Das Vatikanische Konzil und das Antikonzil der Freidenker
Wie das Christentum den Heiden, so war das Vatikanische Konzil den Apostaten eine Torheit. Es war ihnen eine Torheit und ein Ärgernis zugleich: ein gegen den Kulturfortschritt des 19. Jahrhunderts geplantes Verbrechen.
Joseph Ricciardi, Mitglied des italienischen Parlamentes, schrieb im Jahre 1869 einen Brief in italienischer Sprache „an alle Freidenker aller Nationen“, den er zwei Monate später in französischer Übersetzung auch im Ausland verbreitete. Er sieht in dem angekündigten Konzil eine drohende Gefahr für die große Sache der Zivilisation, der Freiheit und des Fortschrittes. Für das einzige Mittel gegen die neuen Anstrengungen des alten und unversöhnlichen Feindes jeder Freiheit hält er einen heiligen Bund der Freidenker aller Nationen, der dem blinden Glauben, auf dem der Katholizismus beruht, das Prinzip der freien Forschung entgegen stellt. Als Ort für die Versammlungen des Freidenker-Bundes schlägt er Neapel vor, und als Tag für den Beginn derselben den 8. Dezember, den für die Eröffnung des Konzils bestimmten Termin. Auf diesem Antikonzil sollen die unvergänglichen Dogmen der Moral gegenüber dem Dogma Roms proklamiert werden, jener Moral, die sich ausschließlich auf die Vernunft gründet. Die Reden der Freidenker müssen von entsprechenden Taten begleitet werden, und darum werden sie auf ihre Fahne die Worte schreiben: Liebe – Unterricht. Die Liebe wollen sie über durch das Bestreben, jedem gesunden Menschen Arbeit zu verschaffen und für denjenigen zu sorgen, welcher sich durch Arbeit zu ernähren außerstande ist. Unterricht soll allen Menschen zu teil werden; besonders den Elementarunterricht müssen sich die Freidenker angelegen sein lassen.
Ricciardi schrieb seinen Brief im Namen eines Komitees, das sich die Berufung des Antikonzils zur Aufgabe gemacht hatte, und bat alle, welche das dargelegte Programm billigten, ihre Zustimmung schriftlich auszudrücken.
Nach einer Mitteilung Ricciardi liefen sehr zahlreiche Zustimmungsschreiben ein. Erwähnt sei ein Brief Garibaldis vom 19. Januar, Viktor Hugo vom 20. April, und Michelets, Sekretär der philosophischen Gesellschaft in Berlin.
In Frankreich wurde in der Loge die Frage des allgemeinen Antikonzils mehrere Male besprochen; viele drangen darauf, daß der Freimaurer-Bund als solcher dasselbe beschicke, aber die Mehrzahl der Stimmberechtigten war gegen eine offizielle Teilnahme.
Ebenso erklärte der Großmeister des „Großen Orients“ von Italien in einem Brief an alle Logen des Landes, daß zwar diejenigen unter den Brüdern, welche für ihre Person an dem Antikonzil teilnehmen wollten, Lob verdienten, daß aber der Orden sich nicht als Korporation beteiligen könne.
Nach einem Brief Ricciardi an die Zeitung „Giornlae di Roma“ vom November wurden in vielen Städten Italiens für den 8. Dezember Demonstrationen gegen das Vatikanische Konzil vorbereitet… Es erscheine ihm, so sagte er, sehr wünschenswert, und Garibaldi teile diese Ansicht, daß in jedem Winkel Italiens das Volk das regste Leben entfalte und die Gelegenheit, die ihm seine Feinde bieten, zu einer neuen Erklärung des Volkswillens zu Gunsten der nationalen Einheit und des heiligen Grundsatzes der Freiheit benutze. Drei Ideen müssten sich bei seinen Versammlungen verkörpern: unversöhnlicher Krieg gegen den Papst; Protest gegen das napoleonische Übergewicht; das große Prinzip der Freiheit der Gewissen.
Zum 8. Dezember fanden sich nun einige hundert Freidenker, darunter mehrere Frauen, in Neapel ein. Da im Theater S. Ferdinando, das zum Versammlungslokal ausersehen war, an diesem Tage eine Vorstellung gegeben wurde, musste man die Eröffnungssitzung des Antikonzils auf den 9. Dezember verlegen. Sie fand am Mittag statt. Ricciardi präsidierte und hielt die Eröffnungsrede. 460 aktive Mitglieder waren gegenwärtig. Als der Präsident das Programm des provisorischen Komitees zur Genehmigung vorlegen wollte, wurde Widerspruch erhoben; man konnte sich nicht einigen, und der Präsident erklärte die Sitzung für geschlossen.
Die zweite Sitzung war am Abend des 10. Dezember. Da Ricciardi nun von neuem das Programm zur Beratung stellte, entstand unter großem Lärm eine heftige Debatte, welche durch die Ankunft der französischen Freidenker unterbrochen wurde. Der Sprecher der letzteren, Herr Regnard, hielt eine heftige französische Rede gegen die katholische Kirche. Als dann Rufe zur Verherrlichung des republikanischen Frankreich erschallten, löste die anwesende Polizeivertretung die Konzilssitzung der Freidenker auf. Nur mit Widerstreben verließen diese den Saal.
Am 16. Dezember versammelten sie sich noch einmal in einem Gasthof von Neapel. Der Streit über das Programm begann von neuem, und man tobte so heftig, daß der Gastwirt erklärte, die Versammelten nicht länger in seinem Hause dulden zu wollen. Auch die übrigen Gasthäuser und Theater verweigerten ihnen die Aufnahme. Sie begnügten sich nun damit, Ricciardis Programm nebst einem andern, das Regnard empfahl, am 17. Dezember in dem Organ der Freidenker Neapels, im „Popolo d`Italia“ zu veröffentlichen.
Das Programm der Partei Ricciardis lautete: „Die unterzeichneten Vertreter verschiedener Nationen der zivilisierten Welt, die zur Teilnahme am Antikonzil in Neapel versammelt sind, stellen folgende Grundsätze auf: Sie proklamieren die freie Vernunft gegenüber der religiösen Autorität, die Unabhängigkeit des Menschen gegenüber dem Despotismus der Kirche und des Staates, die Solidarität der Völker gegenüber der Allianz der Fürsten und Priester, die freie Schule gegenüber dem Unterricht des Klerus, das Recht gegenüber dem Privilegium. Indem sie keine andere Grundlage anerkennen als die Wissenschaft, erklären sie sich für die Freiheit des Menschen und für die Notwendigkeit, jede offizielle Kirche abzuschaffen. Das Weib muss von den Banden befreit werden, worin die Kirche und die Gesetzgebung es gefangen halten und die seine völlige Entwicklung verhindern. Sie proklamieren die Notwendigkeit des von jeder religiösen Einmischung freien Unterrichtes; denn die Moral muss von einer solchen Einmischung vollkommen unabhängig sein.“
Das von Regnard und seinen Anhängern aufgestellte Programm war folgendes: „Die Freidenker von Paris anerkennen und proklamieren die Freiheit des Gewissens, die Freiheit der Forschung und die menschliche Würde. Sie betrachten die Wissenschaft als die einzige Grundlage jedes Glaubens und verwerfen somit jedes auf irgend eine Offenbarung sich gründende Dogma. Sie erkennen, daß die soziale Gleichheit und die Freiheit nur dann bestehen können, wenn das Individuum gebildet ist. Sie beanspruchen somit einen für alle Stufen kostenfreien, obligatorischen, ausschließlich laikalen und materialistischen Unterricht, und es ist Pflicht der Gesellschaft, das Individuum in den Stand zu setzen, seinen Kindern einen solchen Unterricht zu erteilen. – Was die philosophische und religiöse Frage betrifft, so nehmen die Freidenker von Paris, in Erwägung, daß die Idee eines Gottes die Quelle und der Stützpunkt eines jeden Despotismus und jeglicher Bosheit ist, sowie daß die katholische Religion die vollständigste und furchtbarste Personifikation dieser Idee und der Gesamtinhalt ihrer Dogmen eine wahre Verleugnung der Gesellschaft ist, die Verpflichtung auf sich, für die rasche und gründliche Abschaffung des Katholizismus tätig zu sein und dessen Vernichtung durch alle mit der Gerechtigkeit verträglichen Mittel anzustreben, selbst die revolutionäre Gewalt nicht ausgeschlossen, die nichts anderes als das auf die Gesellschaft angewandte rechtmäßige Verteidigungsrecht ist“.
Auch die übrigen Versammlungen, welche die Freidenker am 8. Dezember in verschiedenen Städten Italiens abhielten, hatten kein anderes Ergebnis als die neapolitanische: eine ekelhafte Kundgebung ihres Hasses gegen Gott und Religion. –
aus: Theodor Granderath SJ, Geschichte des vatikanischen Konzils von seiner ersten Ankündigung bis zu seiner Vertagung, Erster Band 1903, S. 351 – S. 354