Sozialer Nutzen statt Gewissensmoral

Sozialer Nutzen als Ersatz für die Gewissensmoral

Es verlohnt sich der Mühe, einen kurzen Überblick über die verschiedenen neueren Auffassungen von dem sog. Moralprinzip anzustellen, damit wir uns selber davon überzeugen, wozu der Mensch seine Zuflucht nimmt, um der Stimme Gottes zu entfliehen. Es ist kaum zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß ihm auch das unnatürlichste willkommen ist, wenn er damit dem Zeugnis seiner besseren Natur entkommen zu können glaubt. Hier möchte man fast an das Wort des Apostels denken: Sie lassen die Liebe zur Wahrheit nicht aufkommen, zur Wahrheit, die doch die Bedingung zu ihrer Rettung ist. (2. Thess. 2, 10)

Hohn der Unseligen gegen Gewissen und Gewissenhaftigkeit

Wir sehen ganz ab von jenen Unseligen, die für Gewissen und Gewissenhaftigkeit nur Beschimpfung, Hohn und Verachtung haben, von jenen Übermütigen, die mit den brutalen Worten von Einfalt, Betschwesterei, Beschränktheit, Knechtssinn, Sklavenmoral um sich werfen, von jenen Frevlern, die Gewissens-Bedenken Luxus und Gewissens-Zartheit Selbstbetrug nennen. Wenn man erwägt, mit welcher Ängstlichkeit die Armen und die Kleinen in allem Druck des Lebens ihr Gewissen erforschen, mit welchen Opfern sie es zu läutern und zu vervollkommnen suchen, und wenn man daneben den Bettelstolz derer sehen muss, die alles haben, was ein Mensch haben kann außer Reinheit des Herzens und wahrhafter Tugend, wenn man vergleicht, wie die einen sich anklagen und Buße tun, als wären sie die größten aller Sünder, indes die andern die Lauterkeit in Zweifel ziehen, die Heiligkeit verhöhnen und sich mit ihrer eigenen Schande brüsten, dann möchte einem oft das Herz brechen, dann begreift man aber auch, daß einstens ein großes, ein ernstes Gericht nötig ist.

Darwinismus und Evolutionismus

Nicht um vieles besser ist jene Richtung – es ist der Darwinismus in der Ethik, die sog. Materialistische Geschichtsauffassung -, die den Ursprung aller Sittlichkeit nicht bloß bei vorgeschichtlichen Urmenschen, sondern bei vormenschlichen, tierischen oder doch tierartigen Urwesen sucht und zu dem Zweck, gewiß sehr wenig voraussetzungslos, eine völlig sittenlose Vorzeit unseres Geschlechtes annimmt. Das gute erklärt sich ihr zufolge einfach aus physischer Anlage und psychischer Neigung, das Böse aus der natürlichen Beschaffenheit, als Instinkt, als seelische oder auch körperliche Abnormität oder als Atavismus, als Rückfall in die ursprünglichen Zustände der Raubtiere und des Herdenlebens.

Von dieser Voraussetzung geht sodann das System des Evolutionismus aus. Zweifellos, sagt man mit der Miene der Gewissheit, sind die Vorfahren der Menschen affenähnliche Tiere gewesen. Aus diesem elenden Urzustand, im Vergleich zu dem heute die letzte Hundehütte ein fürstlicher Komfort zu nennen ist, hat sich das Geschlecht allmählich empor gearbeitet. Somit ist die Moralität ein rein natürliches Produkt; ihre unterste Stufe ist die Moral bei den Tieren; dann folgt die „bestialische Moral“, dann die Moral der Wilden, dann die barbarische Moral, dann die Krämer- und Handwerker-Moral, dann die religiöse, dann die metaphysische, hierauf die utilitaristische, endlich die transformistische Moral.

Andern dünkt diese Erklärungsweise denn doch gar zu roh. Deshalb suchen sie nach andern, angeblich idealeren Begründungen für die Sittlichkeit. Ob diese edler sind und ob sie ihre Aufgabe besser erfüllen, wird sich unschwer finden.
Jedenfalls ist damit nichts erklärt, daß man sagt, alle unsere sittlichen Vorstellungen sind entweder anerzogen oder anererbt, der Gesetzgeber sei die Humanität, die Sanktion der Fortschritt, der aus der Sittigung der Menschheit hervor geht. Denn abgesehen von dem augenscheinlichen Zirkel, der hier begangen wird, erhebt sich dann erst noch die Frage, woher der Ursprung dieser Vorstellungen von Sittlichkeit, die uns hier durch die Menschheit sollen zum Gesetz gemacht worden sein. Darauf erhalten wir regelmäßig zweierlei verschiedene Antworten.

Das Utilitätsprinzip

Beide stimmen darin überein, daß sie den eigentlichen Grund nur im Nutzen suchen. Sie unterscheiden sich aber dadurch, daß die eine Richtung den persönlichen Nutzen, die andere den der Gesamtheit als den Ausgangspunkt und als die Stütze der Moralität betrachtet. Über dieses letzte Wort kann man sich freilich nicht genug verwundern. Denn um auf den Gedanken zu verfallen, man könne den Utilitarismus als Stütze der Sittlichkeit an die Stelle des Gewissens stellen, muss einer ganz und gar von der Erfahrung und von der Wirklichkeit absehen. Ist es ja doch leidige Tatsache, daß gerade um des augenblicklichen scheinbaren Vorteiles willen – denn wer denkt an den wahren, an den letzten und den ewigen! – auch die Bestgesinnten nur zu häufig ihrer Überzeugung untreu werden. Was aber die Ansicht betrifft, daß das Utilitätsprinzip zur Einführung der Moralität wenigstens den Anstoss soll gegeben haben, so genügt ein Blick auf die beiden Zweige dieses Systems, um die richtige Antwort hierauf an die Hand zu geben.

Die niedrigste und engste Art von Utilitarismus ist jedenfalls jene, die die Rücksicht auf den eigenen Nutzen als die Geburtsstätte der Sittlichkeit ausgibt. Es heißt doch fast auf das Ehr- und Schamgefühl verzichten, wenn man sich nicht scheut zu sagen, das egoistische Interesse habe die Moralität begründet. Denn, sagt Münsterberg, wenn es auch an sich noch nicht sittlich wertvolle Handlungen hervor bringe, so gebe es doch den Anstoss dazu, weil es den Menschen lehre, die dauernde Befriedigung seiner selbst von der vorüber gehenden zu unterschieden und so nach reiner Sittlichkeit zu streben. Diese letzten Worte machen wahrhaftig die Sache nicht besser, sondern sie suchen nur die empörende Voraussetzung durch eine handgreiflich falsche Einschränkung etwas erträglicher zu machen. In Wahrheit wird einer, der keine andere Richtschnur für sein Handeln hat als sein eigenes Interesse, wohl nicht leicht den augenblicklichen Vorteil, den er in Händen hat, fahren lassen, um sich einem ungewissen Nutzen für eine ungewisse Zukunft zu sichern. Der richtige Egoist handelt fast immer nach dem Grundsatz: Ein Sperling in der Hand ist mehr wert als hundert in der Luft. Und von seinem Standpunkt aus hat er nicht so unrecht.

Falsche Rücksicht auf das Gemeinwohl

Aus Scham über die sittliche und praktische Wertlosigkeit der eben geschilderten Richtung zieht die Mehrzahl der Utilitaristen vor, die Rücksicht auf das Gemeinwohl als den letzten Grund für die Entstehung der Sittlichkeit festzuhalten. Nicht alle sprechen sich über diesen Punkt mit solcher Entschiedenheit aus wie Kronenberg, der kurzweg behauptet: Alle Ethik ist durch und durch sozialen Ursprungs. Aber mit größerer Vorsicht und mit verschiedenen Einschränkungen vertreten diesen Gedanken so ziemlich alle Moral-Philosophen der neueren Zeit, die nicht geradezu als Materialisten gelten wollen, Cumberland, Shaftesbury, Hume, Comte, Stuart Mill, Paulsen. Übrigens wird sich niemand darüber verwundern, daß heute aus der Reihe dieser Sozialethiker schon auch mitunter sehr derbe Töne zum Ausdruck kommen. Wir müssten ja nicht im Zeitalter des Sozialismus leben, wenn uns Sätze erspart blieben, wie sie die Theorie vom „Hetärismus“ und vom „Mutterrecht“ mit sich bringt, die Sätze, daß der ursprüngliche zügellose Kommunismus im verkehr der Geschlechter nur aufgehört habe, weil er sich als Hindernis für die Kultur erwiesen habe, daß der Übergang zur „Paarungsehe“ und endlich zur Monogamie erfolgt sei, weil er sich als notwendig heraus gestellt habe für die „Erhaltung, für die Verbesserung und für die Verschönerung der Rasse“. Hat ja doch auch schon früher Hume, ausgehend von derselben Sprech- und Denkweise, der eines englischen Pferdezüchters, Keuschheit und Schamhaftigkeit für ein Verhalten erklärt, das zwar nicht in der ursprünglichen Anlage des Menschen begründet sei, das sich aber für die Veredlung der menschlichen Rasse als nützlich erwiesen habe. Diese und ähnliche Rohheiten, deren namentlich die große neuere Literatur über Ehe und Familie voll ist, machen es überflüssig, über den sittlichen Wert des Sozial-Utilitarismus ein Wort zu verlieren. Was aber seinen praktischen Wert betrifft, so bedarf es auch nicht langer Untersuchung, um darüber ins reine zu kommen. Ist der soziale Nutzen der einzige Grund, warum eine sittlich zu rechtfertigende Anschauungs- und Handlungsweise eingeführt wurde, so kann auch eine Änderung der öffentlichen Meinung die bisherige Sittlichkeit abschaffen und ins Gegenteil verkehren. Es ist also gar nicht zu fassen, woher wir das recht nehmen sollten, die Aussetzung und die Tötung der Kinder bei den Griechen und bei den Chinesen, die blutigen Opferfeste der Azteken und die Menschenfresserei der Aschantis zu verurteilen, da diese Untaten von der Gesamtheit eingeführt oder doch gebilligt, mithin jedenfalls als entsprechen dem Allgemeinwohl erfunden worden sind. Es ist auch auf Grund dieser Denkweise nicht abzusehen, warum Ihering nicht sollte sagen dürfen, die Lüge würd sittlich, ja geboten werden und den Platz mit der Wahrheit tauschen müssen, wenn sich heraus stellte, daß sich die Gesellschaft bei der Lüge wohler befände als bei der Wahrheit.

Sittengesetz und sittliche Verirrungen

Im Angesicht solcher sittlicher Verirrungen können wir nur mit Verwunderung fragen, woher diese Männer alle den Mut nehmen, die Lehre der Natur und der Religion von dem göttlichen Ursprung des Sittengesetzes im Gewissen als minderwertig und als unhaltbar zu verwerfen. Wenn sie im Ernst alle die Anstößigkeiten, die Gemeinheiten und Unsittlichkeiten, die sie mit ihren Ersatzmitteln für das gewissen empfehlen, als die allein menschenwürdige Moral ausgeben wollen, dann dürfen sie sich nicht darüber beschweren, falls ihnen jemand entgegnet, das erscheine fast würdig jener vormenschlichen Stufe, die Letourneau die Moral der Wilden genannt hat.

Damit soll genug sein. Kaum wird jemand nach diesem Rundgang noch das Verlangen haben, daß wir ihn durch alle die kleinen Seitenwege im endlosen Labyrinth der religionslosen modernen Ethik führen. Denn davon hat sich jeder überzeugt, daß selbst die am meisten betretenen Hauptwege zuletzt in finstere, schmutzige Winkel führen, aus denen kein Ausweg ist. Sicher, wenn einer alle Moral satt bis an den Mund werden will, so braucht er nur diesen Moralisten zu folgen, die, der Religion satt, ihm eine bessere Moral versprechen. Es geht ihnen selber nicht anders. Einer der rührigsten Ungläubigen, Mc Cabe, der Exmönch und Exchrist, äußert sich mit Verachtung über die armselige Idee von Moralität, die die christliche Welt aus der Fabel von den Stammeltern in der Bibel geschöpft habe. Wenn schon die Moral der Märtyrer, der großen Heiligen, der Helden in der christlichen Tugend diesen Geistern so armselig erscheint, wie müssen sie erst in ihrem Innern von ihrer egoistischen, von ihrer barbarischen, ihrer tierischen Moral urteilen! Wir urteilen nicht über sie und nicht über ihre Moralität. Wir sagen ihnen nur unsern Dank darum, weil sie uns durch die Enthüllung ihrer Weisheit auch von ihrer Seite gezeigt haben, wie sehr wir Gott dafür verbunden sind, daß er uns in der Gewissensmoral den Weg eröffnet hat zu einer natürlichen, einer menschlichen, einer göttlichen Moral. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 140 – S. 148

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