Die eigentlichen Aufgaben der Vernunft
Die erste und eigentliche Aufgabe der Vernunft ist, wie bereits gesagt, die, daß sie im Gefühle ihrer Kraft mit Ernst und im Bewusstsein ihrer Schwäche mit Bescheidenheit nach der Wahrheit strebe, soweit ihr diese erreichbar ist.
Die zweite, dringlichere Aufgabe ist die Beherrschung des größten, des einzigen Feindes, den die Vernunft hat. Wenn dieser nicht gebändigt und zu Frieden gebracht ist. Steht die Wahrheit immer in scheinbar unerreichbarer Ferne. Solange er die Herrschaft hat, erkennt die Seele nicht einmal, was sie selber und was in ihr, geschweige denn, was über ihr ist. Und welches ist dieser ihr Feind? Unsere arme verblendete Zeit hat immer nur die eine Sorge, es möchte die Offenbarung dem Verstand zu Schaden werden. Mit ebenso viel Recht kann einer fürchten, es dürfte das Licht dem Auge Schaden bringen. Nicht das Licht ist der Feind des Auges, wohl aber die Finsternis, der Staub, der Nebel, der Rauch. Die Finsternis des Herzens, der Rauch der Begierden, der Nebel und Staub der Leidenschaften, das sind die großen Hindernisse für die Vernunft. Das verdorbene, ungeordnete Herz, das ist der Feind des Verstandes, der Einsicht, der Wahrheit… Es ist also Aufgabe der Vernunft, sich um die Herrschaft über die Leidenschaften zu bewerben und nicht eher zu ruhen, bis es ihr gelungen ist, sich diese zu unterwerfen. Darum hat sie Gott in die erhabenste Burg der Seele gesetzt, damit sie von hier aus die unedlen Triebe zur Botmäßigkeit bringe. (Augustin., Civ. Dei 14, 19) Dann erst kann sie mit Ruhe und Aussicht auf Erfolg an ihre eigentliche Pflicht, die Erforschung der Wahrheit, gehen. Insofern muss man also, obwohl die Vernunft zur Erkenntnis der Wahrheit bestimmt ist, dennoch sagen, daß sie dem Menschen vor allererst dazu gegeben ist, damit er seine niederen Regungen beherrsche. (August., Sermo 8, 6) Denn erst die Selbstbeherrschung und Anstrengung, die sie in Erfüllung dieser Aufgabe übt, macht sie gesund, gerade und fest.
So tauschen sich die Rollen merkwürdig aus. Statt des Forschens nach Wahrheit obliegt der Vernunft zumeist die Läuterung des Herzens. Umgekehrt ist es oft weniger die Mühe des Denkens als die Reinheit und Aufrichtigkeit des Herzens, die zur Erkenntnis der Wahrheit führt. (Augustin., In Ioan. Tract. 18, 7) In eine böswillige Seele kehrt die Weisheit nicht ein und wohnt nicht in einem Leib, der den Lüsten untertänig ist. (Weish. 1, 4) Aber ein reines Herz ist der Wahrheit verwandt. Sind nur erst die Leidenschaften zum Schweigen gebracht, ist der Stolz besiegt und die Seele im Frieden, dann denkt der Mensch gerade und findet den Weg zur Wahrheit ohne Schwierigkeit. Denn sie läßt sich leicht finden von denen, die sie lieben, und kommt denen zuvor, die nach ihr aufrichtiges Verlangen tragen, um sich ihnen zuerst zu zeigen. (ebd. 6, 13 14)
Die Vernunft muss also dem Glauben den Weg bereiten, das Herz aber der Vernunft und dem Glauben zugleich. Vom Herzen geht alle Krankheit des Geistes aus, vom Herzen auch seine Heilung. Ein reines Herz, ein heller Geist, ein fester Glaube. Auf diesem ebenen Wege sind alle Rätsel rasch gelöst. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 91 -93