lehre zur Zeit einer kirchlichen Zurechtweisung bedürfe, von Seiten des Papstes bereits gelegentlich gerügt worden sei. Nach einer Arbeit von nicht ganz einem Jahr war dieser Syllabus von 80 falschen Sätzen fertig. Er wurde zugleich mit der Enzyklika Quanta cura am 8. Dezember 1864 auf die oben angegebene Weise zur Kenntnis aller Bischöfe gebracht. Den einzelnen verworfenen Sätzen war keine theologische Zensur beigefügt, so daß die Feststellung der letzteren Sache der theologischen Wissenschaft bleibt. In gleicher Weise, d.i. ohne Beifügung der entsprechenden Zensur, sprach die Enzyklika das Verwerfungsurteil über 16 Sätze aus. Über die vergeblichen Versuche Napoleons III. und anderer Herrscher, die Verkündigung der Enzyklika und des Syllabus in ihren Staaten zu verhindern, vgl. „Katholik“ 1865, I, 245ff.

Welche Autorität kommt dem Syllabus zu?

Die Hauptfrage betreffs des Syllabus ist die, welche Autorität ihm zukommt. Betreffs der erwähnten 16 in der Enzyklika selbst angeführten Sätze kann kein Zweifel bestehen, daß es sich bei ihm um eine Verwerfung kraft der unfehlbaren höchsten päpstlichen Lehrgewalt handelt; dies geht klar aus der Verwerfungsformel hervor. Auch im Syllabus hat man eine Äußerung des die gesamte Kirche umfassenden Lehr- und Hirtenamtes des Papstes zu erblicken, und wenigstens von den meisten dieser Sätze stand schon lange vor der Herausgabe des Syllabus und vor jeder Verurteilung durch Pius IX. durch das ordentliche, bzw. durch das außerordentliche Lehramt der Kirche fest, daß sie falsche und verdammliche Sätze findet; über manche derselben hat zudem später das Vaticanum das Anathem verhängt (vgl. Syllabus § I-III und die Canones der dritten Sitzung des Vaticanums).

Allein eine andere Frage ist die, ob die im Syllabus enthaltene Verwerfung der betreffenden Sätze ein mit Unfehlbarkeit ausgestattetes Lehrurteil des Papstes, ob sie eine wirkliche definitio ex cathedra sei… Hier muss es genügen, darauf hinzuweisen, daß die für die Bejahung der Frage beigebrachten Gründe nicht einwandfrei sind… – Dagegen ist es unbestreitbar, daß dem Syllabus durch die allgemeine Annahme von Seiten des Episkopates nachträglich dasselbe Ansehen zuteil geworden ist, welches einer Entscheidung ex cathedra zukommt. Die Tatsache dieser Annahme durch die Bischöfe steht fest (vgl. die Adresse an den Papst im J. 1867, abgedruckt im „Katholik“ 1867, II, 137ff., gegen welche sich von keinem Kompetenten Widerspruch erhoben hat);

der Satz, daß auch dem magisterium ordinarium der Kirche Unfehlbarkeit in der Lehre wie in der Verdammung von Irrtümern und zwar in demselben Umfang zukommt wie dem extraordinarium des Papstes, ist katholischer Glaubenssatz.

Theologische Zensur

Steht es demnach fest, daß alle im Syllabus verworfenen Sätze als falsche und verwerfliche Lehren anzusehen sind, so verdient jeder derselben eine theologische Zensur. Doch braucht dies nicht gerade immer die schlimmste und schärfste der Häresie, bzw. des theologischen Irrtums zu sein; namentlich ist das in der Überschrift des Syllabus vorkommende Wort error sicher nicht in seinem streng theologischen, sondern im weiteren Sinn zu verstehen. In der Tat stehen unter den im Syllabus verurteilten Irrtümern neben manchen sogar grundstürzenden Häresien andere Sätze, die bloß als verwegen, skandalös usw. zu bezeichnen sind; welche von den verschiedenen theologischen Zensuren den einzelnen Sätzen beizulegen ist, muss die theologische Einzeluntersuchung feststellen. –

Ferner ist es klar, daß, da alle im Syllabus und in der Enzyklika Quanta cura kirchlich verurteilten Sätze als falsch und unkatholisch gelten müssen, ihre Gegensätze wahre und katholische Lehre sind. Diese Gegensätze richtig aufzustellen ist indessen im konkreten Falle durchaus nicht immer leicht, zumal dann, wenn es sich um zusammengesetzte oder modale Sätze handelt, oder dort, wo ein theoretischer Irrtum sich unter der Form einer historischen Tatsache verbirgt. Da ist wohl zuzusehen, wo der Irrtum steckt, oder ob z. B. die These bloß verurteilt ist, weil sie zu sicher und zu absprechend, weil sie zu allgemein gefaßt oder sonst übertrieben ist u. dgl. Deshalb soll in der folgenden Aufzählung der in der Enzyklika Quanta cura und im Syllabus verworfenen Irrtümer überall, wo ihr Gegensatz nicht offen zu Tage liegt, derselbe entweder beigefügt oder wenigstens angedeutet werden.

Die 16 verworfenen Sätze

Die 16 in der Enzyklika Quanta cura verworfenen Sätze sind folgende:

1. Die beste Verfassung der öffentlichen Gesellschaft und der bürgerliche Fortschritt fordern durchaus, daß die menschliche Gesellschaft ohne irgend welche Rücksicht auf die Religion und als ob diese nicht existierte, oder wenigstens ohne irgend einen Unterschied zwischen der wahren Religion und den falschen zu machen, regiert werde. –

2. Der beste Zustand der Gesellschaft ist dort vorhanden, wo für die weltliche Macht keine Pflicht anerkannt wird, die Verletzer der katholischen Religion mit gesetzlichen Strafen zu züchtigen, außer wenn der öffentliche Friede solches fordert. –

3. Gewissens- und Kultusfreiheit ist das Recht eines jeden Menschen; es ist ein Recht, welches durch das Gesetz in jedem wohl eingerichteten Staate verkündigt und geschützt werden muss; und die Bürger haben das Recht eine vollständige, durch keine staatliche oder kirchliche Autorität zu beschränkende Freiheit, alle ihre Gedanken durch Reden oder die Presse oder durch sonstige Mittel kundzugeben und zu veröffentlichen. –

4. Der in der sog. öffentlichen Meinung oder sonstwie kundgegebene Volkswille ist das höchste, von jeglichem göttlichen und menschlichen Rechte unabhängige Gesetz; und in der Politik kommt den vollendeten Tatsachen, eben weil sie vollendet sind, Rechtskraft zu. –

5. Man muss den Bürgern und der Kirche die Befugnis entziehen, öffentlich Almosen aus christlicher Liebe zu geben, und das Gesetz abschaffen, welches mit Rücksicht auf die Gott gebührende Verehrung an bestimmten Tagen knechtliche Arbeiten untersagt. Jene Befugnis und dieses Gesetz sind den Grundsätzen der richtigen Sozialpolitik zuwider. –

6. Die häusliche Gesellschaft oder die Familie leitet ihren ganzen Daseinsgrund einzig vom staatlichen Recht ab; und somit entstammen alle Rechte der Eltern über ihre Kinder, und vor allem das Recht auf die Erziehung und den Unterricht derselben, nur dem staatlichen Gesetz und sind von ihm abhängig. –

7. Dem Klerus, als dem Feind des wahren und nützlichen Fortschrittes der Wissenschaft und der Zivilisation, ist die Sorge und das Amt des Jugendunterrichtes und der Jugenderziehung vollständig zu nehmen. (Gegensatz: Der Klerus ist dem wahren und wahrhaft nützlichen Fortschritt nicht feind; und deshalb ist ihm auch nicht die Sorge und das Amt des Jugendunterrichtes und der Jugenderziehung zu nehmen.) –

8. Die Gesetze der Kirche verpflichten nicht im Gewissen, es sei denn, die weltliche Gewalt habe sie promulgiert. –

9. Die Erlasse und Dekrete der römischen Päpste hinsichtlich der Religion und der Kirche bedürfen der Sanktion und der Bestätigung oder wenigstens der Zustimmung der Staatsgewalt. (Gegensatz: Sie bedürfen weder des einen noch des anderen vgl. Conc. Vatic. Sess. IV, c. 3.) –

10. Die apostolischen Konstitutionen, welche die geheimen Gesellschaften, ob sie nun einen Eid zum Geheimhalten fordern oder nicht, verwerfen und ihre Anhänger und Begünstiger mit dem Kirchenbann belegen, haben in den Ländern, wo die weltliche Macht derartige Gesellschaften duldet, keine Kraft. –

11. Die vom Konzil von Trient und von den römischen Päpsten über diejenigen verhängte Exkommunikationen, welche sich am Recht und an dem Eigentum der Kirche vergreifen und sie usurpieren, beruht auf einer Vermischung der geistlichen mit der bürgerlichen und politischen Ordnung und hat einzig den weltlichen Vorteil im Auge. –

12. Die Kirche kann keine die Gewissen der Gläubigen verpflichtende Bestimmungen hinsichtlich des Gebrauches der zeitlichen Güter erlassen. –

13. Der Kirche steht kein Recht zu, die Übertretung ihrer Gesetze mit zeitlichen Strafen zu ahnden. –

14. Das Eigentumsrecht an den von der Kirche, den religiösen Genossenschaften und anderen frommen Instituten besessenen Gütern dem Staat beizulegen, ist eine den Grundsätzen der heiligen Theologie und des öffentlichen Rechts entsprechende Behauptung. –

15. Die kirchliche Gewalt ist nicht nach göttlichem Recht von der Staatsgewalt verschieden und unabhängig; und eine Unterscheidung und Unabhängigkeit dieser Art kann nicht aufrecht erhalten werden, ohne daß die Kirche wesentliche Rechte der Staatsgewalt antastet und an sich reißt. –

16. Man kann den Urteilssprüchen und Dekreten des apostolischen Stuhles, als deren Gegenstand das allgemeine Wohl der Kirche, ihre Rechte und Disziplin angegeben wird, ohne Sünde und ohne Nachteil für seinen katholischen Standpunkt Zustimmung und Gehorsam versagen, wofern sie nur keine dogmatischen Bestimmungen über Glauben und Sitten enthalten. –aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 11, 1899, Sp. 1018 – Sp. 1023

Aus den 80 verworfenen Sätzen des Syllabus

§ 3 – Indifferentismus, Latitudinarismus

15. Es steht jedem Menschen frei, diejenige Religion anzunehmen und zu bekennen, welche er, vom Lichte seiner Vernunft geführt, für wahr hält. (Gegensatz: Es ist dem Menschen nicht erlaubt, diejenige Religion anzunehmen und zu bekennen, welche er, vom bloßen Lichte seiner Vernunft geleitet, mit Zurückweisung jedes höheren Lichtes, für wahr hält.) –

16. Die Menschen können bei der Übung jeder Religion den Weg des ewigen Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen. –

17. Wenigstens gute Hoffnung darf man hinsichtlich der ewigen Seligkeit aller derjenigen hegen, welche ganz und gar nicht in der wahren Kirche Christi leben. –

18. Der Protestantismus ist nur eine verschiedene Form derselben wahren christlichen Religion, in welcher Form man nicht minder als in der katholischen Kirche Gott gefallen kann. –

§ 10 – Irrtümer, die den Liberalismus unserer Tage betreffen

77. In unserer Zeit frommt es nicht mehr, daß die katholische Religion als einzige Staatsreligion anerkannt unter Ausschluss aller anderen Kulte gelte. (Die These ist viel zu allgemein. Gegensatz: Auch in unserer Zeit kann es zweckmäßig sein usw.) –

78. Es war daher gut (laudabiliter) getan, wenn in gewissen katholischen Ländern gesetzlich bestimmt wurde, daß den dorthin Einwandernden die öffentliche Ausübung jeglichen Kultus gestattet sei. (Diese These ist unter anderem verwerflich, a) weil sie eine gesetzliche Bestimmung als löblich bezeichnet wegen eines Grundes, der gar kein wahres Lob begründen kann: nämlich auf Grund des in der vorhergehenden These ausgesprochenen falschen Prinzips. Sie ist b) verwerflich, weil in demjenigen katholischen Land, von welchem in der betreffenden Allokution zunächst die Rede war, und in welchem dieses Gesetz erlassen wurde (Neu-Granada), nicht die Bedingungen vorlagen, die eine gewisse Freiheit des öffentlichen Kultus als berechtigt und das geringere Übel erscheinen lassen. Dort war alles katholisch, es herrschte Religionseinheit, und der katholischen Kirche war die Herrschaft feierlich garantiert. Die These spricht c) außerdem von jeglichem Kult, was gewiß absurd ist.) –

79. Denn es ist falsch, daß die staatliche Freiheit aller Kulte und die allen gewährte volle Freiheit, jede Meinung und Ansicht öffentlich kundzugeben, leichter zum Verderbnis der Sitten und der Herzen der Völker und zur Verbreitung der Pest des Indifferentismus beiträgt. –

80. Der Römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen. –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 11, 1899, Sp. 1024 – Sp. 1025/ Sp. 1031

Der gesamte Syllabus ist zu finden unter: Pius IX. Enzykliken und Rundschreiben

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