Das allgemeine oder jüngste Gericht ist die eigentliche Vollendung des Gerichtes Gottes
Dieses allgemeine (judicium universale) oder jüngste (novissimum) d. i. letzte Gericht (judicium extremum) ist erst die eigentliche Vollendung des Gerichtes Gottes auf Erden, in dem seine Gerechtigkeit ihre volle Genugtuung empfängt. Es ist nicht sowohl ein zweites Gericht nach dem ersten, als die Vollendung dieses ersten, das in sich noch nicht völlig abgeschlossen ist.
1. Der Gegenstand dieses Gerichtes ist die Menschheit als ein ganzes, und der Einzelne nur als ein Glied dieses Ganzen und in der Beziehung seiner persönlichen Tätigkeit auf das Ganze und Allgemeine des menschlichen Geschlechts. Denn dieses Ganze der Menschheit ist nicht bloß ein leerer Begriff, den nur der denkende Geist von den einzelnen menschlichen Individuen abstrahiert hat, sondern die reale Einheit einer gemeinsamen Natur, deren Realität sich wirksam erweist in der Erbsünde und in der Erlösung. Diese reale Einheit der menschlichen Natur begründet aber auch eine gemeinsame Verantwortlichkeit vor dem Richterstuhl Gottes. Wir jedem Einzelnen ein Ziel für sein sittliches Streben vorgesetzt ist, so auch der Menschheit im Ganzen. Das Wirken aller einzelnen Menschen wirkt zusammen zu diesem letzten Ziel; und nicht bloß zufällig vereinigen sich so zerstreute Kräfte zu einem gemeinsamen Resultat, sondern schon das Wirken des Einzelnen selbst ist mehr oder weniger zugleich ein gemeinsames. Jeder Mensch steht in seiner sittlichen Wirksamkeit unter der Einwirkung seiner Mitmenschen und wirkt hinwieder auf sie zurück; er empfängt aus der Gesamtheit und gibt ihr zurück, weit mehr als er sich i einzelnen Fall bewußt ist. So hat jeder Einzelne seinen (positiven und negativen) Anteil an dem Gesamtergebnis: was die Menschheit am Ende ihres irdischen Daseins geworden ist, das ist das Resultat des mannigfach verwobenen Zusammen- und Entgegenwirkens der sittlichen Tätigkeit aller Menschen. Diese einheitliche Wirksamkeit der ganzen Menschheit und die Beziehung der Einzelwirkung zum ganzen und zum gemeinsamen Endziel entzieht sich der Erkenntnis des Menschen: nur einzelne Lichtblicke fallen in das Dunkel, das diesen großen Prozess einhüllt. Aber vor dem Auge Gottes liegt das für unser Auge so verworrene Spiel sittlichen Kräfte der Menschheit mit derselben Klarheit und Vollständigkeit, wie der ganze Lauf der Natur, und an jenem Tage wird er es auch allen geschaffenen Geistern offenbaren. Das Streben der Menschheit nach dem gemeinsamen, ihr von Gott vorgesteckten Ziele kann nicht ein unendliches sein. Wie das sittliche Wirken des einzelnen Menschen seinen definitiven Abschluss findet in einem bestimmten Moment der Zeit, so muss auch dem Leben der Menschheit als Ganzen ein bestimmtes Maß der Zeit zugemessen sein, innerhalb deren es die ihm zugeteilte Aufgabe zu erfüllen hat. Wenn dann das ganze Leben der Menschheit vom sittlichen Standpunkt aus betrachtet als ein großer Kampf zweier entgegen gesetzten Prinzipien erscheint, des göttlichen und des widergöttlichen, Christi und des Antichrists, so muss mit dem Ende jener Zeit der Sieg des einen Prinzips entschieden sein. Dann tritt aber auch sogleich die Entscheidung der göttlichen Gerechtigkeit über das künftige ewige Los der Menschheit ein in einem letzten Gericht, als der Zusammenfassung und Vollendung aller voraus gehenden Gericht.
2. Daß einst ein solches allgemeines Gericht stattfinden, und daß Christus zum Zweck desselben noch ein zweites Mal (Hebr. 9, 28) auf Erden erscheinen wird, das ist bestimmte und deutliche Lehre der heiligen Schrift. Auf dieses Gericht beziehen sich die Prophezeiungen des Alten Testamentes, die in den letzten Zeiten ein großes Strafgericht über die Völker verkünden (Is. 66, 15ff); Joel 2, 29ff; 3, 2ff; Mal. 4, 1; Soph. 1, 14ff). Aus diesen Prophetien schöpften die Juden ausschließlich ihr Bild von dem kommenden Messias, und daher wurde ihnen Armut und Niedrigkeit, Leiden und Sterben seiner ersten Ankunft zum Ärgernis, so daß sie nicht an ihn glauben wollten. Aber mit deutlicher Beziehung auf diese messianischen Prophezeiungen verkündet der Heiland zu wiederholten Malen seine Wiederkunft zum Gericht; so Matth. 13, 41; 19, 28; 24, 27ff; 25, 31ff; Mark. 13, 24ff; Luk. 21, 25ff, Auch die Apostel legen häufig Zeugnis ab von ihrem Glauben an das Gericht Christi, so Petrus vor Cornelius (Apg. 10, 42), Paulus auf dem Areopag (Apg. 17, 31; und in seinen Briefen (Röm. 2, 5f, 16; 14, 10; 1. Kor. 4, 5; 2. Kor. 5, 10; 2. Tim. 4, 1; 2. Thess. 1, 5ff), Jakobus (5, 7ff). Überall wecken die Apostel in den herzen der Gläubigen die zuversichtliche Erwartung dieser glorreichen Wiederkunft des Heilands zum Gericht, teils um sie zu treuer Erfüllung ihrer Pflichten zu mahnen, teils um sie in den Leiden und Verfolgungen zu trösten. Darum war sie auch der stete Glaube der Kirche, der besonders sich in den Symbolen ausspricht…
Die Zeit der Wiederkunft heißt jener Tag schlechthin (dies illa, 2. Tim. 4, 8) oder der Tag des Herrn oder Christi (1. Thess. 5, 2; Phil. 1, 6), der Tag des Menschensohnes (Luk. 17, 30), endlich der letzte (jüngste) Tag (Joh. 6, 39). 40). In diesen Stellen ist das Wort Tag nicht bloß als Zeitbestimmung zu verstehen, sondern es bezeichnet im engeren Sinn einen Gerichtstag, wie ja auch im Deutschen das Wort in diesem Sinn gebraucht wird, und wie auch im Alten Testament bei den messianischen Prophetien das Wort Tag, Tag des Herrn, der große Tag das göttliche Gericht bezeichnet (Joel 2, 31; Ez. 13, 5; Is. 2, 12). –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 5, 1888, Sp. 398 – Sp. 400