Das Wesen des Liberalismus
1. Von den Erscheinungen und Wirkungen zum Wesen des Liberalismus
2. … Bisher haben wir uns nur an die äußeren Erscheinungen und Wirkungen des Liberalismus gehalten, daraus auf seine Eigenschaften geschlossen und zugleich eine Reihe von Folgerungen gezogen, die sich uns nahe legen, wenn wir ihm entgegentreten oder ihm entgehen wollen. Aber sein wahres Wesen haben wir noch nicht untersucht. Das soll nun geschehen.
… Daß die Zustände an den kurfürstlichen und hochfürstlichen geistlichen Höfen in Deutschland, daß die Orden und die theologischen Anstalten zu Ende des 18. Jahrhunderts sehr häufig für den Untergang reif waren, das wird doch niemand in Abrede stellen. Selber legten sie zur Erneuerung keine Hand an, so musste eben die Züchtigung Gottes über sie kommen, damals wie auch sonst früher und später. Dazu bediente sich Gott eben des Liberalismus, wie er ja immer in der Geschichte das Böse durch noch Schlimmeres straft. Aber wenn dieses auch in der Hand Gottes als Werkzeug zur Erfüllung seiner Absichten dient, so wird es dadurch nicht gerechtfertigt. Die Propheten werden nicht müde, dem Volke Israel zu verkünden, daß Assur von Gott als Zuchtrute ausersehen sei, sie sparen aber auch dem übermütigen Dränger nicht die Drohung, daß Gott ihn wegwerfen werde, wenn er sich deshalb überhebe und unbußfertig bleibe.
Die gleiche Rolle der Gottesgeißel und des Henkermeisters hat die göttliche Vorsehung dem Liberalismus öfter zugewiesen. Nicht immer so auffällig wie in der Reformation und in der Revolution von 1789 und der von 1830 und der von 1848 an, aber doch erkennbar genug. Wiederholte und gleiche geschichtliche Vorgänge erlauben doch schon einen Schluß auf die nämliche Ursache. Indes geben wir zu, daß das allein nicht völlig ausreicht, um die Katastrophen zu erklären, die der Liberalismus herbeigeführt hat. Deshalb gehen wir daran, seine Natur näher kennen zu lernen, soweit und so sicher das möglich ist.
Die Schwierigkeit der Untersuchung
3. Wir stellen die letztgenannte Einschränkung nicht umsonst auf. Wer ein Gewissen hat, der fällt ja jedes Urteil mit Zurückhaltung. Wie erst einem solchen Chamäleon gegenüber! Denn eines seiner hauptsächlichsten Merkmale, an denen sich der Liberalismus immer verrät, ist die Berufung auf seine Unbegreiflichkeit. Zwar hat es noch nie eine Irrlehre gegeben, die sich nicht ihren Gegnern und allen Verurteilungen durch die Kirche mit der Behauptung entgegen gestellt hätte, man habe ihr unrecht getan, man habe sie falsch verstanden. Aber in dem Grade hat das doch nie eine philosophische oder dogmatische Ketzerei getrieben, wie es der Liberalismus tut. Jedes Wort, das einer gegen ihn gesprochen hat, zeigt nur, daß der Arme ganz unfähig ist, sich in den Gedankengang des Liberalismus zu stellen. Die treffendsten Belegstellen, die er anführt, sind nur zufällige Äußerungen, denen kein Wert beizulegen ist, sind aus dem Zusammenhang herausgerissen, haben einen ganz andern Sinn und werden von ihm böswillig mißbraucht. Und so geht es fort ohne Ende, sobald man sich mit dem Liberalismus einläßt. Wie nur Gott sich selber versteht, so auch der Liberalismus. Wer über ihn reden will, der muss zuvor selbst liberal geworden sein, sonst hat er kein Recht dazu. Der Jansenismus, auch in diesem Stücke sein Lehrmeister, hat durch volle zwei Jahrhunderte mit diesen Ausflüchten allen kirchlichen Verurteilungen getrotzt…
4. Wir wollen nicht in Abrede stellen, daß die Untersuchung über das Wesen des Liberalismus für den, der es mit der Wahrheit genau nimmt, nicht so ganz leicht ist.
Denn einmal bietet die Geschichte des Liberalismus schon deshalb große Schwierigkeiten, weil die Gebiete, deren er sich bemächtigt hat, so überaus verschieden sind. Bald wirft er sich auf die Gnadenlehre, dann hat er mit der Moral zu tun, dann mit der Läuterung der Religion von allem, was er für schädliche Auswüchse hält, dann wendet er seine ganze Kraft gegen die Jesuiten und die Orden überhaupt, dann treibt er philosophische Spekulation bis zum Schwindelig-Werden, dann möchte er alle Ideologen ausrotten und alle Welt zur praktischen Arbeit bekehren, dann verhandelt er das Verhältnis von Wissen und von Glauben, dann das von Staat und Kirche, dann eifert er gegen die Überspannung des kirchlichen „Machtbedürfnisses“, dann in die Literaturfrage, dann in die Schul- und Erziehungsfrage und noch sind wir nicht am Ende…
Der Liberalismus als Sammelbecken herrschender Zeitideen
5. So schwierig dies auf der einen Seite den Kampf gegen ihn macht, so bietet es doch auf der andern Seite den Vorteil, daß wir ihn mehr oder minder tätig überall finden, und somit auch überall auf seine wahre Natur schließen können, überall, sagen wir, wo sich eine Regung gegen die überlieferte Lehre und Lebensordnung des Christentums kundgibt. Der Liberalismus ist mit der sogenannten modernen Denk- und Lebensweise dermaßen verbunden oder doch verwandt, daß wir, wenn wir nicht an der Oberfläche hängen bleiben, überall auf ihn stoßen, wo sich ein Widerstand gegen Autorität und Herkommen, gegen den Glauben und gegen die Kirche kundgibt…
Ob wir die Vergangenheit, ob wir die Gegenwart prüfen, immer finden wir den Liberalismus als Sammelbecken und zugleich als das Quellbecken der jeweils herrschenden Zeitideen, als den Vater und zugleich als das Kind, als Lehrer und als gelehrigen Schüler der den Ton angebenden öffentlichen Meinung, der sogenannten modernen Ideen.
6. Die enge Wesensverwandtschaft des Liberalismus mit all diesen modernen Richtungen zeigt sich schon darin, daß sie dieselbe Proteusnatur (Anm.: Natur der Verwandlungs-Fähigkeit), um es weniger verblümt zu sagen, dieselbe Verschwommenheit und Wetterwendigkeit an den Tag legen wie er. Jedermann glaubt zu wissen, was sie bedeuten…
Begreiflich macht es dieser Zustand ebenso schwer, die Übel der Zeit zu bekämpfen, als er es ihren Förderern leicht macht, jedem Widerstand auszuweichen.
… Versuchen wir nur, uns klar zu machen, was wir meinen mit den Worten Realismus, Symbolismus, Verismus, Impressionismus, Futurismus, lauter Bezeichnungen, die wir täglich im Munde führen.
7. Es ist nicht anders mit den Irrlehren und den Irrwegen, denen wir auf dem philosophischen, dem theologischen und religiösen, und auch auf dem politischen Gebiet allenthalben begegnen. Da ist ein großer Unterschied zwischen einstens und jetzt. (Vgl. hierzu Weiß, Lutherpsychologie, 19. s. Lebens- und Gewissens-Fragen I. 101.f) Wenn ich von Nestorianismus, von Monophysitismus, von Semipelagianismus rede, weiß jeder genau, was ich meine. Da handelt es sich stets um einzelne bestimmte Sätze, die vom katholischen Dogma abweichen. Im übrigen stehen diese Häresien auf unserem Boden. Anders, sobald wir näher zur Gegenwart herabsteigen. Was ist Protestantismus? Ja, wer das zu beantworten wüßte! Tausende bedauern, daß Luther stockkatholisch geblieben sei, die aller wenigsten kümmern sich noch um die Konkordienformel oder auch um die Augsburger Konfession, die einen bekämpfen diese ihrer Behauptungen, die andern jene, und alle sind und bleiben gute Protestanten. Ebenso verhielt es sich seinerzeit mit dem Deismus, mit dem Pietismus, mit dem Rationalismus.
Und so steht es auch mit dem Liberalismus, mit dem Modernismus, dem Radikalismus, dem Humanismus, und zuletzt sogar mit dem Sozialismus…
Das System des Evolutionismus
9. Daraus ging dann ganz naturgemäß jene Vorstellung hervor, durch die wir uns alles erklären, ohne uns auf irgend eine Erklärung einzulassen, der Gedanke der Evolution.
Dieses Wort ist geeignet wie kein zweites, das was man „moderne Weltanschauung“ nennt, nicht zwar zu erklären, wohl aber in ihrem innersten Wesen einigermaßen verständlich zu machen. Es führt uns aber auch zum Verständnis jener Geistesrichtung, die dieses Wort gemünzt und in die Welt eingeführt hat und dies ist der Liberalismus.
10. Wir haben das System des Evolutionismus und seine Anwendung in der sogenannten „historisch-kritischen Methode“ an einem anderen Orte bereits gewürdigt. (Anm.: Lebens- und Gewissens-Fragen I, 483ff.) Wie die evolutionistische Naturwissenschaft das ganze Weltall in den Urnebel auflöst und dann rückwärts wieder aus Nebel und Bewegung aufbaut, so löst die evolutionistische Religionswissenschaft Kirche, Dogma, Konfession in die „christliche Idee“, die christliche Idee in die „religiöse Weltanschauung“, diese in das „Streben nach dem Idealen“ auf und beweist uns dann in rückläufiger Bewegung, wie aus diesen unbestimmten Anfängen dort der buddhistische Nihilismus, hier der Kannibalismus, jetzt der Katholizismus mit Kirche, Sakramenten und dem Glauben an die Gottheit Christi, dann der Protestantismus, der Hegelianismus, der Monismus entstand und entstehen musste.
Das geht alles nach dem Evolutionsmus so sachte und so unvermeidlich in einander über, daß jeder Unterschied von wahr und falsch verschwindet. Da ist alles berechtigt, jedes auf seinem Platz, mit einziger Ausnahme des geschichtlichen Christentums Christi, da ist alles wahr für seinen Augenblick, da ist alles relativ, da ist alles wechselnd, da ist alles vergänglich, da kann man niemand zum Glauben oder gar zu einem Bekenntnis verpflichten, da darf man niemand um eines Irrtums willen tadeln, denn Irrtum gibt es nicht in diesen Fragen, in denen es keine objektive Wahrheit gibt, sondern nur Entwicklung, Weiterbildungen, subjektive Werturteile.
Seine Grundsätze: Auflösung, Umänderung
11. Nicht umsonst pflegt der Liberalismus diese Grundsätze des Evolutionismus mit solcher Vorliebe. Denn in sie hat er sein wahres, eigenes Wesen hineingelegt. Der Evolutionismus faßt in einem Worte alles zusammen, worauf sein Streben geht und worin seine Wirksamkeit besteht: Auflösung, Umänderung und gleichwohl Unveränderlichkeit.
12. Erstens Auflösung alles dessen, was feststeht und zu Recht besteht. Von Scheu vor Gesetz und Herkommen ist der Liberalismus frei. Kaum kennt er ein Wort, das ihm mehr unangenehm ist als das Wort konservativ. Die Ehrfurcht vor dem Alter ist ihm gründlich fremd. Je älter eine Einrichtung, desto sicherer ist sie dem Untergang geweiht, wo er zur Herrschaft kommt. Die Verehrung, die das religiöse Gefühl für eine Sache hegt, ist ihm nur ein weiterer Stachel zur Auflehnung. Und wo vollends eine Schranke steht, dir ihm den freien Weg verlegt, oder eine Macht, die seinem freien Belieben einen Zügel anlegen will, da glaubt er sich verpflichtet, mit allen Mittel Raum zu schaffen. Drei Dinge sind es vor allem, an denen er nie vorübergehen kann, ohne daran zu rütteln: das starre Dogma, wie er es nennt, die Herrschaft der Tradition und die Fesseln der Autorität.
13. Zweitens die beständige Umänderung. Sind die festen Fundamente verlassen, ist der Grundsatz des Beharrens preisgegeben, dann wird der ewige Wechsel Bedürfnis wie beim Fieberkranken und beim Heimatlosen. Daher die ewig neue Schöpfung von Systemen, die aus seinem Schoße hervorgehen, von Systemen, die ihn oft zum Scheine bekämpfen und dann doch wieder mit ihm gemeinsame Sache machen. Das gilt auf politischem Gebiete vom Radikalismus und vom Sozialismus, auf dem philosophischen und dem religiösen Gebiete von all den Richtungen, die man unter dem allgemeinen Begriff Modernismus zusammenfaßt. Sie alle sind Fleisch von seinem Fleische und Bein von seinem Beine, sie bemitleiden ihn als zurückgeblieben, als halb und inkonsequent, als unaufrichtig und unzuverlässig, und sie wissen doch, daß sie seiner nicht entbehren können und daß er, eben um seiner Proteusnatur willen, mehr zu ihren Gunsten wirkt als sie selber mit ihrer rücksichtslosen Art. Sie wissen auch ganz genau, daß sie immer auf seinen Schutz rechnen dürfen, sobald sich irgend eine Macht gegen sie erhebt, und daß sie unbesorgt ihres Weges gehen können, weil sie jedes mal bei ihm eine Zuflucht, neue Hilfsmittel und Anweisung zu neuen Wegen finden werden.
Daraus ergibt sich, daß wir bei der Betrachtung aller der Erscheinungen, die aus dem Schoße des Liberalismus hervorgegangen sind, nie ihn selber aus dem Auge verlieren dürfen. Sonst verstünden wir die Natur seiner Kinder nicht, und übersähen, daß er noch immer hinter ihnen steht, ihre Arbeit unterstützend, und jeden Augenblick bereit, in die Lücke einzutreten, wo immer sie unzulänglich zeigen.
Wenn wir gesagt haben, daß der Liberalismus noch nicht tot ist, so hat daß nicht bloß den Sinn, daß er neben dem Modernismus und dem Radikalismus auch noch sein Dasein fristet, sondern es will sagen, daß er in diesen seinen Nachkommen fortlebt, daß er durch sie und mit ihnen zusammen tätig ist, und daß er immer noch mehr wirksam ist als sie. Ob sie lange leben werden, das können wir nicht sagen. Der Modernismus, das dürfen wir wohl annehmen, wird in der Form, in der er sich zuerst gezeigt hat, nicht allzu lange fortdauern. Ob indes lang oder kurz, ob er seine ursprüngliche Gestalt beibehalten oder eine neue annehmen wird, das ändert wenig an der Sachlage, solange der Vater, der Liberalismus, fortlebt. Und dieser wird noch lange leben und wird noch lange tätig sein; denn eben aus der plumpen und verwegenen Art seiner unbesonnenen Kinder lernt er immer noch mehr seine alte Kunst vervollkommnen, die Schlauheit, die Wetterwendigkeit, die Fruchtbarkeit an neuen Bildungen und Kniffen, und die Listigkeit, die ihn in den Stand setzt, seine Absichten zu verschleiern und sich selber unfaßbar zu machen.
Seine Unveränderlichkeit
14. Und drittens, trotz allem, seine Unveränderlichkeit. Soviel er auch in äußerlichen Dingen Wandlungen vorgenommen hat, so verschieden auch die Gebiete sind, auf die er sich geworfen hat, soviel auch Irrungen aus seinem weiten und unerschöpflichen Schoße hat hervorgehen lassen, er hat seine Natur nicht geändert und auch sie haben seine echte Natur beibehalten. Nein, der Liberalismus ändert sich nicht in seinem Wesen, trotz der verschiedenen Formen und Formeln, die er anwendet. Er ist und bleibt immer der gleiche Kluge und Vorsichtige, der sich um der Nachfolge Christi willen nicht der Schmach Jesu Christi aussetzt, immer der gleiche Freund der Freiheit, der sich das Joch Jesu Christi zu erleichtern, die Lehren und Vorschriften des Christentums so zurecht zu legen weiß, daß sie ihm nicht zu große Einschränkungen auferlegen, immer der gleiche Feind der Autorität, ob er sie nun gänzlich umstößt, ob er an ihr mäkelt und deutelt, ob er sie durch Hinterlist für seine Wünsche gefügsam macht, immer der gleiche Unschuldige, der nie verantwortlich für das ist, was ihm einzig die Bosheit und der Unverstand seiner Ankläger unterschieben. Er bleibt, um es mit einem einzigen Worte zu sagen, aber mit jenem Worte, das sein wahres Wesen am vollständigsten ausdrückt, immer und in allen Formen der ewig gleiche Subjektivismus.
15. …Wer im Liberalismus nur einzelne Verirrungen angreift, der wird seiner nie Herr. Der Liberalismus kann tausend Sätze preisgeben und bleibt gleichwohl derselbe… Ja, er kann sich sogar aller Tätigkeit entschlagen, ohne etwas preiszugeben. Denn das alles sind nur Mittel, durch die er seine Zwecke fördert, nur Abzugskanäle, aus denen sein wahrer Geist hervordringt, der Geist des Subjektivismus, der Autonomie, des Selbstrechts und dieser bleibt unter allen Umständen der gleiche.
Daher jene Verschwommenheit, die wir an ihm beobachten, jene Unfaßbarkeit, deren er sich selber rühmt. Bestünde er in der Leugnung einzelner bestimmter Wahrheiten oder in der Behauptung einzelner bestimmter Irrtümer, so könnte man ihn festhalten. So aber hängt er durchaus nicht an diesen, denn er besteht seinem Wesen nach in etwas, was viel tiefer liegt und viel weiter ausgreift. Gerade deshalb kann man ihn nirgends anfassen, weil er überall wirksam ist, und ihn in keinem Einzelfalle widerlegen, weil er in allem, was der Wahrheit Gefahren oder Schwierigkeiten bereitet, als die letzte Triebfeder und die eigentliche Seele zum Vorschein kommt.
Der Liberalismus vergreift sich an der Grundlehre des Christentums
16. Damit ist der Schlüssel gegeben zur Erklärung dieser rätselhaften und anscheinend unfaßbaren Geistesrichtung, die man Liberalismus nennt. Er ist der Feind alles dessen, was fest, der Widerspruch gegen alles, was faßbar ist, die Leugnung oder doch die Auflösung, wenigstens die Verwischung und die Verflüssigung aller festen Umrisse, aller festen Form und Formel, alles festen Herkommens, aller festen Regel, aller festen Fundamente.
Der Liberalismus ist jene Gestaltung des Subjektivismus, die nicht an einzelnen Angriffen auf einzelne Gesetze für das christliche Denken, Glauben und Leben hängen bleibt, sondern das Wesen des Gesetzes selbst, das Prinzip der Autorität und die daraus fließenden Grundprinzipien für Glauben, Denken und Leben nicht zwar völlig umstürzen, aber doch nach eigenem Ermessen meistern will.
17. Das Prinzip der Autorität im christlichen Sinne – denn nur von dieser reden wir hier – ist aber die Verkörperung des Übernatürlichen im Natürlichen. Deshalb richtet der Liberalismus immer seine Tätigkeit zunächst gegen diese Verbindung. Er will nicht das Übernatürliche ohne weiteres leugnen. Er will nur das Band brechen oder doch lockern, das die Natur der Übernatur dermaßen unterwirft, daß wir im Irdischen überall die Herrschaft des Überirdischen anerkennen müssen. Er betrachtet das Übernatürliche als eine Last, einen Druck, als eine Beeinträchtigung für das Natürliche. Er will dem Natürlichen mehr Luft, mehr selbständiges Recht, mehr Freiheit von den Gesetzen des Übernatürlichen verschaffen. Deshalb die strenge Scheidung zwischen den beiden Welten, die große Kluft, die er dadurch herstellt, daß er das Übernatürliche möglichst weit zurückweist, damit es ihm weniger lästig fällt, bis es ihm allmählich mehr und mehr fremd wird und schließlich aus dem Gesichtskreis entschwindet.
18. Daraus ergeben sich sehr verschiedene Abstufungen des Liberalismus bis zum vollen Radikalismus, der das Übernatürliche höchstens noch dem Namen nach gelten läßt. Auf allen Stufen aber hat der Liberalismus als das Wesentliche dies, daß er sich aus eigener Machtvollkommenheit an der Grundlehre des Christentums vergreift, an dem richtigen Verständnis der Lehre vom Verhältnis der Natur zur Übernatur, und an der sichtbaren und fühlbaren Verwirklichung dieser Lehre im Bau der katholischen Kirche. –
aus: Albert Maria Weiß O.Pr., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 79 – S. 93