Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf
Gottvergessenheit ist das Kennzeichen unserer verderbten Zeit
Wohin wir uns immer wenden, werden wir überall in unsern Tagen einsehen, daß die Gottlosigkeit derselben von dem Umstande herrühre, daß die Menschen vergessen, daß sie Geschöpfe sind; doch worin besteht dieses Vergessen? Es ist nur eine neue Art der alten Sünde. Nichts beleidigt unsern Geschmack mehr, als Mangel an Proportion und Unziemlichkeit, wir lieben die Ordnung, Ungebührlichkeit verletzt uns. Wenn ein Diener sich wie ein Sohn gegen uns benehmen und die Freiheiten, zu denen dieser ein Recht hat, sich herausnehmen wollte, würden wir zürnen und eine Menge von Fehlern in diesem ersten finden. Das Benehmen, welches einem Familienglied ziemt, ist unanständig für den Gast, und dem Fremdling steht ein anderes Auftreten zu, als dem alten Freund.
Unser Geschmack wird empfindlich verletzt, wenn derlei Verhältnisse der Konvenienz verwechselt werden, aber eben dieser Geschmack hat einen weit tieferen Grund in unserer moralischen Natur, so auch bei dem Gegenstande, den das vorliegende Buch behandelt. Die Rechtlichkeit des Menschen als eines solchen, seine moralischen und religiösen Eigenschaften wurzeln in der beständigen Erinnerung, daß er ein Geschöpf sei und als solches sich benehmen müsse. Gemeinheit und böser Geschmack sind hierin wohnhaft, Sünde und Laster, weil die Verachtung, die Frechheit Gottes Majestät betrifft, und ist diese Gottvergessenheit nicht eines der auffälligsten Kennzeichen unserer verderbten Zeit? — Betrachtet die Politik! Findet Ihr die Spuren der Gottlosigkeit nicht überall? Wie wenig hat die Religion noch zu tun bei Fragen über Krieg und Frieden? Wir gehen in den Kampf, um eine Beleidigung zu rächen, um unser Interesse zu wahren, unsern Gewinn zu sichern, oder eine feindliche Gewalt zu verstümmeln, als gäbe es keinen Gott der Heerscharen.
Wir fragen gar nicht einmal, ob dieser Krieg vom Willen Gottes bedingt sei oder nicht.
Die Diplomatie handelt, als gebe es gar keine besondere Vorsehung, als hätte sich Gott von der Weltregierung zurück gezogen, als seien sie die Diplomaten berufen, die Zügel der Weltregierung zu ergreifen, welche der altersschwachen Hand des Herrn der Welten entfallen sind.
Man hat das Gleichgewicht der Weltmächte an die Stelle der Zentraleinheit des heiligen Stuhles gesetzt, wir sind jetzt gewohnt, so zu handeln, als sei die Welt unser Eigentum, und als wären wir für unsere Handlungsweise gar Niemanden verantwortlich. Wie wenig finden wir von der Sprache der Geschöpfe in den wichtigsten Angelegenheiten, die sich um Religion, Erziehung, Armenwesen bewegen, vergebens forscht man nach dieser Sprache in den Parlamentsverhandlungen und den Leitartikeln unserer tonangebenden Blätter! Es scheint, daß wir das Recht haben, Alles zu tun, weil wir die Macht dazu haben. Warum? Weil Alles von dem Geiste der Gottvergessenheit erfüllt ist…
Noch schärfer prägt sich das System in der Philosophie aus. Die Menschheit hat ihre Bestimmung, ihren Fortschritt, der Mensch ist vollendet in sich selbst, er ist keinem Sturz unterworfen, die Verantwortlichkeit iſt kein wesentlicher Bestandteil der Selbstregierung, man bedarf der Idee Gottes nicht, um die Stellung des Menschen im Universum zu bestimmen, seine Pflichten beginnen und werden mit ihm selbst, d. h. philosophisch geredet, kann man in Berlin die Dinge handhaben ohne Gott. Das Allerauffallendste ist der einfältige, kindische und arglose „Atheismus der Naturwissenschaften“.
Der Anfang der Materie, die Elemente, in welche sie am Ende auflösbar ist, wie die sphärischen Kreise zuerst begannen, die wunderbaren Geheimnisse ihres Kreislaufs, die verschiedenen Hypothesen, das Geheimnis des Lebens, die Immaterialität der Seele, an welcher eben alles Wissen Schiffbruch leidet – alle diese Fragen werden in tausenden von Büchern glänzend besprochen, aber sie beweisen alle eine krasse Unwissenheit in Bezug auf die Wahrheit, daß wir winzige Geschöpfe sind, die, Gott hilf uns! hierher kamen ohne unser Zutun, und, Gott hilf uns! Wann und wie er will, wieder verschwinden werden! Wir lesen aufmerksam Satz für Satz, wir hoffen immer, endlich eine Anspielung auf Gott den Schöpfer zu finden; ja die Schriftsteller würden gewiß Großes von ihm sagen, aber es fällt ihnen eben nicht ein, — aber nein! Ungläubige sind sie nicht, sie würden gerne zugeben, daß sie einen Schöpfer haben, wenn man sie darüber fragen wollte; sie wären ja Wahnsinnige, wenn sie es nicht täten, aber daß es einen Schöpfer gibt, daß sie Geschöpfe sind, das sind eben Begriffe, die ihnen durchaus nicht geläufig sind. Gestern waren sie mit der Kirche, heut sind sie beschäftigt, mancherlei Gedanken begehren Audienz, und übrigens ist ja für den Gedanken an Gott wöchentlich ein besonderer Tag bestimmt! Aber um ernst zu sein, Niemand wird denken oder sagen, daß die Wissenschaft, wenigstens in England profan und gottlos ſei, nein, gerade das Gegenteil, aber wir vergessen nur, daß wir Geschöpfe sind, unser großer Irrtum rührt daher, daß wir in Gott nicht immer den Schöpfer vor Augen haben. In unsern Tagen gibt es sehr viele Menschen, welche durchaus nicht sagen, daß sie keine Christen seien, die aber so reden und schreiben, als wären sie es nicht von Innen, sondern bloß von Außen. Die Mühe haben sie sich nicht genommen, ein eigenes Unglaubens-Bekenntnis zu formulieren, aber sie können es eben so wenig einsehn, wie der Fortschritt, wie die neuen Erfindungen, die psychologischen und andere, sich mit den Dogmen des alten Christentums vertragen, und sie möchten herzlich gerne lieber alle Dogmen, als ihre neuen Erfindungen aufgeben…
Wenn das Christentum eine Lüge wäre, würde der Lebenswandel eines Menschen, der sich als Geschöpf, Gott aber als Schöpfer betrachten würde, ganz gleich dem eines katholischen Heiligen sein, die Züge im Leben Beider wären unbedingt dieselben.
Diese Gottvergessenheit herrscht besonders unter Jenen, die im Allgemeinen unter dem Begriff „die Welt“ subsummiert sind, sie glauben zwei Herzen zu haben und ein doppeltes Leben führen zu können, sie betrachten sich als Christen, die in doppelter Sphäre leben, in der Sphäre der Religion und des weltlichen Interesse. Sie konzentrieren die erste auf den Sonntag, und glauben durch diesen Gottesdienst ein Recht erlangt zu haben zu einem recht weiten Gewissen für die ganze Woche! Gott hat seine Anrechte auf uns, aber die Welt hat sie auch, beiden muss man Genüge tun, vorerst Gott, und zwar mit der strengsten Skrupulosität, dann aber auch der Welt mit exakter Treue, obzwar sie nur den zweiten Rang einnimmt.
Es wäre unvernünftig, eine oder die andere Macht zu vernachläßigen, denn Gott und die Welt sind koordinierte Gewalten, koordinierte Quellen moralischer Verpflichtung für uns. Wahrhaft religiös ist derjenige, der keiner von beiden Ursache gibt, sich über ihn zu beklagen, wir dürfen niemals allzu gewissenhaft werden. Menschen, welche an dieser Lehre festhalten, die so prächtig für ein Handelsvolk paßte, haben einen großen Vorteil vor denjenigen, von denen wir früher sprachen, denn sie erfreuen sich aller praktischen Zügellosigkeit des Ungläubigen, ohne daß sie dessen Verantwortung haben und überdies sind sie ihres guten Gewissens wegen stets in guter Laune, weil sie doch seiner Zeit den religiösen Zeremonien ihren Respekt zollen. –
aus: Frederick William Faber, Der Schöpfer und das Geschöpf, 1858, S. 10 – S. 16