Der Messias als Mythos betrachtet

Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems

Viertes Kapitel.

Periode des Rationalismus und der Indifferenz

Der Messias, von rationalistischen Juden als Mythos betrachtet

I.

Wir stehen im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Die Periode der Verzweiflung und des Schweigens hat das ganze Mittelalter ausgefüllt und erst zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnt in Israel eine neue Periode, die des Rationalismus und der Indifferenz.

Welche Umwälzung, welche Veränderung der Szene! Man glaubt wirklich sich vor eine ungeheure Eisfläche versetzt zu sehen, die im Schmelzen begriffen ist, wenn man das, was sich in Betreff des Messias in der Synagoge geltend macht, mit dem vergleicht, was man das ganze Mittelalter hindurch davon dachte.

Im Mittelalter stand das Denken des Volkes, wie wir gesehen haben, gleichsam unter Vormundschaft. Man sprach vom Messias nur mit gedämpfter Stimme, man wagte nicht einmal mehr, in Ihn zu denken, denn es war die Zeit der rabbinischen Macht; vor ihrem Bannspruch: „verflucht sei“ stockte jede Berechnung, erstarrte jeder Gedanke.

In der Synagoge des neunzehnten Jahrhunderts ist es nicht mehr so. Vor allem fällt in die Augen, daß die Frage frei behandelt wird. Ohne Zweifel gibt es noch immer die alte talmudistische Partei, welche die Befürchtungen und Vorbehalte des Mittelalters in die moderne Zeit übertragen möchte; aber außerdem, daß sich einerseits ihre Reihen täglich mehr lichten, haben sich andererseits zwei bedeutende Parteien gebildet, von denen die eine den Messias als einen Mythos behandelt – das ist die Partei der rationalistischen Juden, während die andere die messianische Frage als eine müßige betrachtet – und das ist die Partei der Materialisten und der Indifferenten.

Machen wir uns diese beiden neuen Erscheinungen im Judentum: den als einen Mythos betrachteten Messias und die Indifferenz in Bezug auf den Messias, klar, so wird man uns beistimmen, daß in dem Schauspiel, welches diese Rasse bietet, die so lange Zeit ausdauernd und hartnäckig gewesen ist und heutigen Tages alles gehen lässt, etwas Unerklärliches und Seltsames liegt.

II.

Der Messias, als Mythos betrachtet.

Um klar zu sein, beginnen wir mit einer Definition. Was ist dieser mythische Messias? Folgendes ist dafür gewiss die richtigste und bündigste Formel; sie ist gleichsam die Synthese alles dessen, was wir gelesen und gehört haben:

Der Messias, sagen also die rationalistischen Juden, der Messias ist ja keine Person! Deshalb haben ihn unsere Väter viertausend Jahre lang vergebens erwartet! Der Messias; er ist eine Idee, ein Reich; das universelle Reich des Monotheismus oder die Einheit Gottes und das universelle Reich der Brüderlichkeit und der Freiheit der Völker, und inmitten dieses zweifachen Glanzes: der Gott-Einheit und der Menschheits-Einheit die Erhebung des Volkes Israel, des Märtyrervolkes für diese beiden Einheiten, das ist der Messias!

Wie man sieht, besteht der Kernpunkt dieses Systems darin, aus dem Messias eine Art unpersönlichen Wesens zu machen: er ist ein Reich, ein goldenes Zeitalter.

Dieser allgemeine Begriff vom messianischen Mythos genügt; er wird durch das, was wir noch zu prüfen haben, vervollständigt werden. Zunächst denn: welches sind die Ursachen seines Entstehens?

III.

Diese Ursachen lassen sich auf drei zurückführen:

Auf den Philosophismus des achtzehnten Jahrhunderts;
Auf die Revolution von 1789;
Auf die Zerstörung des Talmudismus.

Nach Zeit und Wichtigkeit steht der erste Grund, der Philosophismus, obenan. Ein Werkzeug für den Skeptizismus und das freie Denken, ist das achtzehnte Jahrhundert bekanntlich unter allen Jahrhunderten der Geschichte das zerstörendste für die Religionen gewesen. Wie eine beizende Säure verbreitete sich der Skeptizismus überall hin und löste allen Glauben auf. Auch der Judaismus entging ihm nicht. Was Bayle und Rousseau für den christlichen Glauben waren, das waren Spinoza und Mendelssohn für den jüdischen Glauben. Das erste Mal mit Spinoza verdammt und aus der Synagoge vertrieben, tauchte er wieder auf und fand günstigere Aufnahme in der freundlicheren Erscheinung des Moses Mendelssohn (1). Mit diesem beginnt der Neu-Judaismus. „Mendelssohn“, sagt ein israelitisches Blatt, „wühlte den Judaismus durch und durch um; er gründete den Neu-Judaismus, welcher nichts anderes als der philosophische Deismus ist.“ (Arch. Israel. 1848. p. 109.)

(1) Baruch Spinoza, geboren zu Amsterdam (1632), gestorben 1677. – Da er frühzeitig Beweise eines skeptischen Geistes gab, wurde er aus der Synagoge ausgestoßen und, durch den Einfluss der Rabbiner, aus der Stadt verbannt. Sein Pantheismus ist so erwiesen, daß heutzutage Spinozismus gleichbedeutend mit Pantheismus ist.
Mendelssohn wurde zu Dessau geboren 1729 und starb in Berlin 1786.

Die Theorie vom Mythos tritt in das Leben; durch Deutschland, dieses Land größter Gedankenkühnheit und Vaterland Mendelssohns, dringt sie in die Synagoge ein. Es ist geschehen; im Ghetto sammeln sich die Geister, welche anfangen zu denken und es laut auszusprechen, daß der Messias ein Reich und nicht eine Person sein könne.

Die Idee eines Reiches an Stelle eines persönlichen Wesens war gefunden; wo aber sollte sich dieses Reich ausbreiten? Welche Gestalt, welche Verhältnisse sollte es haben? Mit andern Worten: dieser Mythos musste Farben bekommen. Ein gigantisches Ereignis sollte sie ihm geben: es war die Revolution vom Jahr 1789. Vor diesem unerwarteten Horizont, der sich eröffnete und die bürgerliche Gleichheit aller Menschen in Aussicht stellte und hoffen ließ: so wie die universelle Verbindung aller Völker, die Befreiung aller unterdrückten Rassen – und um diese Befreiung zu beginnen: die Emanzipation des alten hebräischen Volkes, das im Jahre 1791 seine Rückkehr in die Familie der Völker beim Einsturz des alten Europa begann, wie es ehedem unter dem Einsturz der Mauern von Jericho in das verheißene gelobte Land einzog – man begreift, daß vor diesem Horizont die erstaunte und verjüngte Phantasie der Kinder Jakobs sich mit um so größerem Enthusiasmus überreden musste, den wahren Sinn dieses so lange erwarteten, geheimnisvollen Wesens erfasst zu haben; und wirklich fand die Deutung des Messias unter der Gestalt eines Reiches, einer Ära mehr als jemals günstige Aufnahme und Bestand.

Und wie um für die Verbreitung dieses Mythos das Feld frei zu lassen, brach in demselben Augenblick der Talmudismus zusammen. Zweierlei hatte im Talmud die Freiheit gefangen gehalten: die eng beschränkten Gewohnheiten des Lebens im Ghetto und jene allzu ausgedehnte Macht der Rabbiner, von der wir gesprochen haben. Mit der Emanzipation vom Jahr 1791 aber verschwand alles dies rasch. Um sich mit der neuen Gesellschaft in Harmonie zu setzen, mussten sich die Gewohnheiten natürlich erweitern, und indem die Israeliten unter das allgemeine Recht zu stehen kamen, wurde die Macht der Rabbiner bedeutend geschmälert und begrenzt. Von da an war das Denken in Israel frei gegeben und der messianische Mythos konnte sich ungehemmt in Umlauf setzen.

Unter diesem dreifachen Einfluss also ist in der Synagoge der messianische Mythos entstanden. – Wollen wir nun seinen Gang und seinen Fortschritt studieren. –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 46 – S. 55

Fortsetzung Kapitel 4 Teil 2: Der Messias der rationalistischen Juden

Tags: Judentum

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