Das Gewissen tritt als Zeuge und Richter auf
Wenn die neuere Philosophie das Gewissen erst nach der Tat erwachen lassen will, so leugnet sie also gerade den hauptsächlichsten und erhabensten Teil seiner Wirksamkeit, dem zufolge es uns schon vor jeder Handlung im Namen, und mit der Kraft Gottes bekleidet gesetzgeberisch nahe tritt. Sie verkennt aber auch die zweite oder die begleitende Tätigkeit. Nachdem uns dieses nämlich vor der Tat den Willen Gottes vorgehalten hat, stellt es sich neben uns, um als Zeuge zu beobachten, wie wir der Pflicht gerecht werden, den erkannten Willen Gottes zu vollziehen. Auch diese Tätigkeit übt das gewissen nicht in eigenem Belieben, sondern ebenfalls im Namen und im Auftrag Gottes selber. Es läßt sich nicht zum Mitschuldigen machen. Es gibt sich nicht einmal zum stummen Zuschauer her. Es tritt als Zeuge auf und gibt mit unparteiischer Wahrheitsliebe Zeugnis, selbst wenn es von niemand dazu angerufen wird, ja auch wenn wir uns Mühe geben, seine Stimme zum Schweigen zu bringen.
Beweis genug, daß es auch diese Tätigkeit nicht von uns hat, sondern von einer höheren, unbestechlichen, der Lüge unzugänglichen Autorität, von Gott selber. Daher steht es auch durchaus nicht in unserer Macht, uns dieses Zeugen zu entschlagen. Wir können sein Zeugnis für uns günstig machen. Dazu haben wir die Fähigkeit, ja die Pflicht. Und es wird hoffentlich niemand sein, der nicht aus Erfahrung wüßte, welchen Trost und welche Zuversicht das Zeugnis des guten Gewissens leiht. Aber vermeiden oder ertöten läßt sich dieser Zeuge nie. Man kann vielleicht seine Stimme für einige Zeit einschläfern oder übertäuben. Dann erhebt sie sich oft plötzlich später um so lauter, und dann hilft keine Entschuldigung und kein Gegengrund.
Vor dem menschlichen Richter kann man einen Beweis erbringen, daß man die Tat nicht begangen habe, daß man unterdes anderswo gewesen sei. Vor der eigenen Einbildung kann man sich, wenigstens mit dem Mund, schön machen und sagen: Ich habe es nicht gewußt; so habe ich es nicht gemeint. Aber ein Gebiet bleibt jeder Lüge und jeder Ausrede unzugänglich, das Innerste unserer Seele, das Gewissen. Dieses nimmt keine Entschuldigung an, dieses läßt keinen Gegenbeweis gelten. Mit unbestechlicher Wahrheitsliebe tritt es unsern Worten gegenüber und sagt unserem Geist: Ich war selber dabei. So hast du getan. Das hast du beabsichtigt. Du wußtest recht wohl, was di gesollt und was du gewollt. Darum laß das Leugnen und das Beschönigen und bekenne dich ehrlich zu deiner Absicht und Tat. Und so wird es auch vor dem Gericht Gottes Zeugnis über uns geben, uns anklagend oder uns verteidigend mit unbestechlicher Wahrheitsliebe. (Röm. 2, 15) Mag uns alle Welt loben, es wird uns anklagen und nicht entschuldigen, wenn wir es nicht verdienen. Sollte uns alles verdammen und verwünschen, es wird uns selbst vor Gott verteidigen und retten, wenn wir uns dessen würdig gemacht haben durch Treue gegen sein Gesetz. Der Urteilsspruch aber wird, das ist unser größter Trost und die ernsteste Mahnung für uns, einzig nach der Aussage des Zeugen ausfallen, den wir in unserem Gewissen mit uns herum tragen.
Noch mehr. Auch das Urteil, sei es das der Anerkennung, sei es das der Verwerfung, muss das gewissen über sich selber sprechen. Das ist die dritte, die nachfolgende Tätigkeit des Gewissens, die des Richters. Gott richtet niemand. (Joh. 3, 17; 5, 22; 8, 15; 12, 47) Aber er bestätigt und verbessert, wenn nötig, das Urteil, welches das Gewissen über uns selber fällt. Aus deinem eigenen Mund richte ich dich (Lk. 119, 22), lautet das einzige Wort des ewigen Richters.
Darum ist das Gericht so kurz. Zeugenverhör ist unnötig, denn der Mensch bringt an seinem Gewissen den besten Zeugen, den Augenzeugen, mit. Untersuchung und Urteil ist erspart, denn das Urteil spricht ebenfalls das Gewissen. Und Berufung ist wiederum unmöglich, denn von seinem eigenen Urteil kann keiner mehr appellieren.
Man darf deshalb sagen, daß wir unser Gewissen mehr zu fürchten haben als Gott. Wem sein Gewissen ein gnädiges Urteil spricht, der braucht Gott nicht zu fürchten. Allerdings sagt selbst der Apostel von sich: Ich bin mir zwar nichts bewußt, aber darum noch nicht berechtigt, denn der, welcher dem Gericht vorsteht, ist der Herr. (1. Kor. 4, 4) Der Mensch ist eben in der Verblendung seiner Eigenliebe leicht geneigt, sich zu entschuldigen, so daß er in diesemLeben nie mit voller Sicherheit weiß, ob er der Liebe oder des Hasses würdig ist. (Prd. 9, 1) Aber diese Selbsttäuschung fällt, wenn er einmal vor Gott erscheint. Dort wird er über sich urteilen, wie Gott ihn beurteilt. (1. Kor. 13, 12) Und wenn er sich jetzt mit Ernst vor Gottes Gericht versetzt und in seinem Gewissen das Zeugnis findet, daß er sich nicht zu verwerfen braucht, dann hat er auch von Gott kein Verwerfungsurteil zu befürchten. Darum lesen wir das tröstliche Wort geschrieben: Wenn unser Gewissen uns nicht verdammt, so dürfen wir Zuversicht gegen Gott haben. (1. Joh. 3, 21) Verurteilt uns jedoch schon unser eigenes Gewissen, so mögen wir wohl bedenken, wieviel Grund wir haben, uns vor Gott zu fürchten, dessen Macht und Wissen unser Gewissen so unendlich übersteigt. (1. Joh. 3, 10)
Das Gewissen bietet uns Grund zur Furcht
Aber liegt in dieser Tätigkeit des Gewissens nicht eine drückende Last, ja etwas Entwürdigendes? Muss da den Menschen nicht beständig Furcht erfüllen? Und ist Furcht nicht etwas Sklavisches und Erniedrigendes?
Sicher bietet uns das Gewissen vielen Grund zur Furcht. Aber gerade darum ist es ein so gründlicher und so förderlicher Erzieher. Es ist nämlich ein großer Irrtum, zu glauben, daß jede Furcht erniedrige. Erniedrigend ist bloß eine Furcht, die der Sklaven, die nicht das Böse fürchten, sondern nur, daß sie entdeckt und nach Verdienst gezüchtigt werden könnten. Diese Art von Furcht ist eins mit der Liebe zur Sünde, und diese verbrecherische Liebe wird durch die feige Angst vor der Gerechtigkeit ihre eigene fruchtlose Strafe. Eine solche Furcht kann freilich weder adeln noch bessern.
Aber es gibt auch eine andere Furcht, jene Furcht, die der Anfang der Weisheit ist (ps. 110, 10; Spr. 1, 7; 9, 10), dir Furcht der Edlen und der Freien. Diese keusche, heilige Furcht ist nichts als ein heldenmütiger Grad der Liebe zur Gerechtigkeit. Sie bezieht sich nicht auf die Strafe, sondern nur auf die Sünde. Gerade weil sie die Sünde flieht, umarmt sie die Strafe. Die, welche sie besitzen, sind es, die selber am meisten die Reinigung ihres Gewissens durch die gerechte Strafe wünschen, wenn sie es in Übereilung befleckt haben. Ja sie warten nicht einmal die Züchtigung ab, sondern sie kommen der verletzten Gerechtigkeit durch Buße zu Hilfe. Und das ist die Furcht, die das Christentum predigt, gewiß eine starkmütige, eine großherzige Liebe zum Guten. Eine solche Furcht entmutigt aber nicht, sondern macht bescheiden und wachsam und ernster im Streben nach der Tugend.
Darum ist es eine Schmach für den Weltgeist, daß er die Furcht Gottes so sehr verabscheut und gering schätzt, ein Zeichen, daß er keine andere Furcht kennt als die der Sklaven. Auch hierin beschämen ihn die Heiden, die gerade von der zarten Gewissenhaftigkeit alles Gute erwarten, … –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 128 – S. 132