Apostasie der Völker vom Reich Gottes

Die Apostasie der Völker vom Reich Gottes

Der erste zu beachtende Punkt ist, daß sowohl der heilige Paulus als der heilige Petrus von dieser antichristlichen Empörung sprechen, als bereits zu ihrer Zeit begonnen. Der heilige Paulus sagt: „Das Geheimnis der Bosheit ist schon wirksam; nur soll der, welcher jetzt aushält, so lange aushalten, bis er hinweg geräumt ist“. (2. Thess. 2, 7) Und der heilige Johannes sagt ausdrücklich in der oben angeführten Stelle: „Es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, wird der Widerchrist kommen; ja schon jetzt sind Viele Widerchristen geworden, woraus wir erkennen, daß die letzte Stunde ist.“ (1. Joh. 11, 8) Ferner: „Dieser ist der Widerchrist, von dem ihr gehört habt, daß er kommt, und er ist schon jetzt in der Welt.“ (1. Joh. 3)

Wir müssen also nach den Anfängen dieser Empörung in den Zeiten der Apostel sehen. Der Geist des Antichristen war wirksam, sobald Christus der Welt geoffenbart wurde. Es ist also mit einem Worte die fortdauernde Wirksamkeit des Geistes der Häresie, welche vom Anfang an mit dem Glauben parallel lief.

Es liegt auf der Hand, daß der heilige Paulus und der heilige Johannes diese Ausdrücke auf die Nikolaiten, die Gnostiker und dergleichen anwandten. Die drei Merkmale des Antichristen, das Schisma, die Häresie und die Leugnung der Menschwerdung treten offen an ihnen hervor. Sie lassen sich gleichfalls auf die Sabellianische, Arianische, Semiarianische, Monophysitische, Monotheletische, Euthychianische und Macedonianische Häresie anwenden. Die Grundsätze sind identisch, die Entwicklung verschieden, aber nur zufällig. Und so hat in diesen achtzehnhundert Jahren der Reihe nach jede Häresie ein Schisma erzeugt, und jedes Schisma brachte eine Häresie hervor, und alle miteinander leugnen die göttliche stimme des Heiligen Geistes, der beständig durch die Kirche spricht, und alle miteinander setzen die menschliche Meinung an die Stelle des göttlichen Glaubens, und alle mit einander bringen vermöge eines sichern Prozesses, die einen schneller, die andern langsamer, eine Leugnung der Menschwerdung des ewigen Sohnes heraus. Einige können gleich im Anfange davon ausgehen, andere lösen sich in dieselbe auf durch eine lange und unvorhergesehene Umwandlung, wie der Protestantismus in den Nationalismus überging; da aber alle im Prinzip identisch sind, so sind sie auch identisch in ihren Folgen. Jedes Zeitalter hat seine Häresie, wie jeder jeder Glaubensartikel durch die Verneinung seine genauere Fassung erhält. Und der Lauf der Häresie, ist gemessen und periodisch, materiell verschieden, aber formell eins, sowohl dem Prinzipe als der Tätigkeit nach, so daß alle Häresien vom Anfange an nichts weiter sind, als die fortgesetzte Entwicklung und Ausbreitung „des Geheimnisses der Bosheit“, das bereits wirksam war.

Ein anderes Phänomen in der Geschichte der Häresie ist ihre Macht, die sich organisieren und fortdauern, wenigstens bis sie sich in eine feinere und mehr aggressive Form auflöst, wie z.B. der Arianismus, der mit der katholischen Kirche in Konstantinopel, in der Lombardei und in Spanien rivalisierte, der Donatismus, welcher der Kirche in Afrika gleich kam; der Nestoranismus, welcher an Zahl die Kirche in Asien übertraf; der Islam, welcher die meisten seiner Vorläufer strafte und verschlang, und im Osten und Süden die schreckliche antichristliche Militärmacht gründete, welche die Welt je gesehen, und der Protestantismus, der sich zu einem gewaltigen politischen Gegner des Heiligen Stuhles organisierte nicht nur im Norden, sondern durch seine Politik und Diplomatie selbst in katholischen Ländern.

Zu dieser Expansionskraft kommt noch eine gewisse krankhafte und schädliche Wiedererzeugung. Die Physiologen sagen uns, daß es zuletzt eine vollkommene Einheit gibt, sogar in den zahllosen Krankheiten, welche den Leib verzehren; dem ungeachtet scheint jede Krankheit durch eine Ansteckung und Wiedererzeugung ihr Geschlecht fortzupflanzen. Ebenso in der Geschichte und Entwicklung der Häresie. Um nur den Agnostizismus, Arianismus und vor allem den Protestantismus zu nennen, so haben sie ein jeder eine Menge von untergeordneten und verwandten Häresien hervor gebracht. Aber es ist der Protestantismus, welcher vor allen übrigen die drei von den inspirierten Schriftstellern angegebenen Merkmale am deutlichsten an sich trägt. Andere Häresien haben sich Teilen und Einzelheiten des christlichen Glaubens und der Kirche entgegen gesetzt, aber der Protestantismus, in seinem historischen Komplex genommen, so wie wir ihn jetzt im Rückblick auf dreihundert Jahre ermessen können, von der Religion des Luther, Calvin und Cramer einerseits, bis zu dem Nationalismus und Pantheismus in England und Deutschland andererseits, ist unter allen und in allen Einzelheiten der förmlichste und ausgesprochenste Gegner des Christentums. Ich will nicht sagen, daß er bis jetzt seine volle Entwicklung erreicht hat; denn wir werden Gründe finden für die Annahme, daß er noch mit einer schwärzeren Zukunft schwanger geht; allein selbst soweit „das Geheimnis der Bosheit“ bereits wirksam war, ist bis jetzt kein anderer Gegner so tief gegangen, um den Glauben der christlichen Welt zu untergraben.

Ich will jetzt keine Abhandlung über die Reproduktionskraft des Protestantismus schreiben. Es ist hinreichend, gewisse Tatsachen aufzustellen, die aus der Geschichte des Geistes der letzten drei Jahrhunderte von selbst klar sind, daß nämlich der Sozinianismus, der Nationalismus und Pantheismus die rechtmäßigen Sprösslinge der Lutherischen und Calvinischen Häresie sind, und daß das protestantische England, unter den protestantischen Ländern das am wenigsten geistig entwickelte und konsequente, in diesem Augenblick eine reichliche Weide darbietet für die Mitteilung und Wiedererzeugung dieses Geistes des Irrtums.

Alles, was ich hervorzuheben wünsche, ist, um eine moderne Phrase zu gebrauchen, daß die Bewegung der Häresie eine und dieselbe ist von Anbeginn; daß die Gnostiker die Protestanten ihrer Zeit waren, und die Protestanten die Gnostiker der unserigen sind; daß das Prinzip identisch ist, und der Umfang der Bewegung größere Proportionen angenommen hat; daß ihre Erfolge sich vermehrt haben und ihr Antagonismus gegen die katholische Kirche unverändert und wesentlich ist. Es gibt zwei Folgen und Wirkungen dieser Bewegung, die in Beziehung auf ihr Verhältnis zur Kirche so seltsam und so bedeutungsvoll sind, daß ich sie nicht übergehen kann.

Die erste ist die Entwicklung und der Kult des Prinzips der Nationalität, was sich immer in Verbindung mit der Häresie gefunden hat. Die Menschwerdung aber hob alle nationalen Unterschiede innerhalb der Sphäre der Gnade auf, und die Kirche verband alle Nationen zu einer übernatürlichen Einheit. Eine Quelle der geistlichen Gerichtsbarkeit und Eine göttliche Stimme hielt den Willen und die Handlungen einer Völkerfamilie zusammen. Früher oder später hat jede Häresie sich mit der Nation identifiziert, in welcher sie aufstand. Sie lebte durch die Unterstützung der Zivilgewalten und diese haben den Anspruch auf nationale Unabhängigkeit in sich aufgenommen.

Diese Bewegung, die der Schlüssel des sogenannten großen abendländischen Schisma ist, ist auch der Grund der Reformation, und die letzten drei hundert Jahre haben dem Nationalitätsgeiste eine Entwicklung und eine Kraft verliehen, von der wir bis jetzt kaum mehr als ein Vorspiel sehen. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, wie dieser Nationalitätsgeist wesentlich schismatisch ist, was man nicht nur in der anglikanischen Reformation sehen kann, sondern auch in den gallikanischen Freiheiten und in den Streitigkeiten Portugals in Europa und in Indien, um nichts weiter anzuführen.

Ich habe auf dieses Resultat der Häresie aufmerksam gemacht, weil es eines von den drei oben erwähnten Merkmalen bewahrheitet. Wenn die Häresie in dem Individuum die Einheit der Menschwerdung auflöst, so löst die Häresie in einer Nation die Einheit der Kirche auf, die auf die Inkarnation gebaut ist. Und hierin sehen wir eine wahrere und tiefere Bedeutung der Worte des heiligen Hieronymus, als e selbst voraussah. Es ist nicht die Empörung der Völker gegen das römische Reich, sondern die Apostasie der Völker von dem Reiche Gottes, das auf den Trümmern desselben aufgerichtet wurde. Dieser Prozeß des nationalen Abfalles, der offen mit der protestantischen Reformation begann, macht, wie wir später sehen werden, seinen Lauf fort selbst unter Nationen, die noch dem Namen nach katholisch sind, und die Kirche legt ihren mittelalterlichen Charakter als die Mutter der Völker ab und kehrt wieder in ihren ursprünglichen Zustand als eine Gesellschaft von Gliedern zurück, die unter die Völker und Städte der Welt zerstreut sind.

Das andere Resultat, das ich als die Folge der späteren Wirkungen des häretischen Geistes anführte, ist die Vergötterung der Menschheit. Dies haben wir in zwei deutlichen Gestalten vor uns, nämlich in der pantheistischen und in der positiven Philosophie, der letzten Verirrung Comte`s.

Es wäre hier unmöglich, einen vollkommenen Nachweis über diese zwei Schluss-Entwicklungen des Unglaubens zu geben; dazu würde eine Abhandlung erforderlich sein. –
aus: Kardinal H. E. Manning, Der Antichrist oder Die gegenwärtige Krise des Heiligen Stuhles, 1861, S. 17 – S. 23

Fortsetzung folgt: Die Häresie des Pantheismus und positive Philosophie – Die Vergötterung der Menschheit

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