Der Naturalismus der Humanität ist eine schnöde Rebellion gegen Gott
Die christliche Heilsökonomie
3. Die katholische Kirche ist voll Bewunderung für die Würde des Menschen und ruft mit dem Psalmisten (8, 5 ff.) aus: „Was ist der Mensch, daß du seiner (mit so reicher Güte) gedenkst? Der Menschensohn, daß du ihn (so gnadenreich) heimsucht? Nur wenig hast du ihn unter die Engel erniedrigt, ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, zum Herrn über die Werke deiner Hände gesetzt, Alles ihm zu Füßen gelegt, die Schafe und Rinder insgesamt, obendrein die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische der See, welche die Pfade des Meeres durchwandern.“’ Der Schöpfer hat wohl alles zu den Füßen seines Lieblings gelegt und die Erde den Menschenkindern geschenkt (Ps. 113, 16), aber auf seine eigene Herrschaft auch über den freien Menschen kann er nicht verzichten, so wahr er wesentlich der Herr ist. Daher ist unser Geschlecht schon aus dem Gesichtspunkt der puren Natürlichkeit nicht absolut, sondern zum Dienst des höchsten Herrn verpflichtet und gerade hierdurch geadelt: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen.“
Aber der Mensch ist durch besondere Gnade Gottes nicht im Zustande seiner rein menschlichen Natürlichkeit gelassen, sondern zur Übernatur erhoben worden, so daß er unter den Geschöpfen nicht bloß ein Geschöpf und Knecht, sondern ein wahres Kind Gottes, einst ein Mitbürger der Heiligen und Himmelsgenosse Gottes wird, und ihn von Angesicht zu Angesicht schauen, ihn so erkennen soll, wie auch er selbst von Gott erkannt wird. Als der erstmalige Stand der Gnade verloren war, hat der Herr seine erhabene Heilsökonomie begonnen, um in Christo wieder Alles herzustellen. Der Mensch genügt also seinem Beruf nicht durch das einfache Mensch-Sein, durch die Humanität, sondern muss in die übernatürliche Ordnung eingegliedert werden. „Geboren zu sein hätte uns Nichts genützt, wären wir nicht erlöst worden“ (1). Und vor diesem größten Wunder der göttlichen Liebe, dem Erlösungswerk, kann der Mensch nicht indifferent stehen und sagen: ich setze mein Alles darein, Mensch und reiner Natur-Mensch zu sein und zu bleiben; ich weise mit Entrüstung jede Übernatur von mir. — Angesichts der übernatürlichen Ordnung ist der Naturalismus der Humanität eine schnöde Rebellion gegen Gott.
(1) Nihil nobis nasci profuit, nisi redimi profuisset. Liturgie des Karsamstags.
Verführung zur sozialen Apostasie ist Apostolat der Hölle
Allerdings kann der Mensch als freies Wesen die pflichtmäßige Unterwerfung unter den Alten und Neuen Bund versagen; aber dann hat er auch seinen Beruf verfehlt, sich selbst auf ewig verurteilt, und es wäre für ihn besser, wenn er gar nicht geboren worden wäre. Vollends ein ganzes Volk durch List und Gewalt in die soziale Apostasie von Jesus Christus, in welchem allein Heil ist, zu verstricken, ist nächst dem Mord am ersten Karfreitag die schwärzeste Tat, deren der Mensch fähig ist, und ein wahres Apostolat der Hölle.
Die göttliche Wahrhaftigkeit hat uns die Offenbarung gegeben, die Allweisheit uns Gesetze vorgeschrieben, die unendliche Güte ein oberstes Tribunal für Dogma und Moral, die lehrende Kirche und an ihrer den Papst, aufgestellt.
Der Mensch kann sich nur durch die freiwillige Unterwerfung unter diese Ordnung vergöttlichen und frei machen, nur so an seinem letzten Ziele anlangen. Wehe ihm, wenn er seine Freiheit missbraucht und mit seiner selbst gewollten Empörung zusammen gewachsen aus der Welt scheidet!
Hieraus ergibt sich der diametrale Gegensatz zwischen der Humanität des Radikalismus und der Einen Kirche.
Freiheit auf intellektuellem Gebiet
Auf intellektuellem Gebiet gibt die Kirche dem Menschen volle Freiheit in der Untersuchung rein-natürlicher Dinge, verlangt aber von ihm Unterwerfung unter die Offenbarungs-Wahrheiten, von welchen wir, vermöge der göttlichen Wahrhaftigkeit, noch tausendmal gewisser überzeugt sind, als von den augenscheinlichsten Erfolgen und Ergebnissen des menschlichen Denkens. Ebenso kann und darf sich der menschliche Scharfsinn die Dogmen verdeutlichen und, soweit es möglich ist, dem Verständnis näher rücken. Der viel besprochene Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben ist von vornherein unmöglich, weil der Urquell der natürlichen und der übernatürlichen Wahrheit einer und derselbe ist, die göttliche Wesenheit. Irrtum ist es also zu sagen, es könne etwas philosophisch wahr und theologisch falsch sein (2). Weil aber der Mensch in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nichts weniger als absolut und unverirrbar ist, so soll ihm die sichere Wahrheit, jene der geoffenbarten Religion, als Regulativ auch in seiner rein-natürlichen Denktätigkeit dienen. Wo sich jedoch ein Zwiespalt zwischen Wissenschaft und Glauben ergibt, liegt entweder ein Missverständnis in der Religion oder eine Irrung der menschlichen Erkenntnis vor. Diese katholische Anschauung aber als ein Hindernis der menschlichen Denktätigkeit, der revolutionären „freien Forschung“, bezeichnen wollen, ist ebenso töricht, als wenn man die Leuchttürme und Seezeichen für Hindernisse der freien Schifffahrt erklären wollte.
(2) Über diesen aus der arabischen Philosophie entlehnten Irrtum vgl. Dr. A. Stöckl, Lehrb. d. Gesch. d. Philos., Mz., 1870, S. 428.
Freiheit in moralischer Beziehung
In moralischer Beziehung ist der Mensch angesichts der Kirche frei nur in dem Sinne, daß er entweder das Gute oder das Böse wählen kann; denn gezwungen wird er nicht zum Guten; aber unabhängig, absolut ist er nie und nimmer, weder in Aufstellung einer ihm beliebenden Sittenlehre, noch in Beziehung auf seine Verantwortlichkeit.
Denn er ist weder der Gesetzgeber, noch der Richter, sondern beide Ämter sind Attribute Gottes. Hat er daher dem natürlichen Gesetz und den positiven Geboten des obersten Gesetzgebers getrotzt, so droht ihm die furchtbarste Rechenschaft mit ihren Folgen. Weiterhin ist der Mensch, wie er heute geboren wird, im gefallenen Zustand, demnach nicht alles Menschliche, was in seinem Inneren haust, eben dadurch gut; sondern er ist von Leidenschaften umstrickt, von tausend Banden zur rohen Materie und Tierheit hingezogen. Deshalb muss das Böse im Menschenherzen und in der Gesellschaft nieder gekämpft werden; nur der Stolz und die Torheit können ihm dieselbe äußere Freiheit, wie dem Guten, zusprechen. Nur als Sieger über unsere Leidenschaften sind wir wahre Menschen und gelangen wir zur Freiheit der Kinder Gottes (Röm. 8, 21). Zur Ehre der Humanität auch dem Bösen freien Pass in der Gesellschaft gewähren, ist eine feige Verleugnung, und darum der Liberalismus ebenso verächtlich, als ein Vater, welcher seinen Kindern alles durch die Finger sieht.
Abhängigkeit auf religiösem Gebiet
Auf religiösem Gebiet ist der Mensch abhängig von der natürlichen und übernatürlichen Offenbarung Gottes.
Wie kann man denn überhaupt ein Geschöpf oder eine Gattung unabhängig nennen? Unabhängig ist nur jener, welcher den Grund des Seins und alle denkbaren Vollkommenheiten in sich selbst und aus sich selbst hat. Der Mensch aber hat begonnen zu sein, ist erschaffen, hängt ab von der Luft, die er atmet, vom Boden, der ihn trägt, von den Pflanzen und Tieren, welche ihm zur Nahrung dienen, von dem Vater, der ihn erzeugt, von der Mutter, welche ihn auferzogen, von der Gesellschaft, in welcher er groß gewachsen. Er selbst hängt von tausend Geschöpfen ab, und er sollte sich unabhängig von seinem Schöpfer wähnen? Er soll seinen Adelsbrief in der Religion verdienen, und nicht bloß ein vorüber gehendes Erdengeschöpf, ein zweibeiniges und vernunftbegabtes Tier sein, sondern als wahres Kind Gottes einmal verklärt werden. Gerade zu diesem Zweck hat Gott eine Reihe höchster Wahrheiten geoffenbart, seine Ordnung der Gnade gestiftet, eine lebenslängliche Schule der Heiligung und Vervollkommnung in seiner Kirche, ihren Sakramenten und ihrem Priestertum errichtet. All diesem soll sich der Mensch unterordnen und ganz hingeben; erst dann ist er edel, und ein Mensch, wie Gott ihn will. Jeder religiöse Individualismus ist ein Aufruhr gegen die Offenbarung und deren sichtbare Träger.
Christus ist das Haupt der Menschheit und alle Gewalt kommt von ihm
In politischer Hinsicht gibt es Angesichts der katholischen Kirche überhaupt keine absolute menschliche Souveränität, weder beim Monarchen, noch bei der Nation. Denn der Herrscher eines Königreichs und das sich selbst regierende Volk einer Republik sind nicht schlechthin und allseitig unabhängig, noch die einzige Quelle der Gesetzgebung. Seitdem Christus Mensch geworden, ist er das Haupt der Menschheit, kommt alle Gewalt über ein christliches Volk, die monarchische und republikanische, die legislative und exekutive, die kirchliche und die staatliche, von ihm und wird in seinem Namen verwaltet; nur ihm zu Ehren wird von den Untergebenen der Gehorsam geübt.
Darum kann keine Gesetzgebung etwas vom Menschen verlangen, was gegen Christi Gebote und Einrichtungen verstößt;
ein solches Vorgehen ist humanistische Empörung gegen die Gewalt des Gottessohnes, welchem alle Völker der Erde als Erbteil übergeben sind (Ps. 2), und in dessen Hand der Vater das Weltgericht gelegt hat. Deshalb kann sich nur Titanen-Übermut am Wort der Schrift stoßen: „Man muss Gott mehr gehorchen, als den Menschen“; nur der Stolz kann jedes beliebige Gesetz für das öffentliche Gewissen und den menschlichen Staat für allmächtig und göttlich erklären. Ferner iſs Christus nicht bloß Gebieter im stillen Herzenskämmerlein, sondern Völkerkönig und Oberhaupt der Gesellschaft.
Ihm dieses soziale Königtum absprechen wollen, ist die gesellschaftliche Apostasie und führt zur Brutalisierung der Menschheit.
Die Verfassungsurkunde aller Völker ist der Dekalog, wozu bei christlichen Völkern die Gebote und Lebensordnung des Neuen Bundes hinzukommen.
Europa hat das historische Recht auf den christlichen Staat
Wir Europäer haben das historische Recht auf den christlichen Staat, welcher nicht bloß für das zeitliche Wohl seiner Bürger zu sorgen hat, sondern auch das Christentum zur Grundnorm aller Gesetze machen muss, geradeso wie der einzelne christliche Bürger. Dieser Staat hat die Pflicht, soweit er kann, die Hindernisse, welche uns in Erreichung unseres übernatürlichen Endziels im Wege stehen, wegzuräumen, daher der Kirche die freieste Bewegung zu lassen, fördernd entgegen zu kommen, sie als Vertreterin einer viel höheren Ordnung zu schützen und zu ehren.
Es ist strafwürdiger Hochverrat, den Staat eines Christenvolkes zu dekatholisieren oder zu entchristlichen,
ihn vor dem Götzen des Menschentums nieder zu werfen und die Kirche als seine Feindin, als gefährlich und verfolgungswürdig anzuschwärzen.
Die Kirche ist in ihrem Bereich frei und unabhängig, nicht erst durch Gnade des Staats, sondern durch ihre göttliche Stiftung. Als die religiöse Gottesanstalt auf Erden steht sie unendlich über dem Staat, wie die Seele über dem Leib, wie der Himmel über der Erde, wie die Heiligkeit über dem Geld, wie Gott über der Menschheit. Kein Christenstaat hat daher das Recht, Gesetze zu geben, welche der Kirche Schaden und dem christlichen Gewissen Gewalt antun. Aber ordnen wir den Staat auch in seinem Amtskreis der Kirche unter? Der Himmel bewahre! Auf seinem rein zeitlichen und rein bürgerlichen Gebiet ist auch er von Gott gestiftet, allerdings indirekt, nämlich durch die gesellige Naturanlage des Menschen, nicht aber direkt, d. h. in der jeweiligen bestimmten Staatsform, während die Kirche mit ihrer bestimmten Verfassung direkt göttlichen Ursprungs ist. Darum kann der Staat kraft göttlichen Willens Gehorsam verlangen, aber nur soweit, als er Gewalt von oben hat; Gott aber hat ihm keine Gewalt gegeben gegen den anderweitig ausgesprochenen allerhöchsten Willen. —
Auf dem schmalen Grenzgebiet, wo Kirche und Staat zusammen stoßen, muss ein friedlicher Vergleich zwischen den beiden unabhängigen Mächten geschlossen werden, was nie schwer fällt, wo man es mit ehrlichen und christlichen Staatsmännern zu tun hat.
Tödlicher Hass zwischen Revolution und christlicher Legitimität
So gibt es eigentlich nur zwei Gegensätze in der Menschengeschichte, besonders der Gegenwart: Das souveräne Menschentum und die katholische Kirche, den puren Naturalismus und den Supernaturalismus. Was zwischen Beiden inne liegt, sind Halbheiten und Zickzack nach Rechts und Links. Daher stammt der tödliche Hass zwischen Revolution und christlicher Legitimität, zwischen dem absoluten Menschentum und der Gottesanstalt auf Erden, zwischen der humanistischen Fratze des Staats und dem Christentum, zwischen dem Abgrund der Sünde und den Sonnenhöhen der Gnade. Richtig bemerkt darum Blanc de Saint-Bonnet (1): „Man muss entweder Katholik oder Sozialist sein. Alle Politik balanciert zwischen diesen beiden Gedanken: entweder wird der Mensch gut geboren, dann haben wir die (absolute) Freiheit, Rechtsgleichheit, Illegitimität des Strafkodex und der Obrigkeit; oder der Mensch ist böse (im gefallenen Zustand) geboren, dann ergibt sich der Gegendruck gegen das Böse in ihm, die Erziehung, die Gesetzlichkeit der Strafe, der kirchlichen und bürgerlichen Gewalten. Die religiöse Frage ist die ganze politische Frage. Euer humanistischer Rationalismus, ihr Staatsmänner, ist nur die Metaphysik des Sozialismus.“
Wer sollte sich daher wundern, wenn der Humanismus instinktmäßig mit dem Hass der Hölle das positive und Eine Christentum, die katholische Kirche, verfolgt? Er hat nur diese Eine Feindin, alle seine Pfeile gelten ihr. Im Tross dieser Universal-Irrlehre johlt alles mit, was aus anderen Gründen die Stiftung des Gottessohnes hasst. Die schrankenlose Leidenschaft des absoluten Menschentums im Bunde mit der Sünde und dem Gotteshass ist das Unglück unserer Tage und der Grund, warum der Gang des Christentums durch die Jahrhunderte und die Geschlechter ein blutgetränkter Pfad des Martyriums ist. –
aus: Georg Michael Pachtler SJ, Der Götze der Humanität, 1875, S. 24 – S. 31