Sittliche Bedeutung des Gewissens
Welch großen Schaden aber dem Menschen die zufügen, die ihm das Gewissen verderben oder verwirren, das erfassen wir nur, wenn wir erwägen, wozu es uns von der Güte des Schöpfers gegeben ist. Es ist nicht der untergeordnetste Teil des göttlichen Ebenbildes, und es würde schwer halten, dieses auszubilden, wenn wir dazu nicht die Hilfe des Gewissens hätten. Das Gewissen gibt uns vor allem kund, welch weiser Erzieher des Menschengeschlechtes Gott ist. Denn nur durch das Gewissen sind wir fähig, ein selbständiges sittliches Leben zu führen. Das Gewissen allein setzt uns in den Stand, uns dem Ziel der sittlichen Vervollkommnung zu nähern, zu dem wir bestimmt sind.
Gott hat sich nicht damit begnügt, in unsere Vernunft nur die allgemeinsten Begriffe von gut und böse nieder zu legen. Wir finden vielmehr in ihr eine ganze Reihe von Grundsätzen, die unser sittliches Leben regeln und die sich uns als selbstverständliche und als unverbrüchliche Gesetze darstellen. Niemand hat sie uns verkündigt. Wir haben sie in unserem Geist beim Erwachen vorgefunden. Es ist uns niemals eingefallen, sie zu bezweifeln oder auch nur einen Beweis dafür zu verlangen. Sie klangen uns so vernunftgemäß, so der Natur angemessen, daß wir sie hinnahmen wie die obersten Lehrsätze der Mathematik und der Geometrie, und daß wir alle übrigen Sittenlehren an sie anknüpfen oder von ihnen ableiteten. Hierfür gehören z. B. die Sätze, daß man Gott durch äußerlichen Dienst verehren, daß man die Eltern lieben, daß man für Wohltaten dankbar sein, daß man das gegebene Wort halten daß man jedem das Seinige geben und lassen, daß man eine Autorität über sich anerkennen müsse, daß man niemand wehe tun, daß man Scham und Sittsamkeit nicht verletzen dürfe, und viele andere mehr.
Hätte Gott einem der modernen Pädagogen oder uns allen miteinander die Einrichtung der menschlichen Seele überlassen, so wären wir gewiß hierbei stehen geblieben und hätten geglaubt, der Mensch sei nun überflüssig reich ausgestattet, um seine Aufgabe zu erfüllen. Aber Gottes Weisheit weiß besser, was uns notwendig ist, als wir selber. Mit diesen allgemeinen Grundsätzen ist uns noch wenig gedient. Denn einmal sind sie, wie sie in uns liegen, viel zu unbestimmt und allgemein, als daß sie uns zu einer unmittelbaren Richtschnur für das handeln dienen könnten. Es gibt aber sehr verschiedene Arten, eine und dieselbe allgemeine Regel zu vollziehen, je nach den Anschauungen und Sitten, in denen sich die Menschen bewegen.
So kennen alle Menschen das Gebot des Naturgesetzes, die Eltern zu ehren. Wir nun glauben dies dadurch zu erfüllen, daß wir ihre tage durch sorgsame Pflege so viel wie möglich verlängern. Die Heruler aber hielten ein alter, in dem man den Männer mordenden Speer nicht mehr schwingen kann, für eine Menschen unwürdige Erniedrigung und vermeinten deshalb alles Ernstes, ihre altersschwach gewordenen Eltern nicht besser ehren zu können, als indem sie diese töteten und verbrannten. Die Issedoner dagegen sahen, ihrer Kannibalen-Gesinnung entsprechend, die größere Ehre, die sie ihren Eltern antun konnten, darin, daß sie ihnen nicht ein Grab in der gemeinen Erde, sondern in ihrem eigenen Magen bereiteten.
Man sieht daraus, daß allgemeine Grundsätze noch lange nicht ausreichen, um als Richtschnur für das Handeln zu dienen, wenn nicht auch die Art und Weise an die Hand gegeben ist, wie sie in Ausführung zu bringen sind.
Nun ist aber drittens der Mensch, wie wir aus täglicher Erfahrung wissen, leider so oberflächlich und vergessen, daß ihm diese allgemeinen Grundsätze des Handelns gerade dann am wenigstens vor Augen treten, wann er von ihnen Gebrauch machen soll. Wenn er sie nicht braucht, hat er immer großen Vorrat an den schönsten Lebensregeln. Wenn die Tat geschehen ist, fallen sie ihm wieder ein, so daß das boshafte Sprichwort sagt, es gebreche ihm nie an Nachrat, und er sei nie klüger, als da, wo er seine Klugheit nicht mehr gebrauchen könne. Die Schwierigkeit ist für ihn nur die, daß er da, wo es darauf ankommt, mit Klarheit dessen bewußt werde, was ihm jetzt, in der gegenwärtigen Lage, unter den obwaltenden Umständen, not und nützlich ist. Daß er sich das mit seinen allgemeinen Grundsätzen nicht selber geben könne, wenn er nicht einen Mahner an der Seite hat, der im entscheidenden Augenblick so zu sagen mit dem Finger auf das hindeutet, was in den vorliegenden Verhältnissen für ihn Recht und Pflicht ist, das bedarf keines Beweises. Achtet er doch auch so noch oft genug nicht darauf, obwohl er, dank der Gnade Gottes, diesen Mahner neben sich hat oder vielmehr in sich selber herum trägt.
Dieser Mahner ist eben das, was man das Gewissen nennt. Jeder muss es in dieser Eigenschaft aus tausendfacher Erfahrung kennen. Wir können uns keinen denken, der so selbstvergessen und so ohne Achtsamkeit auf die Vorgänge in seinem eigenen Innern dahin lebte, daß er nicht wissen sollte, was es in uns wirkt. Gott hat einen eigenen Trieb und eine besondere Kraft in unsere Vernunft gelegt, damit sie uns jedesmal, eben da wir etwas tun oder meiden sollen, auf unsere Pflicht aufmerksam mache. Nie kommt der Mensch, er müsste sich nur in Zerstreutheit selber vergessen oder sich an die Außenwelt ganz verloren haben, in die Lage, sich für oder gegen etwas entscheiden zu müssen, ohne daß ihn eine innerliche Macht sozusagen mit der Hand in die Seite stößt, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und ihn auf das hinweist, um was es sich handelt. Und dabei vernimmt er deutlich eine innere Stimme, die ihm sagt: Hier handle so. Hier trifft dies Gebot zu. Die Dinge liegen so; also wende dieses Gebot in dieser Form an.
Deshalb nennt das Volk mit einem Ausdruck, der nicht passender gewählt sein könnte, das Gewissen die Stimme Gottes. In Wahrheit ist es Gottes Stimme, die sich durch unsere Vernunft verlautbar macht, ein Fingerzeig Gottes, der uns auf unsere Pflicht aufmerksam macht, nicht durch Offenbarung von oben, nicht durch außerordentliche Mitteilung von außen her, wie durch ein Orakel, sondern von innen her durch unsere eigenen Vernunft, in regelmäßiger Weise, die wir durch Beobachtung und Übung leicht erkennen lernen.
Das Gewissen ist darum eine Einrichtung, die eine so wunderbare Weisheit verrät, daß es allein genügt, uns Gott und seine unendliche Weisheit und Güte kund zu geben. Wenn wir nach dem Gewissen handeln, gehorchen wir Gott und sind doch nicht gezwungen, auf fremde Autorität hin zu handeln oder auch nur eine lange Prüfung darüber anzustellen, ob das, wozu wir uns durch Gottes Gebot verpflichtet fühlen, auch wahr und berechtigt sei, sondern wir finden in uns selbst das Zeugnis für die Wahrheit dieser Stimme Gottes und die Verpflichtung, seinen Geboten und seiner Mahnung nachzukommen. So ist es Gesetz Gottes, was wir befolgen, und doch unsere eigene Überzeugung. So handeln wir in einer und derselben Tat gehorsam gegen Gott und treu unserer Vernunft und Natur. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 115 – S. 119