Der Sieg des modernen Humanismus – das Menschtum
In jedem großen Zeitabschnitt, bemerkt Buckle einmal ganz richtig, ist irgend ein bestimmter Gedanke wirksam, ein Gedanke, der allen Ereignissen ihre Richtung und Gestaltung gibt, ein Gedanke, der allen Ereignissen ihre Richtung und Gestaltung gibt, ein Gedanke, dem die Endergebnisse der ganzen Kulturbewegung innerhalb dieses Zeitraumes zugeschrieben werden müssen.
Was nun die Periode anbelangt, welche man die neuere Zeit nennt, die Periode also, in der wir leben, so brauchen wir nicht lange zu fragen, welches die Idee sei, von der sie ihren Charakter hat. Grund und Kern der modernen Anschauungen, wir wissen das alle, ist das Menschtum, die menschliche Selbstherrlichkeit.
Beginn des Humanismus im 15. Jahrhundert
Die Geschichte belehrt uns, daß der entscheidende Wendepunkt, den die moderne Zeit als ihre Geburtsstunde betrachtet, um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch den Sieg des Humanismus eingetreten ist. Davon hat denn auch jene Periode in der Kulturgeschichte ihren Namen erhalten.
Was aber vor vier Jahrhunderten nur ein schwacher Anfang war (siehe den Beitrag: Die älteren Humanisten und ihre Stellung zur Kirche), das haben wir inzwischen beharrlich, wenn nicht bis zur Grenze des Möglichen, so doch weit über die des Erträglichen hinaus entwickelt. So ist es dahin gekommen, daß der Zug, welcher der neueren Zeit ihre Gepräge aufdrückt, daß die Seele der modernen Kulturentwicklung, daß der sogenannte moderne Gedanke im wesentlichen die Vollendung des Humanismus ist, nicht bloß die Verherrlichung, sondern die Vergötterung des angeblich rein Menschlichen…
Im Mittelalter, unter der Herrschaft des Christentums, habe der Mensch so geknechtet gelebt, daß er seine eigene Macht und Würde nicht einmal geahnt habe. Erst jetzt sei er frei und mündig geworden und zum Bewusstsein seiner selbst gekommen. Wolle man darum die Neuzeit für ihre Dienste belohnen, so müsse man eine reiche Fülle von Lorbeerblättern in ihren Ehrenkranz flechten, um diesen selber jedoch ein breites Zierband winden und auf dieses mit großen Buchstaben die Worte schreiben, die den Ruhm aller übrigen Großtaten verdunkelten, die weithin glänzenden Worte: Entdeckung des Menschen.
Entdeckung des Menschen! Eine Kunde fürwahr, so seltsam und dabei so wichtig und so erfreulich, daß es ungerecht wäre, der Sache nicht näher auf den Grund zu sehen, auch wenn der Lärm, der darob angestimmt wird, nicht so sehr unsere Aufmerksamkeit heraus forderte. Wie würde Diogenes staunen, wenn er auf die Welt zurück käme, und fände, was er in seiner Umgebung, in der Griechenwelt, vergeblich suchte! Da ist es wohl der Mühe wert, daß auch wir hingehen und die Entdeckung näher besichtigen.
In Wahrheit eine neue Entdeckung, dieser moderne Mensch! Lassen wir vorerst die Frage dahin gestellt, ob er auch der wahre Mensch, und ob dieses moderne Menschtum das sei, als was man es anpreist, die reine Menschlichkeit. Für jetzt genügt es uns zu wissen, daß wir hier etwas Neues vor uns haben, wesentlich verschieden von dem, was wir Christen, und wir dürfen wohl sagen, was wir Menschen überhaupt uns bisher unter dem Ideal des Menschen vorgestellt haben.
Fünf Grundsätze des Menschtums
Untersuchen wir nun aber nach den zuverlässigsten Quellen, was wir darunter zu verstehen haben, so finden wir, daß der moderne Humanismus, wenn er richtig verstanden wird, fünf Sätze, richtiger gesagt, fünf Leugnungen in sich schließt, durch die er sich von den Überzeugungen der früheren Menschheit, ja von der ganzen Geschichte trennt und eine eigene neue Welt für sich abgrenzt.
Erster Grundsatz des Humanismus
Sein erster Grundsatz lautet: Um den wahren Menschen kennen zu lernen und um den Menschen recht auszubilden, müsse man von Gott und vom Übernatürlichen vollständig absehen. Es möge ein höchstes Wesen geben, der Mensch möge nach diesem Leben ein anderes Dasein vor sich haben: das seien Fragen, die man den Theologen und dem kirchlichen Unterricht überlassen müsse. Die moderne Volks- und Menschenerziehung habe mit Religion nichts zu schaffen, denn ihre Aufgabe sei einzig die, den Menschen für diese Welt zu bilden. Für den Weltbürger und auf dem Gebiet des Wissens, der Gesittung, der Erziehung, des öffentlichen Lebens, kurz in allem, was die Welt angehe, könne dem Glauben kein Recht, keine Geltung, keine Stimme, am allerwenigstens eine Herrschaft eingeräumt werden. Von daher die verschiedenen Formeln, die alle nur dazu dienen, den zuerst von L. Feuerbach klar und bestimmt ausgesprochenen Satz vom Verzicht auf das Jenseits und die Beschränkung auf das Diesseits in seiner ganzen Bedeutung auszudrücken. Gewiß, heißt es, wir wollen Religion, aber keine Jenseitigkeits-Religion, sondern nur eine Diesseitigkeits-Religion. Wir leugnen nicht ein Jenseits, darüber mag jeder denken, wie er kann und wie er mag. Aber auch, wenn es ein Jenseits gibt, so darf ihm der moderne Mensch keinen Einfluss auf das Diesseits einräumen, denn damit würde nur die Lösung unserer irdischen Aufgabe gestört und verwirrt und unsere ohnehin so beschränkte Kraft zersplittert. Darum Diesseitigkeits-Kultur, Diesseitigkeits-Bildung, Diesseitigkeits-Moral und sonst nichts weiter! Wir kommen schon selber aus, wie Theobald Ziegler sagt, ohne Anleihe beim Jenseits.
Daher die Lehre von Trennung zwischen Natur und Übernatur, zwischen Religion und Kultur, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Staat, Politik, Pädagogik und Kirche, eine Lehre, die einer unbedingt unterschreiben muss, wenn er heute unter die Gebildeten gerechnet werden will, eine Lehre, in der das bekannte Wort Augustins seine volle Bestätigung gefunden hat, das Wort: Zwei Reiche stehe einander gegenüber; das eine gründete die Eigenliebe, die bis zum Ausschluss Gottes geht, das andere die Liebe zu Gott.
… Als Karl Freiherr von Rokitansky, k.k. Hofrat, Universitätsprofessor und Präsident der Akademie zu Wien, am 13. Februar 1870 die Anthropologische Gesellschaft in der Kaiserstadt eröffnete, da wußte er zum Schluss seiner Rede kein besseres Mittel, um das Gefallen der versammelten Gelehrten zu erregen und sich Staunen und Beifall der gebildeten Kreise zu sichern, als das Kraftwort des Positivismus: Diis exstinctis successit humanitas – nur nach Vernichtung des Göttlichen kann die Menschheit gedeihen.
Zweiter Grundsatz des Humanismus
Ist aber Gott einmal grundsätzlich aus dem Gedankenkreis des Menschen ausgeschlossen, dann kann es nicht anders kommen, als daß sich der Mensch selbst an dessen Stelle setzt. Wenn er keinen Herrn über sich kennt, dann ist er eben sein eigener Herr. Und wenn es keine höhere Kraft gibt, in der er seine Taten vollbringt, und keine höhere Richtschnur, nach der er sie einrichtet, dann wird jeder neue Fortschritt ein neuer Beweis für seine eigene höchste Macht, für seine Göttlichkeit.
Niemand braucht sich deshalb darüber zu wundern, daß der Humanismus immer auf die Lehre von der unbeschränkten Selbstherrlichkeit, auf die Vergötterung des Menschen hinausläuft. Dieser Gedanke ist einer von jenen, auf welche unser Geschlecht am meisten stolz ist, und ihn meint man vor allem, wenn es heißt, es sei unserer Zeit vorbehalten gewesen, den Menschen zu entdecken. Es gebe heißt es, nur einen Gott, den Menschengeist, und bloß eine Entfaltung Gottes die Kultur und Geschichte der Menschheit. Der Mensch, der seine eigene Kraft und Würde so weit vergesse, daß er an eine Vorsehung glaube und Gott um Hilfe bitte oder ihm für eine Gnade danke, stehe auf dem Standpunkt des Wilden oder des Halbzivilisierten. Unsere Religion müsse sich in Zukunft auf den Satz beschränken: Der Gott des Menschen ist das Menschtum. Dies ist die zweite Lehre des Humanismus.
Nicht alle zwar sprechen sich über diesen entscheidenden Punkt mit gleicher Bestimmtheit aus, viele sind vielleicht bei sich selbst nicht vollständig klar über ihn. Dennoch können wir nicht umhin, ihn als das Grunddogma des modernen Geistes zu bezeichnen, wenn man anders seine Lieblingsworte ernst und nach ihrer ganzen Tragweite nimmt. Diesen Sinn hat die Lehre vom Ich, die den Ausgangs- und den Schlusspunkt für die neuere Metaphysik, ja selbst für die Denklehre bildet; diesen Sinn die Lehre von der Autonomie, das Fundament der modernen Ethik. Von allen Lehrkanzeln ertönt das Wort, der Mensch müsse sein eigener Gesetzgeber, sei eigenes Gesetz, sein eigener Richter und Entscheider sein. Es sei, sagt Kant und mit ihm so ziemlich die ganze Philosophie der Gegenwart, geradezu unsittlich, wenn der Mensch ein anderes Gebot erfüllen wollte als das, welches er sich selbst gegeben habe, und wäre jenes Gebot auch der ausgesprochene Wille Gottes.
Dritter Grundsatz des Humanismus
Eine solche Menschenvergötterung kann natürlich das Dogma von einem im Menschenwesen steckenden Wurm, von einem eingeborenen Verderbnis der natürlichen Güte, mit andern Worten von der Erbsünde und dem Erbverderben nicht gelten lassen.
Die Leugnung dieses Lehrsatzes bildet denn auch den dritten, und zwar den entscheidenden Lehrsatz des Humanismus. Um diesen Punkt dreht sich vor allem der Kampf für oder gegen den modernen Geist. Deshalb kann man den Humanismus geradezu für gleich bedeutend mit Widerspruch gegen die Lehre vom Fall der Menschheit erklären. Vielleicht gibt es manche unter seinen Vertretern, welche an der Menschen-Vergötterung und an der Verdrängung Gottes aus dem irdischen Leben mehr oder minder Anstoß nehmen. Aber in Bezug auf diese Frage sind alle überzeugten Verfechter der modernen Ideen so einig und fest, daß man den, welcher den Mut hat, seinen Glauben an die Erbsünde zu bekennen, nicht mehr unter die Anhänger der Menschtumslehre rechnen kann.
In diesem Sinn redet Rousseau von der guten, Schiller von der schönen, Goethe und sein Heergefolge von der gesunden Natur. Diesen Sinn hat, wenn der Naturalismus so viel von der heiligen, der göttlichen, wenn die Ästhetik der rücksichtslosen Sinnlichkeit von der naiven, der keuschen Natur spricht, die alles rein finde, weil sie selber rein sei…
Den letzten und wahren Grund für diese Leugnung drückt Stirner in den Worten voll unbändigen Hochmuts aus: Hat die Religion den Satz aufgestellt, wir seien allzumal Sünder, so stelle ich ihm den anderen gegenüber: Wir sind allzumal vollkommen. Zeigt mir noch einen Sünder in der Welt, wenn es keiner mehr einem höheren recht zu machen braucht! Sollte ich fromm sein, so müsste ich’s freilich Gott recht machen. Soll ich aber einfach bloß menschlich handeln, so muss ich’s dem Wesen des Menschen, der Idee der Menschheit recht machen.
Nicht minder verwunderlich und ärgerlich ist jenes empörende Pochen auf die eigene Rechtschaffenheit und Tugend, mit dem sich das Evangelium von der freien Moral um so lieber groß und breit macht, je unbarmherziger es mit den Fehlern des armen Christenvolkes ins Gericht geht…
Man fragt sich oft, ob man es mit Menschen aus Staub und Lehm zu tun habe, wenn man diese Posaunen ihrer eigenen Heiligkeit hört. Sie folgen nur ihrer Natur, und darum ist alles gut. Sie wissen nichts von Versuchung, nichts von dem Stachel der Sinnlichkeit, nichts von der Schwäche des Fleisches und des Willens, nichts von der Empfänglichkeit für die Sünde. Sie nehmen keinen Anstand, sich gleich einem Pfau vor Gott zu spreizen und sich selbst aus Heilige zu beräuchern…
Wir wollen gerne glauben, daß solche Torheit mehr der verkehrten Heiligsprechung des Menschenwesens als den Menschen selber, die sie aussprechen, zuzuschreiben sei, und daß diese besser seien als die Lehre, durch die sie irregeführt werden, die den menschen vergötternde und entwürdigende Ketzerei des Humanismus.
Vierter Grundsatz des Humanismus
Stehen die Dinge aber so, dann muss von selber einleuchten, daß ein Humanist, der weiß, was seine Grundsätze bedeuten, Christus nicht als Erlöser der Welt annehmen kann. Damit haben wir den vierten Satz bezeichnet, der wesentlich zur Irrlehre des modernen Humanismus gehört. Kolb sagt richtig: Mit dem Sündenfall und mit der Erbsünde wird auch die Erlösung und das Auftreten eines Erlösers für den Humanisten hinfällig. Die beiden Worte von der Erlösungs-Bedürftigkeit und von der Unfähigkeit des Menschen, sich selbst gerecht zu machen, klingen deshalb in den Ohren dieser Humanisten so verletzend, wie die vom Gericht und von einer ewigen Belohnung oder Bestrafung.
Darum sucht denn auch jeder, der zur Fahne der sogenannten Geistesfreiheit geschworen hat, jeder Erinnerung an den Herrn und an das Geheimnis seines Lebens und Sterbens nach Kräften auszuweichen. Dieses Zeichen der Erlösung, sagt Rosegger, ein ungelöstes Rätsel, lastet wie ein Alp auf dem Menschengeschlecht. Auch Goethe, der sonst so freie Geist, fühlt sich höchlich beunruhigt und verliert die gerühmte olympische Ruhe, wenn ihm nur der Gedanke an Christus nahe gebracht wird. (siehe den Beitrag: Was deutsche Klassiker über Religion sagen) Die Geschichte des guten Jesus, schreibt er an die Stein, habe ich nun satt. Aller Menschen Geburt und Grab, Heil und Seligkeit an seinen Christus knüpfen, das wird abgeschmackt und unerträglich. Begreiflich, daß er sich nach seinen eigenen Worten in einen wahrhaft julianischen Hass gegen das Werk Christi hinein redete und diesem in jenem berüchtigten, viel erörterten Epigramm Ausdruck gab, da er sagt, er könne vieles ertragen und dulde mit ruhigem Mut die meisten beschwerlichen Dinge; was ihn aber zuwider sei wie Gift und Schlange, das seien
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und – †
Kein Wunder dann, daß die Schmähungen auf den, in welchem allein der Menschheit Heil geboten ist, immer mehr überhand nehmen, immer roher und übermütiger auftreten, ja fast als Erfordernis zum guten Ton und als Kennzeichen eines vornehmen Geistes betrachtet werden…
Fünfter Grundsatz des Humanismus
Selbstverständlich verträgt sich mit alledem kein Glaube an eine Kirche, an Heilsvermittlung und an Gnadenmittel mehr. Der Mensch des Humanismus ist sein eigener Herr. Er schafft sich ein eigenes Gesetz, er macht sich selbst seine Sitte. Wenn er sündigt, so übt er nur sein eigenes Recht, und wenn er sich von seiner Sünde wieder frei machen will, so ist er sich dazu selbst genug. Aber das läßt er sich nicht nachsagen, daß er göttlicher Hilfe oder gar menschlicher Vermittlung bedürfe.
Das ist, wie Th. Schulze gesteht, einer der hauptsächlichsten Gründe, warum der moderne Geist den Buddhismus weit höher schätzt als das Christentum. Der Buddhismus, behauptet er, sei eben eine Religion für ernste Männer, nicht für Kinder. Denn der Buddhismus lehre die Selbsterlösung des Menschen, während das Christentum diese leugne; im Buddhismus werde alles durch eigenes Verdienst gewonnen, im Christentum nur durch das Verdienst Christi…
Man braucht sich deshalb auch nicht zu verwundern, daß unsere gesamte Literatur so mit Ausfällen, Verhöhnungen und Beschimpfungen gegen alle Heilseinrichtungen des Herrn erfüllt ist, wie wir das jeden Tag erfahren…
Humanismus bedeutet: Konzentration auf das Diesseits
Das also ist Humanismus. Nichts von Schöpfung, nichts vom Schöpfer, kein Erlöser, keine Erlösung, keine Vorsehung, keine Ewigkeit, kein Ziel über das Irdische hinaus. Mit kurzen Worten faßt die klassische Dogmatik der Loge alle seine Bestrebungen in den Satz zusammen: Der Glaube hat sich verloren, die vom Gebet gehoffte Wirkung versiegt, die ehemals außersinnlich gedachte Welt verduftet, die Religion verliert ihren geheimnisvollen Inhalt und schwindet mehr und mehr dahin. An der Erde haftet unser Leben, aus ihr quellen unsere Freuden, ihr Leben zeigt uns unsere Bestimmung, deshalb ist sie unsere Welt. Noch klarer drückt Paul Heyse das mit den Worten aus: Laß uns einander helfen! Siehst du, uns hilft sonst niemand. Wir haben keine ewigen Höllenstrafen, keinen rächenden Gott, keinen erlösenden Mittler. Aber wir kennen das Gute. Wir haben keine Ewigkeit. Hier auf Erden wollen wir brav und tapfer und gut sein, und wir können es…
Den faßlichsten und bündigsten Ausdruck dafür aber, das lange nur dunkel geahnte, das lange vergeblich gesuchte Stichwort des modernen Zeitgeistes (…) hat L. Feuerbach, der Spinoza des 19. Jahrhunderts, gefunden, als er die Losung ausgab: Konzentration aufs Diesseits. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. II Humanität und Humanismus, 1908, S. 1 – S. 18