Der Kampf und Religion und Wahrheit
1. Die Gelehrten streiten über die Frage, ob sich die Geschichte wiederhole. Die Geschichte selbst geht inzwischen ihren Gang und gibt Antwort darauf durch ihre Ergebnisse. Und diese bestätigen immer und überall den selbstverständlichen Satz, daß unter gleichen Voraussetzungen die gleichen Ergebnisse eintreten müssen.
Da die Voraussetzungen nie völlig die gleichen sind, und da die Menschen, die aus ihnen die Anwendungen und die Folgerungen ziehen, kraft ihrer persönlichen Freiheit stets einen gewissen, wenn schon, ihrer Schwäche entsprechend, beschränkten Spielraum zur Bewegung haben, so weisen die sich wiederholenden Vorgänge bei aller Ähnlichkeit im Wesentlichen so viele Verschiedenheiten in untergeordneten Dingen auf, daß sich das Auge eines ungeübten oder oberflächlichen Beschauers leicht täuschen kann.
Man darf aber nur den Blick von den zufälligen Äußerlichkeiten auf das Innerliche und Wesentliche der Erscheinungen wenden, um sich zu überzeugen, daß der Weise des Alten Bundes die Wahrheit gesagt hat, wenn er behauptet, es gebe nichts Neues unter der Sonne (Prd. 1, 10).
2. In ganz auffälliger Weise zeigt sich dies, wenn wir die Geschichte der religiösen Bewegungen durch den Gang der Jahrhunderte verfolgen. So verwirrend auch die Verschiedenheiten im einzelnen und im kleinen sind, so ist doch der Grundzug und der Verlauf im allgemeinen augenscheinlich der gleiche. Es bedarf nur weniger Worte, um diese Tatsache klar zu machen.
3. Wir stehen heute einer doppelten Reihe von Erscheinungen auf religiösem Gebiet gegenüber. Die einen sehen vollständig ab vom Christentum wie von jeder Form einer positiven und überlieferten Religion und suchen einen Ersatz dafür in irgend einer neuen sog. Weltanschauung zu finden. Die andern lassen ja wohl wenigstens den Namen von Christentum und Kirche noch gelten, nehmen aber daran, unter dem Vorwand, einen Ausgleich mit den Zeitideen zu suchen und so dem angeblich verlorenen Christentum die Möglichkeit des Weiterlebens zu sichern, solche Veränderungen vor, daß es oft kaum mehr zu erkennen ist, und daß unvorsichtigen Geistern dadurch größere Gefahr bereitet wird als durch vollständige Leugnung.
Diese beiden Richtungen treten aber heute durchaus nicht zum ersten Mal auf.
4. Die Lage der Welt zu Ende des 19. Jahrhunderts gleicht vielmehr der zu Ende des 15. und wiederum der Ende des 18. Jahrhunderts.
Am Ausgang des Mittelalters hatten die raschen, bisher unerhörten Fortschritte auf den Gebieten der äußerlichen Kultur, die Entdeckung des Altertums, die Entdeckung der humanistischen Kunst, die Entdeckung des Himmels und der Erde, die Menschheit mit demselben angemessenen Selbstgefühl, um nicht zu sagen mit der gleichen Selbstvergötterung erfüllt wie heute der Triumph über die noch nie dagewesene Erkenntnis und Beherrschung der Naturkräfte. Die Folge davon zeigte sich auf dem Gebiet der innerlichsten Kultur durch die Emanzipation von der alten Religion und durch die Anwendung der Autonomie auf die Ausgestaltung des religiösen Lebens nach den Eingebungen des eigenen Geistes und Herzens. Selten hat der Unglaube sein Haupt so frech erhoben als in jenen Tagen des Humanismus.
Indes hatte damals das Christentum immer noch so viel Gewalt über die Mehrzahl der Menschen, daß man nicht leicht daran denken konnte, dieses selbst vollständig zu verdrängen und durch völlig neu erfundene Religionen zu ersetzen. Deshalb mußten sich die Neuerer damit begnügen, ihren beliebigen Neubildungen wenigstens dem Wortlaut nach die christlichen Erinnerungen zu Grunde zu legen, also, theologisch gesprochen, sich auf Sektenbildungen beschränken.
Allmählich aber machten sich die Wirkungen des Deismus und des Spinozismus bis zu dem Grade geltend, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Berufung auf das Christentum überflüssig wurde und die Worte „Kult eines höchsten Wesens“ und „Bürgertugend“ vollauf genügten, um den religiösen Ansprüchen jener Zeit zu genügen.
Das war freilich nur ein Anfang. Inzwischen haben der Rationalismus, die Kantische und Hegelsche Abstraktion und endlich die sog. Religionswissenschaft ihre Arbeit bis zudem Grade geleistet, daß unsere Zeit glauben darf, mit dem Christentum sei in einer Gesellschaft von Gebildeten kaum noch ferner zu rechnen.
Da sie nun aber das unvertilgbare religiöse Bedürfnis nicht völlig los werden kann, da sich dieses vielmehr um so mehr regt, je weniger die Versenkung in das Äußerliche die Geister zu befriedigen vermag, so sucht sie diesen Drang nach etwas Höherem mit völlig willkürlichen und neuen, mit selbstherrlichen Schöpfungen zu befriedigen, die kaum noch eine Erinnerung an das preisgegebene Christentum verraten, sondern eher Verdichtungen oder Niederschläge jenes gasartigen Begriffes von der „Religion an sich“ sind, aus dem die moderne Wissenschaft alle einzelnen Religionen auf dem Weg der Evolution ebenso entstehen läßt wie die Welten aus dem Gasball von Laplace und von Kant.
5. Gehen wir zurück auf die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, so stoßen wir abermals auf dieselben Erscheinungen. Dort ist übrigens die Zeitenfolge gerade umgekehrt. Das Unchristentum in seiner ältesten und ersten Form, der Gnostizismus, erinnert an den neuesten religiösen Radikalismus nicht bloß durch seine unheimliche Fruchtbarkeit an Systemen, sondern auch durch sein völliges Absehen vom positiven Christentum und durch die maßlose Religionsmengerei, die es aus dem geistigen Chaos der sinkenden römischen Kultur übernommen hat. Die späteren Häresien des christlichen Orients dagegen mahnen uns an die üppigen Triebe des Sektenwesens im 16. Jahrhundert, in manchen Erscheinungen freilich auch an das moderne Reformchristentum.
6. Im jüdischen Altertum war natürlich kein Boden für die Stiftung neuer Phantasie-Religionen. Der alte Jude hatte nur so viel geistige Selbständigkeit, daß er imstande war, die mißliebig gewordene göttliche Offenbarung durch ein Gemisch mit andern, den Gelüsten des eigenen unbotmäßigen Herzens mehr zusagenden Religionen zeitgemäßer und weltläufiger zu machen. Daran arbeitete er aber mit der ganzen Zähigkeit seines Charakters und mit jener Unbelehrbarkeit, für die der Geist Gottes nur das Bild vom harten Nacken hat. Der Herr hatte seinem Volk vorher gesagt, daß er es nur dann über alle Völker auszeichnen wolle, wenn es seine Gebote halte aus ganzem Herzen, daß es aber „inferior“ (Dt. 28, 43), allen unterlegen sein werde, wenn es ihm nicht treu bleibe. Die Ereignisse bewiesen hundertmal, daß Gott sein Wort gehalten hat, indem er sie den Philistern und den Ägyptern und den Babyloniern und den Griechen zur Beute überließ. Und hundertmal sagten die Juden: Wir sind inferior, die Heiden sind uns übermächtig geworden, ein deutlicher Beweis dafür, daß ihre Götter stärker sind als unser Gott. Und jedesmal gingen sie hin und nahmen den Stoff zu einer neuen, zeit- und kulturgemäßeren Religion von den umliegenden Völkern, deren macht und Kultur gegenüber sie sich gerade unterlegen fühlten, von den Ägyptern, den Phöniziern, den Kananitern, den Assyriern, den Babyloniern, den Griechen.
So ist das Reformjudentum das Urbild der Religionsmengerei geworden, das Vorbild aller späteren Sektenbildungen und aller Anläufe zum Reformchristentum.
Darin unterscheidet es sich grundwesentlich vom modernen Reformjudentum. Dieses ist nichts anderes denn der entschlossene Versuch, jeden Rest einer positiven Religion durch die Religion des Nihilismus, den Spinozismus, und durch eine weitmaschige Aretalogie (Anm.: Aufzählung und Lobpreisung der Taten und Eigenschaften einer Gottheit) zu verdrängen. Dadurch ist es zum Lehrmeister für all die modernen Gegenreligionen geworden, deren Geschichte wir im folgenden zu betrachten haben.
7. Das erste und älteste Muster für diese finden wir aber, wenn wir hinauf steigen bis zum Ursprung des Heidentums. Hier haben wir wohl die Parallele, die am besten zur Erklärung unserer Zeit dient, zugleich aber auch den Schlüssel zur Erklärung jener dunklen Zeit. All die wunderlichen, mit soviel Aufwand von Gelehrsamkeit und Phantasie ausgedachten Ansichten über die Entstehung des Polytheismus fallen in isch selbst zusammen, wenn wir die merkwürdigen Vorgänge auf dem Gebiet der Religion betrachten, die sich alle Tage um uns her erneuern.
Seit einer Reihe von Jahren bilden sich vor unsern Augen hunderte von neuen Religionen, die meisten natürlich Eintagsgeschöpfe, oft auch nur für einen Bekenner, den Erfinder, berechnet, „Kathenotheismen“ in leibhaftiger Gestalt.
So muss es auch gewesen sein in jenen Tagen der Urzeit, wo sich jeder seinen Gott, seinen Kult, seine Mythen bildete, wo jeder seine Theraphim eifersüchtig hütete, damit ihm nicht sein Nachbar ihren Schutz und die Ehre, sie erfunden zu haben, stahl, bis endlich die Erfahrung von ihrer wie von der eigenen Ohnmacht die Selbstherren zwang, sich zu Gemeinwesen zusammen zu tun und die Ausgeburten ihrer Phantasie ebenfalls in das Gemeingut der Nationalreligionen und Mythologien zusammen zu legen…
8. Immer und überall, durch alle Jahrtausende herab das gleiche Spiel mit der von Gott gegebenen Religion: entweder völliger Umsturz oder Umgestaltung nach dem eigenen Geschmack der Menschen. Erst die Titanen, die Gott vom Himmel stürzen und sich dort heimisch einrichten wollen, dann das Zwergengeschlecht, das, zu schwach, vielleicht auch nicht mutig genug, um alles über und über zu werfen, stülpt und stoppelt, was es findet, Göttliches und Menschliches, zeitliches und Ewiges, Wahres und Falsches, daß ein Gemengsel daraus entsteht, würdig der halben Menschen, die es zusammen geknetet haben, und würdig ihrer seltsamen Verblendung, in der sie ihm die stolzen Namen „zeitgemäße“ und „Reformreligion“ geben. Natürlich kann die Welt daran nicht lange Gefallen haben, und dann folgt ein neuer Umsturzversuch, noch radikaler als der erste, um wo möglich für immer jede Religion, ja selbst jede Reformreligion unmöglich zu machen.
11. Wir leben dahin inmitten einer gärenden Zeit wie die Götzen Ägyptens: wir haben Augen und sehen nicht, wir haben Ohren und hören nicht, zufrieden, wenn wir nur zu leben haben und nachts gut schlafen können. Und wenn wir je einmal etwas wahrnehmen von den betrübenden Dingen, die hier zur Sprache kommen, so verlieren wir entweder den Mut, oder wir rufen, um es nicht mit den Feinden Gottes zu verderben: Friede, Friede, wo kein Friede ist (Ir 6, 14).
Es ist schwer zu sagen, welche in dieser Zeitlage die größere Verantwortung trifft, die, welche sich um die religiöse Gefahr nicht kümmern, oder die, welche die Welt rechtfertigen und meinen, wir übertrieben, wenn wir von religiöser Gefahr sprechen. – aus: Albert Maria Weiß O.P., Die Religiöse Gefahr, 1904, S. 1-10