Gebote die Vernunft und Sittlichkeit auferlegen
Wer es aufrichtig mit Wahrheit und mit Vernunft meint, hat in der Tat mit dem Glauben nicht viel Schwierigkeit. Die Treue gegen die Stimme der Vernunft, die bereitwillige Unterwerfung unter die erkannte Wahrheit, mag sie kommen von wem immer, führt leicht zur Annahme der geoffenbarten Wahrheit. Zwar stößt das Herz des Menschen mitunter auf Schwierigkeiten. Wir sagen mit Absicht: das Herz. Die meisten findet das Herz, und nicht selten erfindet es deren. Wo das Herz keine erhebt, erfährt auch der Verstand nicht viel von ihnen. Aber meistenteils gelten diese Schwierigkeiten nicht den übernatürlichen Glaubens-Wahrheiten, sondern den natürlichen Aufgaben, die uns schon die Vernunft erschließt. Der Glaube bietet uns lauter tröstliche Verheißungen. Die Wahrheiten, die uns schwierige Pflichten und Überwindungen auferlegen, gehören fast alle der natürlichen Religion an. Solange Paulus den Glauben an Jesus Christus predigte, hatte Felix nichts einzuwenden. Als er aber von der Gerechtigkeit, von der Keuschheit und vom Gericht sprach, fing jener zu zittern an und schickte ihn von sich. (Apg. 24, 24 25)
Das ist eine Erfahrung, die ewig bleibt. Was kann es Tröstlicheres geben als den Glauben an die Menschwerdung Gottes, den Glauben, wir seien Gott so teuer, daß er statt unser seinen eigenen Sohn in den Tod gab, den Glauben an die Sündenvergebung, den Glauben an die ewige Seligkeit? Wie kann ein Mensch in Wahrheit sagen, daß er Schwierigkeiten bei Annahme dieser Lehren finde? Aber des Nächsten Gut nicht begehren, einen leicht zu erringenden Gewinn ausschlagen, weil er nur um den Preis einer Lüge zu haben ist, das Herz unerlaubter Begierde, das Auge verführerischer Schönheit verschließen, sich los reißen von einer lieb gewonnenen Gefahr, deren süße Fesseln alle Kraft und Besinnung rauben, das sind Dinge, die Opfer kosten, Kampf und oft fast das Herzblut. Die Gesetze über mein und dein genau einzuhalten, die Treue, die Wahrhaftigkeit und die Gerechtigkeit, die Nächstenliebe, die Mäßigkeit, die Geduld nie zu verletzen die Lust und die Zunge, die Rachsucht und den Ehrgeiz zu zügeln, das alles erfordert Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung. Und weil so manche diese allzu schwer finden, darum klagen sie die christliche Religion an, als bürde sie dem Menschen Lasten auf, die er nicht tragen könne. Fürwahr, da tun sie unrecht. Das sind lauter Gebote, die schon die Vernunft und die natürliche Religion und Sittlichkeit dem Menschen auferlegen. Das Christentum hat sie nur bestätigt, weil sie Forderungen der echten Natur sind, und hat zugleich durch die Gnade größere Kraft gebracht, vermöge deren sie leichter zu halten sind, aber erfunden hat es sie keineswegs. Wenn nun die Menschen gerade an ihnen den größten Anstoß nehmen, so beweist das nur, daß es für sie schwerer ist, treu der Natur und den Geboten der Vernunft zu leben als den Forderungen des Glaubens nachzukommen. Und das ist ganz begreiflich. Denn dem Glauben steht die Gnade zur Seite, die Natur muss sich selber helfen.
Zu allem Überfluss ist die Natur so schwach, so leicht zum Irrtum geneigt, so gebrechlich in Ausführung der erkannten Pflicht. Seltsam, daß der Mensch diese Wahrheit so wenig hören will. Wenn es eines Beweises bedürfte, daß er nicht ist, wie er sein soll, so läge dieser ausreichend schon hierin allein. Wie der unreife Knabe es als Beleidigung faßt, wenn ihm jemand zuruft, er solle sehen, daß er nicht irre gehe oder strauchle, so kann man den Menschen überhaupt mit nichts leichter verletzen, als wenn man ihm warnend sagt, er sei zu Irrtum und Fehltritt geneigt. Nur wenn er geirrt oder gefehlt hat, dann soll alle Welt ihn entschuldigen, denn irren sei ja menschlich, und fehlen könnten wir jeden Tag. Aber wir haben nur dann ein Recht, uns damit zu entschuldigen, wenn wir uns zuvor zu unserer Belehrung und Warnung die Wahrheit sagen ließen, daß unser Verstand sehr leicht irren kann, daß unsere Natur sehr schwach und fehlbar ist.
Wem aber steht es eher zu, uns das vorzuhalten, als eben dem christlichen Glauben, demselben, der die rechte und Fähigkeiten der Natur und Vernunft weit großmütiger anerkennt und weit ausgedehnter verteidigt als selbst die Welt, die angeblich nichts als Natur und Vernunft will gelten lassen? Der christliche Glaube hat immer die menschliche Kraft gegen alle Geringschätzung verteidigt und darum die Wahrheit fest gehalten, daß der Mensch selber im Stande ist zu erkennen, was zur Erreichung seiner wesentlichen natürlichen Bestimmung notwendig ist. Die Kirche verwirft die Lehre des Traditionalismus, welcher behauptet, die Menschheit habe den Glauben an das Dasein Gottes und an eine jenseitige Welt und an ein ewiges Leben nicht aus eigener Erkenntnis, sondern bloß aus der Erinnerung an die ursprüngliche übernatürliche Offenbarung; darum könne er einzelne diese und andere übersinnliche Wahrheiten nicht aus eigener Geisteskraft finden, sondern nur in sofern es ihm andere mitteilten, oder höchstens in einer Weise, die ihn allenfalls für seine eigene Person zur Not befriedigen, die aber keineswegs auf allgemeine Geltung Anspruch machen könne.
Der Kirchenlehre zufolge kann der Mensch dagegen Gott, seinen Schöpfer und sein letztes Ziel sowie die Pflicht, ihm zu dienen, mit Gewissheit und Klarheit aus sich selbst und durch die Kraft seiner eigenen Vernunft ohne Nachhilfe durch andere oder durch die Offenbarung erkennen. (Conc. Vatican. De fide 2, cap. 2, can. 1.) Und diese Fähigkeit hat der Mensch nicht bloß uranfänglich besessen, ehe er so tief gesunken ist, sondern sie ist ihm auch nach seinem Fall geblieben. Dies die Lehre des Christentums, die es oft genug gegen jeden versuch, die Kräfte des Menschen herab zu setzen, mit großer Strenge verteidigt hat.
Nachdem es aber so die Ehre des Menschen verfochten hat, steht es ihm auch wohl zu, ihn auf seine Schwäche hinzuweisen. So sehr es darum auf der einen Seite die eigene Kraft und Verantwortlichkeit der Vernunft hervor hebt, so entschieden lehrt es auf der andern Seite, daß der Sündenfall im Menschen großen Schaden angerichtet hat, und daß die Schuld des einzelnen fort und fort das vorhandene Verderben mehrt. Von innen verblenden, täuschen, hindern den Menschen seine eigenen Leidenschaften, von außen wird ihm alles zum Hindernis und zum Fall, Lust und Leid, Erfolg und Erliegen. Sich selber überlassen, wird er schwerlich je seine Vernunft ohne Irrung gebrauchen, geschweige den Pflichten nachleben, die ihm Vernunft und Natur auferlegen. Wenn es also etwas gibt, was er als unerläßlich erkennen, mit Sehnsucht erbitten, mit Dank annehmen muss, will er sein natürliches Ziel erreichen, dann ist es die Unterstützung durch ein Licht, das heller leuchtet als seine Vernunft, und durch eine Macht, die stärker ist als seine Natur.
So führt der rechte Gebrauch der Vernunft von selber zum Wunsch nach höherer Erleuchtung für sie, das heißt zum Verlangen nach einer übernatürlichen Offenbarung und zur Bereitwilligkeit, in dieser eine willkommene Hilfe für die menschliche Schwachheit anzuerkennen, mit andern Worten, zum Glauben.
Beides trifft jedoch nur unter der Voraussetzung zu, daß die Vernunft ihre Pflicht erfülle. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 86 -91