Die moderne Philosophie Descartes und Spinoza

VI. Die moderne Philosophie Descartes und Spinoza

Wir dürfen bei dem Überblick über die Geschichte der Humanität nicht vergessen, wenigstens einen flüchtigen Blick auch auf die moderne Philosophie zu werfen, damit wir uns überzeugen, daß von allen Seiten ein Anlauf gemacht worden ist, um den Naturalismus zur Alleinherrschaft zu führen.

Wie Baco von Verulam, wider sein Wissen und Ahnen, der Stifter des englischen Deismus und Naturalismus wurde, indem er die äußere Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung zu ausschließlich betonte, und das wissenschaftliche Denken zu klein anschlug, so wurde der Franzose René Descartes (Cartesius, 1569—1650) wider Willen der Stifter des philosophischen Rationalismus, welcher folgerichtig in Pantheismus auslief und die wissenschaftliche Unterlage des absoluten Menschentums lieferte. Im Grunde ist es einerlei, ob die Natur, und insbesondere die menschliche, mit Allem, was drum und dran hängt, oder ob der Gedanke des menschlichen Ich’s vergöttert wird; in beiden Fällen wird der Mensch unabhängig, höchster und absoluter Herr, sein Lebensziel bleibt nur noch das Mensch-Sein; dann aber sind die Bande, welche uns zum persönlichen, überweltlichen Gott, zu seinem obersten Gesetz gebenden Willen und zu unserem übernatürlichen Endziele hinaufziehen, entzwei geschnitten.

Die katholische Philosophie

Die katholische Philosophie sowohl des Mittelalters als unserer Tage geht aus von der äußern Welt, an deren Wirklichkeit eine vernünftige Philosophie nicht zweifeln kann, und von der inneren Welt, deren Trägerin unsere eigene Seele ist. Von der wirklichen Welt steigt die wahre Philosophie empor zu Gott als dem vollkommensten und wirklichsten Sein und der letzten Ursache aller Dinge. Je genauer unser Denken mit der wirklichen Welt, die subjektive Wahrheit mit der objektiven, übereinstimmt, desto richtiger ist es; unser Philosophieren soll, soweit es dem endlichen Geist möglich ist, den göttlichen Schöpfungsgedanken nachdenken und durch die Reihen der sekundären Ursachen zur letzten Ursache alles Seins zurückkehren. Das menschliche Ich ist bloß Mitfaktor und Träger, nicht Schöpfer der Wahrheit; ein Begriff ist nicht deshalb wahr, weil ihn das Ich denkt, sondern nur dann, wenn er der Wirklichkeit entspricht. Aber dennoch hat sich die Philosophie nicht mit allem Wirklichen zu befassen, denn zur Wirklichkeit gehören zwei Ordnungen, die Ordnung der Schöpfung oder der Natur, und die Ordnung der Gnade, der Offenbarung, der Übernatur. Die eine ist so wirklich als die andere.

Nur die natürliche Ordnung gehört zur Domäne der Philosophie, obwohl der Theologe, da alles Natürliche dem Übernatürlichen dienen soll, auch die Philosophie zum Dienst der Theologie gebraucht. Die übernatürliche Ordnung aber vernichtet nicht die Natur, sondern erhöht, vervollkommnet und verklärt sie; die Offenbarung ist nicht Feindin, sondern Vollenderin der natürlichen oder Vernunft-Religion, d. h. jener Begriffe von göttlichen Dingen, welche wir schon durch das natürliche Licht unserer Erkenntniskraft finden. Der Mensch aber ist nicht bloß berufen, innerhalb seiner Natürlichkeit zu bleiben, einfachhin Mensch zu sein und sich etwa als Selbstherrscher zu gebärden, sondern er soll der übernatürlichen Kindschaft Gottes und der himmlischen Glorie teilhaftig werden. Und leugnet er nun diesen seinen zweiten, höchsten und letzten Beruf, welcher ihm vom Herrn der Gnade vorgezeichnet ist, so ist er eben ein Rebell gegen die göttliche Gnadenordnung. Kann die Erzstufe sagen: Ich will bleiben, was ich bin; man darf mich nicht im Feuer zu Eisen schmelzen, aus dem Eisen keinen Stahl, aus dem Stahl nicht die feinsten und wundervollsten Maschinen verfertigen?

Allerdings hat die Philosophie sich zunächst mit der natürlichen Ordnung zu beschäftigen und muss das Übernatürliche dem Theologen überlassen; aber sie kann und darf das letztere nicht von vornherein leugnen, sondern muss erforschen: kann sich Gott offenbaren, und welches sind sichere Kennzeichen seiner Offenbarung? Hat sodann der Philosoph die Möglichkeit, Wirklichkeit und Echtheit der Offenbarung erkannt, so kann er sich dieses höheren Lichtes nicht entschlagen, sondern er muss es als Kompass gebrauchen und der Bundesgenosse des Theologen werden. Denn der Glaube ist nicht der Feind des philosophischen Erkennens, sondern der höchste Grad der Gewissheit und die Verklärung des Wissens.

Ich weiß Etwas, weil ich erkenne, daß die Sache sich so verhält und nicht anders sein kann, und ich glaube Etwas, weil Gott, der Wahrhaftige, es dem Menschen geoffenbart hat, also eine Täuschung nicht unterlaufen kann.

René Descartes

Cartesius bewerkstelligte nun die ungeheure Revolution in der Philosophie, indem er das menschliche Ich zum Mittelpunkt derselben machte, mit kecker Erhebung gegen die Autorität das Bestehende rücksichtslos niederriss und mit vermessenem Selbstvertrauen Alles aus eigenen Mitteln neu aufzuführen versuchte. Hiermit entsprach er dem Geist der neuen Zeit, die sich ihrer Großjährigkeit rühmt, aus dem Jugendalter heraus zum vollen Bewusstsein ihrer selbst erwacht sein will.

Er ging aus vom methodischen Zweifel an Allem und Jedem, was zur Wirklichkeit gehört. Nur seinen religiösen Glauben wollte er sich als guter Katholik vorbehalten (1) und seinem Vaterland als braver Bürger dienen, sonst aber an Allem zweifeln, bis er volle Gewissheit erlange. Das Einzige, was ihm bei diesen Wogen des Zweifels fest blieb, war die Gewissheit, daß er zweifle, denke. „Ich denke (zweifle), also bin ich“ (cogito, ergo sum) ist seine erste Staffel, von welcher er dann zu Gott aufsteigt; erst an letzter Stelle gelangt er zur Außenwelt, und diese selbst kann er eigentlich nicht festhalten, weil ja die Seele die Sinnenvorstellungen aus sich selbst erzeugen könnte, ohne daß die entsprechenden Dinge wirklich da wären; erst die Wahrhaftigkeit Gottes gibt ihm eine Brücke hinüber zur Gewissheit der äußeren Welt, weil die höchste Wahrheitsliebe nicht zulassen kann, daß der Mensch durch seine Sinne systematisch irregeführt werde. Als wirklich seiend wird nicht mehr das angesetzt, was in der objektiven Welt existiert, sondern was der denkende Menschengeist als wirklich seiend gesetzt hat.

(1) Er war Jesuitenschüler im Kollegium La Flèche gewesen, kämpfte in Deutschland unter Tilly und gelobte eine Wallfahrt nach Loreto, wenn ihm die Stiftung einer neuen Philosophie gelinge, ein Gelöbnis, das er treu erfüllte. Er schrieb: „Discours de la méthode“, zugleich mit der Dioptrique, den Météores und der Géometrie als „Essays philosophiques“ 1637 erschienen, unter seiner Aufsicht latinisiert von Abbé Étienne de Courcelles als „Specimina philosophica“, 1644; „Meditationes de prima philosophia“, 1641; „Principia philosophiae“, 1644; „Epistola Renati Cartesii ad Gisb. Voëtium“, 1650; „De passionibus animi“, 1650: „De homine et formatione foetus“, 1664 (nach seinem Tode). Später erschienen aus seinem Nachlass: Le monde ou traité de la lumière; Regulae ad directionem ingenii; Inquisitio veritatis per lumen naturae. — Freiburger Kirch.-Lex. u. d. WW. Philos. und Pantheismus. — I. Kleutgen, die Philos. der Vorzeit, 1. B., S. 4 ffff., 468 ff.

Hierdurch ist mit einem Schlage der Charakter der Wissenschaft ganz verändert: die menschliche Subjektivität ist zum Nachteil der objektiven Welt fast Alleinherrscherin geworden, und äußert in kurzer Zeit ihre üblen Wirkungen auch auf einem Gebiet, wo sie am wenigsten am Platz war, auf dem der göttlichen Offenbarung. Allerdings wollte Cartesius nur den methodischen oder wissenschaftlichen Zweifel als Mittel zur Erlangung der Wahrheit, nicht aber den wirklichen, am wenigsten in Sachen der Offenbarung. Aber die protestantischen Theologen übertrugen die cartesianische Zweifel-Methode allen Ernstes auf das ganze Gebiet der Theologie wie der Philosophie. Was nur immer dem Menschen durch Erfahrung, durch sittliches und religiöses Bewusstsein oder wie immer gewiss ist, das sollte mit voller Beflissenheit dem ernstlichsten Zweifel unterzogen und dann erst als wahr angenommen werden, wenn es durch die rein philosophische Forschung endgültig bewiesen wäre. So sollte man im Interesse der freiesten allseitigen Forschung in der Theologie um alle religiöse, in der Philosophie um alle philosophische Wahrheit kommen. Hiermit aber bestieg auch das Menschen-Ich den all gebietenden Thron: die spätere gottesfeindliche Humanität war angebahnt, das falsche und bis in den Himmel erhobenePrinzip des absoluten menschlichen Ich wurde theoretisch und praktisch bis in seine äußersten Konsequenzen fortentwickelt; das Ich ist der modernen Philosophie dasselbe geworden, was einem Teil der griechischen Weltweisheit das Wesen der Natur gewesen, Prinzip alles Wirklichen, das Absolute, Gott.

Die moderne Philosophie – Baruch Spinoza

Ferner war durch weitere Verdrehung der cartesianischen „Substanz“ nur ein kleiner Schritt zu dem Satz, daß das denkende Ich ganz dasselbe sei, was die gesamte Wirklichkeit als unterschiedslose Masse; daß jedes Atom der Weltmasse ein Abbild des Ganzen und mit diesem wesentlich eins und dasselbe sei; daß in jedem einzelnen Geist immer das Ganze zum Bewusstsein komme, das Selbstbewusstsein jedes einzelnen Menschen als Selbstbewusstsein Gottes, der Mensch als Gott zu gelten habe. Denn jeder einzelne Tropfen Wassers sei ja, seinem Wesen nach, ebenso vollkommen Wasser, wie der ganze Ozean. —

Dies war die Lehre des portugiesischen Juden aus Amsterdam, Baruch Spinoza (1632—77). Er kennt nur eine Substanz, Gott, deren wesentliche Attribute die Ausdehnung (Körperwelt) und das Denken (Menschengeist) sind. Die Welt ist nur die entfaltete göttliche Wesenheit (natura naturans et natura naturata), die menschliche Seele nur die Idee des menschlichen Körpers, Leib und Seele ein und dasselbe Einzelding, wie auch Gott und die Welt.

Die menschliche Freiheit leugnet er; das Hauptbestreben des Menschen sei, in seinem Sein zu beharren; also gut, was der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung dient, böse, was denselben hinderlich erscheine. Demnach ist das Endziel des Menschen durchaus naturalistisch, nämlich Erhaltung und Vervollkommnung des (Mensch-) Seins; Gottes Wille ist nicht gesetzgeberisch; sondern was wir Gesetz nennen, sind im göttlichen All-Eins nur ewige Wahrheiten, welche aus seinem Wesen mit Notwendigkeit hervorgehen und sich in der natura naturata verwirklichen müssen. Was wir tun, das tun wir notwendig, weil wir zum Voraus dazu bestimmt sind. Ebenso leugnet Spinoza die persönliche Fortdauer nach dem Tode und jede übernatürliche Offenbarung. Das einzige Organ der göttlichen Offenbarung ist der menschliche Geist; was die Propheten und Christus, welchen er nur einen geistig bevorzugten Menschen nennt, gelehrt haben, ist rein menschliche Erkenntnis, Wunder und eigentliche Geheimnisse unmöglich.

Die Religion Spinoza’s ist nicht Erkenntnis der Wahrheit, sondern nur Gehorsam gegen Gott, d. h. Liebe zum Nächsten. Sofern also die hl. Schrift Religionsbuch sei, wolle sie nicht Wahrheiten lehren, sondern den Gehorsam; wir haben darum von ihr bloß zu glauben, was zur Beobachtung der Humanität notwendig sei, nämlich Dasein, Einheit und Allmacht des mit der Welt einen Gottes, und daß seine Verehrung in der Menschenliebe bestehe. So steht der Amsterdamer Israelit, obgleich ihm über seiner einzigen Substanz alles Einzelne und selbst das Ich aufging, mit seinem schwarzen und todeskalten Pantheismus mitten in dem Humanismus:

Mensch zu sein und möglichst lang zu bleiben, die Menschen als Menschen anzuerkennen, ist unser ganzes Ziel und Ende; der persönliche Gott über der Welt, zu welchem wir streben und gelangen sollen, ist ihm tot.

Andere Philosophen gingen gleichfalls vom cartesianischen Subjektivismus aus und missachteten die uns umgebende Außenwelt, d. h. Alles, was nicht menschliches Ich ist. Sie ließen allerdings diese objektive Welt zunächst unangetastet; erkannten sie aber nicht als das, was sie ist, und wie sie sich selbst offenbart, sondern bildeten sich in ihrem Inneren subjektive Begriffe und sprachen: diesen Begriffen meines eigenen Denkens muss die Wirklichkeit entsprechen; will sie nicht, so muss ich ihr die Anerkennung versagen. Hiermit ist dem menschlichen Ich wieder die Allmacht zugeschrieben, in praktischer Beziehung das Menschentum als das eigentlich Entscheidende und als Zentrum der Geisteswelt hingestellt, dem Menschenwillen die höchste Stufe der gesetzgeberischen Gewalt zugesprochen, und der allseitige philosophische Rationalismus auf Unkosten der übernatürlichen Ordnung eingeführt.

Leibniz und Christian Freiherr von Wolff

Wir dürfen an diesem Ort den großen Leibnitz (1646—1716), den Repräsentanten des philosophischen und theologischen Wissens seiner Zeit, nicht zu hart beschuldigen, da er im letzten Abschnitt seines Lebens durch eine großartigere Auffassung des Christentums sich mit der übernatürlichen Ordnung befreundete und über das Verhältnis zwischen Natur und Gnade, Vernunft und Offenbarung im Wesentlichen katholisch dachte, wohl aber seinen Nachtreter im anfänglichen Rationalismus, den Philosophen Christian Freiherrn von Wolff (1679—1754), welcher einseitig die Leibnitz’schen Gedanken ausbildete, durch seine „Natürliche Religion“ die Humanität an Stelle des positiven Christentums setzte, den Menschen also wieder naturalistisch in sich selbst abschloss und der göttlichen Kindschaft beraubte (1). Nach ihm schöpft die Seele die sinnlichen und intellektuellen Ideen aus sich selbst, nicht von der Außenwelt. Der höchste Endzweck des menschlichen Handelns besteht in immer größerer, rein menschlicher Vervollkommnung. Unsere eigene und die fremde Vollkommenheit zu fördern, ist daher unser höchstes Gut; die höchste Menschen mögliche Vollkommenheit ist dann zugleich die Glückseligkeit, weil die Anschauung dieser eigenen Vollendung Lust gewährt und glücklich macht.

Dieser humanistische Atheismus mit seiner selbstsüchtigen Freude am eigenen Ich wurde durch zahlreiche Anhänger im protestantischen Deutschland weit verbreitet und durch die übel berühmte Wertheimer Bibelübersetzung popularisiert. In derselben wurden die Weissagungen und Lehrsätze der Offenbarung im Geiste der Wolffischen Philosophie äußerst verflacht, darum das Werk auf kaiserlichen Befehl (1737) verboten.

(1) Er hatte deshalb als Professor der Philosophie zu Halle einen harten Stand vor den Anhängern des positiven Protestantismus, an deren Spitze Joach. Lange stand. Als Atheist wurde er seiner Stelle entsetzt, aus dem Lande verwiesen, seine Bücher verbrannt. –
aus: Georg Michael Pachtler SJ, Der Götze der Humanität, 1875, S. 84 – S.91

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