Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Wunder
I. Begriff
Wunder im theologischen Sinn ist ein von Gott außerhalb der Naturordnung gewirkter, empirisch erkennbarer Vorgang. Damit es empirirsch erkennbar sei, muss es dem natürlichen Erfahrungsbereich angehören, entweder dem des Geisteslebens oder dem der Natur (Geistes- und Natur-Wunder). Vorgänge, die nur durch den Glauben zu erkennen sind, z. B. die Transsubstantiation, gelten nicht als Wunder, obwohl sie eminent übernatürlich sind. Ebenso begründet das unmittelbare Wirken Gottes im Rahmen der Naturordnung, etwa der sog. Concursus divinus oder die Erschaffung der einzelnen Menschenseelen, kein Wunder.
Das Wunder liegt außerhalb der natürlichen Seinsordnung, sei es, daß Gott etwas wirkt, was die Naturkräfte überhaupt nicht zu wirken vermögen: miraculum supra naturam (z. B. die Verklärung des Leibes); sei es, daß er eine an sich natürliche Wirkung hervorbringt ohne Benützung der Naturkräfte: mir. Praeter naturam (z. B. die plötzliche Heilung einer organ. Krankheit durch ein Wort); sei es, daß er die Wirkung hemmt, welche Naturkräfte in einem bestimmten Fall haben müssten: mir. Contra naturam (z. B. die Erhaltung der 3 Jünglinge im Feuerofen). Die Wunder werden auch eingeteilt in absolute und relative. Absolute Wunder können nur durch die göttliche Allmacht gewirkt werden, was aber nicht ausschließt, daß Gott einen Engel oder Menschen als Werkzeug benützt. Hierher gehören besonders solche Wunder, bei denen eine Neuschöpfung oder Wesensverwandlung vorliegt.
Relative Wunder
Relative Wunder sind übernatürliche Wirkungen, die Engel kraft ihrer höheren Erkenntnis und Macht hervorbringen. Da die Engel sich nur in vollkommener Übereinstimmung mit Gottes Willen betätigen, sind die von ihnen gewirkten Wunder positiv von Gott gewollt und daher Wunder im eigentlichen Sinne, während dämonische Werke solcher Art („Lügen-Wunder“: 2. Thess. 2, 9; Apk. 13, 13f.) von Gott nur zugelassen sind. Eine Abschwächung, im Grunde genommen eine Preisgabe des Wunderbegriffs, ist die Präformationstheorie, d. h. die Annahme, die Wunder seien Wirkungen verborgener Naturkräfte, die nur ausnahmsweise zu bestimmten Zeiten in Aktion treten (Leibniz, Houtteville, Bonnet, Grey). Ebenso wenig werden natürliche Vorgänge, ob gewöhnliche oder ungewöhnliche, dadurch zu Wundern, daß sie in die religiöse Weltbetrachtung aufgenommen und zugleich als Ausflüsse göttlicher Wirksamkeit gedeutet werden (Schleiermacher u. viele andere protestantische Theologen). Auch auffallende Gebetserhörungen sind in der Regel keine Wunder. –
Die Kirche hat die Möglichkeit, Erkennbarkeit und Beweiskraft der Wunder wiederholt ausgesprochen, so gegen Bautain (Denzinger Nr. 1624), auf dem Vaticanum (ebd. 1790 u. 1813) und gegen den Modernismus (ebd. 2145).
II. Gott und die Wunder
Gott ist der absolute, persönliche Geist, der die Welt erschaffen und sich nach der Erschaffung nicht vor ihr zurückgezogen hat, sondern ständig in ihr fortwirkt. Nur von dieser Voraussetzung aus kann, von ihr aus muss aber auch mit der Möglichkeit des Wunders gerechnet werden. So folgerichtig deren Leugnung für den Pantheismus und Deismus ist, ebenso folgewidrig ist sie auf theistischem Boden. Als persönlicher Geist gehört Gott nicht zur Natur, sondern steht denkend, wollend und wirkend über ihr, ähnlich wie der Mensch. Während aber der Mensch durch seinen Leib mit der Natur verknüpft und in seinem Wirken an ihre Kräfte gebunden ist, vermag Gott als der absolute Geist kraft seiner Allmacht durch bloßen Willen zu wirken, wie er ja auch die Welt durchs einen Willen ins Dasein gerufen hat. Die Wunder sind nach dem Sprachgebrauch der Hl. Schrift göttliche Machterweise, wobei allerdings nicht scharf unterschieden wird zwischen Naturvorgängen und Wunder im eigentlichen Sinn.
Gottes Freiheit und Allmacht gegenüber der Welt ist jedoch nicht Willkür. Wie in seiner natürlichen Vorsehung, so ist er auch bei seinem Wunderwirken geleitet von seiner Weisheit und Güte. Die Wunder sind von Ewigkeit her aufgenommen in den göttlichen Weltplan, der alles umfasst, was im Laufe der Zeit in der natürlichen wie übernatürlichen Ordnung wirklich wird. Sie sind nicht Notbehelfe, die nachträglich die Welt zurechtrücken und verbessern sollen, vielmehr Auswirkungen der übernatürlichen Heils- und Gnadenordnung, wodurch diese sich einsenkt in die natürliche Lebensordnung und sich dem Menschen in sinnlich-anschaulicher Weise ankündigt, ausweist und darstellt. Sie begleiten das Offenbarungswort Gottes und geben ihm neben dem inneren Wahrheitszeugnis des Hl. Geistes auch die äußere Beglaubigung entsprechend der Natur des Menschen als eines geistig-sinnlichen Wesens. Daher werden sie in der Hl. Schrift „Zeichen“ genannt.
III. Die Welt und die Wunder
Auf Grund ihrer Geschöpflichkeit ist die Welt im Ganzen und im einzelnen bedingt. Dies gilt auch von den Naturgesetzen, denen keine absolute, sondern nur physische Notwendigkeit zukommt. Sie lassen daher noch Raum für anderweitige Möglichkeiten. Es ist z. B. zwar physisch unmöglich, aber nicht innerlich widersprechend, daß die vorhandene Materie und Energie vermehrt oder vermindert wird. Natürlich ist dazu eine entsprechende Ursache erforderlich; als solche könnte in diesem Falle nur Gottes Allmacht in Betracht kommen, die ja auch ursprünglich den Stoff aus nichts hervorgebracht hat. Die Geschöpflichkeit der Welt bedeutet aber nicht nur Abhängigkeit von Gott, sondern auch Hinordnung auf ihn und Aufgeschlossenheit für sein Wirken, durch das sie getragen und ständig im Dasein erhalten wird.
Schon innerhalb der Welt greifen die verschiedenen Seinsstufen mannigfaltig ineinander, so daß vielfach die Wirkung einer Kraft durch eine andere in eine höhere Sphäre emporgehoben oder in eine andere Richtung gelenkt oder paralysiert wird. Vor allem schafft der Mensch in der Kultur durch zweckmäßige Benützung der Naturkräfte Gebilde, welche die Natur für sich allein nie hervorbrächte. Ähnliches geschieht beim Wunder. Gott ist zwar nicht auf die Naturkräfte angewiesen, trägt ihnen jedoch Rechnung. Wir wissen allerdings nicht und brauchen auch nicht zu wissen, wie er es im Einzelnen angeht, wenn er ein Wunder wirken will; er findet schon die nötigen Mittel und Wege.
Die Naturgesetze werden durch Wunder nicht aufgehoben
Jedenfalls werden die Naturkräfte und Naturgesetze durch das Wunder nicht aufgehoben, auch nicht durch das miraculum contra naturam, so wenig es beispielsweise die Schwerkraft aufhebt, wenn der Mensch das Wasser hindert, bergab zu fließen. Daher wird durch den Wunderglauben auch das Vertrauen auf die Naturordnung nicht zerstört, weder für die Forschung noch für das praktische Leben. Die Konstanz der Naturgesetze ist vielmehr geradezu Voraussetzung für den Schluss auf eine übernatürliche Kausalität, wenn sich ein Vorgang nicht natürlich erklären lässt. Der statistische Charakter der Naturgesetze könnte ein Wunder eher als möglich erscheinen lassen, ist aber jedenfalls keine notwendige Bedingung dafür und macht es auch nicht unmöglich, ein Wunder mit Gewissheit festzustellen. Ist die Exaktheit der Naturgesetze auch keine absolute, so doch eine vollkommene. Sonst wäre es nicht möglich, sie in mathematischen Formeln auszudrücken und zur Grundlage der Technik mit ihren so minutiösen Berechnungen zu machen. Daher ist, wenn ein Ereignis ganz aus dem Rahmen des naturgesetzlich geregelten Geschehens fällt, der Schluss auf eine übernatürliche Kausalität unumgänglich.
IV. Wunder und Mensch
Als Element der übernatürlichen Heilsordnung hat das Wunder letztlich einen religiösen Zweck, wenn auch sein nächster Zweck, der indes auch nur gut sein kann, in der natürlichen Lebenssphäre liegt. Daraus folgt jedoch nicht, daß das Wunder als solches konstituiert werde oder nur erkannt werden könne durch den Glauben. Es ist gegeben durch seinen Vollzug von Seiten Gottes und kann an sich auch ohne den Glauben erkannt werden. Dazu ist nicht notwendig, alle Kräfte der Natur zu kennen. Das Wunder ist immer ein konkreter Einzelvorgang, für den nur bestimmte Naturkräfte in Betracht kommen. Auch ist es bezüglich dieser nicht notwendig, ihre Reichweite genau zu kennen, um mit Bestimmtheit sagen zu können, daß sie dieses oder jenes nicht wirken können. Wissen wir auch nicht genau, wie weit die Seele auf den Körper einzuwirken vermag, so ist es doch sicher, daß ein Toter natürlicher Weise nicht wieder lebendig wird. Manchmal mag es allerdings zweifelhaft bleiben, ob ein Vorgang natürlich oder übernatürlich ist. Aber auch wenn das letztere feststeht, ist der Schluss auf eine direkt oder indirekt göttliche Kausalität nicht ohne weiteres berechtigt.
Die Möglichkeit eines diabolischen Wunders
Es muss mit der Möglichkeit des diabolischen Wunders gerechnet werden. Die unterscheidenden Merkmale zwischen und unechten Wundern sind die Persönlichkeit des Wundertäters, die Begleitumstände und besonders der Zweck. Ist es auch nicht ausgeschlossen, daß Gott für Un- oder Irrgläubige ein Wunder wirkt, zu ihrem persönlichen Nutzen und Frommen, so sicher nicht zur Bekräftigung des Irrtums, zur Befriedigung des Eigennutzes, der Ehrsucht, der Neugierde oder der Sensationslust oder unter Gefährdung der guten Sitte. In solchen Fällen wäre, ist ein Vorgang nicht natürlich erklärbar, diabolische Einwirkungen anzunehmen.
V. Wunder und Geschichte
Zur empirischen Feststellung eines Wunders ist nicht mehr und nicht weniger erforderlich als bei jedem natürlichen Ereignis, das sinnlich wahrgenommen werden kann: gesunde Sinne, klares, nüchternes Denken, sodann, wenn das Wunder durch andere berichtet wird, persönliche Glaubwürdigkeit der Zeugen und bei Wundern der Vergangenheit Zuverlässigkeit der Quellen. Erfüllt ein Wunderbericht die Bedingungen, die eine gesunde Kritik an ihn zu stellen hat, dann steht das betreffende Wunder historisch fest. Der Wundercharakter eines Ereignisses berechtigt nicht, das betreffende Zeugnis zu übergehen, zu verdächtigen oder zu verwerfen.
Geschieht es trotzdem, so sind nicht historisch-kritische, sondern bestimmte philosophische Gründe, und zwar falsche, maßgebend. Das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität oder der Immanenz hat seine Berechtigung, aber keine absolute. Die Einwendungen Humes gegen die historische Erkennbarkeit des Wunders beruhen auf seiner falschen sensualistischen Erkenntnstheorie. Gewiss ist der Inhalt einer Aussage nicht belanglos für deren Glaubwürdigkeit; doch diese hängt in erster Linie von der persönlichen Glaubwürdigkeit dessen ab, der sie macht.
Der Grund, weshalb wir menschlichen Aussagen Glauben schenken, liegt nicht darin, daß wir uns daran gewöhnt haben, Übereinstimmung zwischen ihnen und unserer Erfahrung wahrzunehmen, sondern in der Erkenntnis, daß der Mensch eine sittliche Persönlichkeit ist und daß leichtfertige oder unwahre Aussagen unsittlich sind. Auch besteht der von Hume behauptete Widerspruch zwischen unserer natürlichen Erfahrung und dem Wunderzeugnis nur dann, wenn beide rein äußerlich genommen werden, so wie sie in die Sinne fallen. Er schwindet, wenn sie ihrem tieferen Sinn nicht erfasst werden, was natürlich nur durch den Verstand möglich ist. Allein überall kommt wirkliche und gesicherte Erfahrung nur zustande durch das sachliche und nicht bloß formale Zusammenwirken von sinnlicher Wahrnehmung und Verstand.
VI. Außerbiblische Wunder
Die Wunder Buddhas und Krishnas sind, abgesehen von ihrer ganz unzulänglichen Beglaubigung, im Allgemeinen so phantastisch, daß ihre Unechtheit handgreiflich ist. Ihnen gegenüber sind die Wunder der Apokryphen, welche die Kirche nie anerkannt hat, harmlos und bescheiden. Auch die rabbinischen Wunder erweisen sich teils durch ihre Natur, teils durch die Aufmachung als Phantasieprodukt. Ganz legendär sind die hellenistischen Wunder-Erzählungen. Meistens handelt es sich um Krankenheilungen, oft recht groteske. Die gewöhnlich bei der sog. Inkubation in einem Heiligtum des Serapis oder Äskulap (Epidauros) oder anderer Gottheiten gewirkt wurden, sei es unmittelbar oder durch Angabe geeigneter Heilmethoden.
Ganz aus der Luft gegriffen sind die Berichte nicht. Zweifellos liegen vielfach auffallende Heilungen psychogener Natur vor. Die alten Kirchenschriftsteller. Die diese Dinge zum Teil noch aus eigener Anschauung kannten, erklärten sie für diabolisch. Das Leben des Apollonius von Tyana ist meist unhistorisch. Doch scheint er Zauberpraktiken ausgeübt zu haben, durch die er auf seine Zeitgenossen Eindruck machte.
Mohammed wich der Forderung, zur Beglaubigung seiner Sendung Wunder zu wirken, stets aus; erst die spätere Überlieferung hat ihm Wunder zugeschrieben. Die Wunder der Albigenser, Camisarden, Jansenisten (Konvulsionäre) und Mormonen gehören einer so schwülen, teilweise unsittlichen Atmosphäre an, daß sie, wenn sie echt sind und sich nicht natürlich erklären lassen, nur diabolischen Ursprungs sein könnten. Die spiritistischen Phänomene sind zum weitaus größten Teil unecht; soweit sie echt sind, lassen sie sich im allgemeinen natürlich erklären (Spiritismus)… –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. X, 1938, Sp. 980 – Sp. 984