Der Reformkatholizismus des 18. Jahrhunderts
7. Der Reformkatholizismus ist, wie bereits angedeutet, eine alte Erscheinung und umfaßt sehr verschiedene Richtungen, von denen die einen hart an Häresie streifen, oft auch im Verlauf der Entwicklung mit dem offenen Abfall endigen, während die andern teils im guten Willen der Urheber, teils in der parvitas materiae (=Kleinheit der Materie) ein gewisse Entschuldigung, wenn auch nie eine Rechtfertigung finden. Zu ihm stehen die Gallikaner der mittleren Observanz, wie Peter d`Ailly und Freury, und die der strengen Observanz, wie Edmund Richter und Launoy, der Heiligentöter; zu ihm die Väter des Jansenismus, die geschworenen Feinde der Scholastik, Bajus, Jansenius, Saint-Cyran, Pascal, Arnauld; zu ihm die Jansenisten der jüngeren Schule, die wundersüchtigen Wunderleugner, die Appellanten, die frommen Porto-Royalisten. Zu ihm die listigen, gelehrten Kirchenzerstörer Sarpi, Courrayer, Gerberon; zu ihm die liberalen Kritiker und Bibelausleger Dupin, Baillet, Duguet, Isenbiehl, Dereser Jahn, Geddes, Berruyer und Richard Simon; zu ihm Hermes und Günther und Nuytz wie Frohschammer und Reichlin-Meldegg und Passaglia, um nur diese wenigen Namen zu nennen.
8. Ihn vollständig zu schildern, erforderte ein umfangreiches Werk. Wir wollen hier nur seine hauptsächlichsten Lehren darstellen und dann zeigen, bis zu welchem Grade die Auflösung nicht bloß der kirchlichen Lehre, sondern auch des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Disziplin selbst in jenen Kreisen schreiten kann, die sich schmeicheln, unbeschadet der Zugehörigkeit zur Kirche, ja wohl gar noch zum wahren Besten der Kirche von der Tradition innerhalb der Kirche abweichen und mit den Zeitmeinungen und mit deren Vertretern gehen zu können.
Wir teilen diese Darstellung in zwei Abschnitte, indem wir die genannte Richtung zuerst in ihrer älteren, und dann in ihrer neueren Form betrachten.
9. Den Reformkatholizismus der älteren Ordnung müssen wir etwas eingehender untersuchen.
In dem weiten Schoß dieser Bewegung haben sich aber auch zuletzt Richtungen zusammen gefunden, die ehemals einander sehr fern waren, ja selbst feindlich gegenüber standen. Jedoch der gemeinsame Widerstand gegen die Kirche, dann der gemeinsame Haß gegen die kirchliche Tradition und gegen deren treue Zeugin, die kirchliche Theologie, die Scholastik, endlich der gemeinsame Zug zur Anlehnung an die Welt und an die Zeitmeinungen bildeten ein dreifaches Band, das sie zuletzt zur innigsten Einheit zusammen brachte. Wer die Synode von Pistoia, den Inbegriff aller hierher gehörigen Bestrebungen, studiert, der findet, daß hier aus dem Gallikanismus, dem Jansenismus, dem Febronianismus, dem Josephinismus, der Freigeisterei und dem Quietismus, kurz aus dem Rationalismus und dem falschen Mystizismus ein sonderbares und doch harmonisches Gemengsel zustande gebracht worden ist.
Wir können diesem Mischmasch, der letzten Vorarbeit für die allgemeine Auflösung am Ende des 18. Jahrhunderts, eigentlich keinen andern Namen geben als den der zweiten Reformation. Er zog den des Reformkatholizismus vor, wie denn auch Scipio Ricci, der geistige Vater jener Synode, auf dem Titelblatt der Biographie von Potter den Namen „der Reformator des Katholizismus“ erhalten hat.
10. Auf diesen Titel waren die Männer all der genannten Richtungen am meisten stolz, aus ihm schöpften sie die Berechtigung für ihre Arbeit der Kirche zum Trotz.
Eine Reform der Kirche, so lautete ihr oberster Satz, sei unumgänglich notwendig, und zwar eine gründliche und allgemeine. Überall gehe es mit der Kirche ebenso rückwärts und abwärts, als es bei den von der Kirche getrennten Genossenschaften und bei der modernen Welt aufwärts gehe. Das sei aber ganz unvermeidlich bei dem in der Kirche jetzt herrschenden System. Durch die verhängnisvolle Tätigkeit der Scholastiker, zum Teil freilich auch durch die schuldbare Nachlässigkeit, ja durch die Mitwirkung der Kirche sei von langem her, schon seit Beginn der Mittelalters, ja bereits seit dem zehnten Jahrhundert, der zeit des Pseudo-Isidor, der Verfall in die Kirche eingedrungen. Leide sei nie etwas Entscheidendes zur Besserung dieser Lage geschehen. Deshalb sei die Kirche in beständigem Niedergang befindlich, ja man dürfe sagen, seit Jahrhunderten bestehe eigentlich keine Kirche mehr.
Dieser vollkommen häretische Satz (so die Bulle Auctorum fidei, prop. 1; Denzinger, Enchiridion n. 1364), der den verheißenen Beistand Christi und die Tätigkeit des heiligen Geistes vollständig leugnet, bildet für diese Neureformatoren den Ausgangspunkt und die Rechtfertigung für alle ihre Bestrebungen, ganz genau wie einstens für die alten Reformatoren.
11. Aber sie waren mit der ersten Häresie nicht zufrieden, sondern sie gingen noch weiter. Von der Kirche eine Reformation erwarten wollen, sagten sie, heiße sich lächerlich machen. Die „unwissenden Kurialisten“ und die „römischen Hofschmeichler“ hätten natürlich ihr Interesse daran, daß die Übelstände sich verewigten. Nach 300 jähriger Erfahrung sei die beste Reformation von keiner Dauer, wo die päpstliche Alleinherrschaft geduldet werde.
Erfolge aber keine Reform, so müssten wir immer noch tiefer in die Inferiorität herab sinken, in der wir uns bereits befänden. Von der Theologie zu reden, sei unnötig: solange die Scholastik herrsche, sei sie einfach unheilbar verdorben. Nicht geringere Schmach liege aber auf der katholischen Exegese, die nur ein sklavisches Nachbeten (der alten Väter-Auslegung) ohne eigenes Prüfen und Forschen sei. Auch die Predigt und die Katechese liege, ganz begreiflich bei diesen Zuständen, im argen und im ärgsten. Der ganze bisherige katholische Volksunterricht habe nur die Unsittlichkeit und den Unglauben, den Pharisäismus und den Mechanismus befördert.
12. Diese Zustände, die Unbeweglichkeit der Kirche und ihrer Theologie, deren Unfähigkeit, die Zeit, die öffentliche Meinung, die Berechtigung der weltlichen Bestrebungen, die Fortschritte der Wissenschaft und der Kultur zu verstehen, und der blinde, stolze, unchristliche Haß der Kirchenhäupter und der Mönche gegen die Welt, das alles habe jene bedauerliche Trennung zwischen dieser und dem Christentum hervor gebracht, die einerseits zum vollen Untergang der sich selbst überlassenen Welt, anderseits zur gänzlichen Verknöcherung der Kirche führen müsse.
Es sei deshalb ein dringliches Bedürfnis, am Ausgleich mit den Zeitideen, an der Einigung der getrennten „Parteien“, des Christentums und der Welt, zu arbeiten, und zwar mit aller Anstrengung.
Dieser Aufgabe widmete sich denn auch der Reformkatholizismus mit dem Aufgebot aller Kräfte. Dafür schien ihm kein Opfer aus dem Schatz der kirchlichen Lehre zu groß. Um dieses Ziel zu erreichen, ging er dem Irrtum und dem Weltgeist ebenso liebevoll und weit entgegen als er dem Glauben und der Kirche mit Bitterkeit und mit Vorwürfen auch das unmögliche Opfer abzwingen wollte.
Die Gedanken von Toleranz und vom Streben nach Vereinigung der Getrennten nehmen in der Literatur jener Zeit einen breiten Raum ein und bilden bei vielen den eigentlichen Leitstern für ihr ganzes Verhalten. Febronius sagt schon auf dem Titel seines verhängnisvollen Werkes, daß er es ausgearbeitet habe mit der ausdrücklichen Absicht, aus dem katholischen Kirchensystem alles hinweg zu schaffen, oder doch nach Möglichkeit abzuschwächen, was diesem Ausgleich hinderlich im Wege stehen könnte. Und Beda Mayr gesteht, daß er in der Darstellung des Dogmas grundsätzlich immer bis an die äußerste Grenze gehe und jede, auch die laxeste Ansicht annehme, um den Gegnern den Anschluß an die Kirche so leicht als möglich zu machen.
Aus diesem Bestreben erklären sich leicht all die anstößigen Erscheinungen, die der Reformkatholizismus von damals zur Schau trägt, die Abschwächung der Glaubenslehren, das Schelten auf die Theologie, das Abstreifen alles angeblich „Unnötigen“, das Unterscheiden zwischen dem „Wesentlichen“ und dem „geschichtlich Gewordenen“ und „Zufälligen“ am Christentum, das Klagen über Mechanismus und Pharisäismus im kirchlichenLeben, das Wüten gegen jeden lebendigen Hauch der volkstümlichen Frömmigkeit, der Haß gegen die Heiligenverehrung, gegen die Orden, gegen die Volksandachten, die Freisinnigkeit im Auslegen der Schrift und des Dogmas, die Aussöhnung mit den bedenklichsten Meinungen der Zeit.
Bis zu welchem Grade dieser Hang führte, das zeigt die berüchtigte Predigt des Eulogius Schneider über die Toleranz, die nichts anderes war als die Empfehlung des vollständigsten Indifferentismus, und vielleicht noch mehr der unerhörte Hirtenbrief des Bischofs Johann Leopold Hay von Königgrätz, der in dem Einschärfen von Duldung gegen Andersdenkende ebenso weit geht als in den unwürdigsten Ausdrücken gegen die Glaubensgenossen, zumal die unseligen „Klostergeistlichen“, gegen die katholischen Andachten und den angeblich übertriebenen Eifer in Dingen des Glaubens.
Je weniger aber diese Bestrebungen bei der Kirche und bei den Treugebliebenen Anklang fanden, um so mehr stieg der falsche Eifer bei den Neuerern, daß von der Kirche keine Hilfe für die Reformbestrebungen zu erwarten sei.
13. Man müsse, sagt ein Anonymus, die Theologie, die Liturgie, die kirchlichen Gesetze, die Disziplin und die Hierarchie reformieren, die Dogmatik ganz abschaffen und bloß die Bibel und die Moral beibehalten.
Insbesondere müsse der Katechismus von dem „Schwall der dogmatisch-symbolischen Sätze“ und von den „unnahrhaften Worten der Dogmatik“, überhaupt von allem „Wust der Schulen“ befreit werden. Dann erst, wenn diese Hauptsache geschehen sei, habe es Wert und Erfolg, an die übrigen so notwendigen Reformen zu gehen, jene Reform der Liturgie und des Gottesdienstes, die „unsere elende Liturgie“ zur Würde einer „Weltreligion erheben solle, und jene „gänzliche Reform“ des Klerus, die von der Überzeugung ausgehe, daß denn doch nicht Messelesen und Beten die wahre Aufgabe der Geistlichen sei noch auch die eigene Vervollkommnung, sondern „die Beförderung guter Sitten durch Belehrung der Völker“.
14. Hier haben wir das Ziel der ganzen Bewegung vor uns, jenes erhabene Ziel, von dem sich der Reformkatholizismus einredet, daß dessen Folge eine „neue Erde und ein neuer Himmel“ sein werde. –
aus: Albert Maria Weiß O.P., Die Religiöse Gefahr, 1904, S. 253 – S. 261