Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Wiclif
Wiclif (Wyclif), John v., der bedeutendste der sog. Vorläufer der Reformation, *um 1320 (1324?) zu Wicliffe oder Spreswell (Grafschaft Yorck) aus alt-sächsischem Adel, †13.12.1384 zu Lutterworth; studierte seit 1344/45 an der Universität Oxford unter den „Boreales“ als Schüler des Th. Bradwardine, ward Mag. Artium, Baccalaureus theol. und Vorstand des Balliol College daselbst, erhielt 1361 die Pfarrei Fylingham, 1365 die Leitung der Canterbury Hall (Seminar zur Heranbildung von geistlichen in Oxford), 1368 das Rektorat von Ludgershall unweit von Oxford, 1374 die einträgliche Kronpfarrei Lutterworth. Seine Beziehungen zur Universität Oxford hielt er ständig aufrecht und entfaltete seit etwa 1361 als Professor der Philosophie und Theologie, als Schriftsteller, Prediger und bald auch als Politiker eine umfassende Tätigkeit. Er billigte es als Patriot, daß König Eduard III. und das Parlament den von Papst Urban V. 1365 eingeforderten Lehenszins verweigerten. Doch fällt sein öffentliches reformatorisches Auftreten nicht schon in diese Zeit, wie man früher glaubte, sondern 10 Jahre später. 1374 war Wiclif beim „Friedenskongreß“ zu Brügge Mitglied einer englischen Kommission, die mit den päpstlichen Gesandten über die Abstellung der kirchlichen Beschwerden Englands verhandelte. Mit dem Parlament stand er dauernd in Fühlung, war mehrfach dessen Gutachter in kirchenpolitischen Fragen, vielleicht selbst Mitglied, und ging immer mehr auf die schon länger im Lande herrschende, durch die Kriegsnöte mit Frankreich geförderte staatskirchliche und anti-päpstliche Strömung ein.
Einseitiges Bibelstudium (Wiclif ist mit Vorzug Biblizist; seine Anhänger nannten ihn Dr. evangelicus), Überspannung augustinischer Gedanken über Gnade und Prädestination und radikale Kritik der unerfreulichen kirchlichen Verhältnisse brachten seine Ideen, die auf eine völlige Umwälzung des Rechtes und der Lehre der Kirche hinausliefen, allmählich zur Reife. Seit 1376 entwickelte er in 12 größeren Schriften, die zusammen eine Summa theologiae bilden sollten, seine kirchenpolitischen und dogmatische Anschauungen; er brachte sie zugleich auf dem Katheder, auf der Kanzel (auch in London) und in volkstümlichen Schriften in die breite Öffentlichkeit. In den Traktaten De divino dominio, De civili dominio und De decem praeceptis griff er vor allem das kuriale Benefizien- und Steuersystem schärfstens an und erklärte das Einsammeln von annaten und Ablaßgeldern für Simonie. Die Kirche dürfe keine weltliche Herrschaft ausüben und solle arm sein wie zur Zeit der Apostel; der Staat möge das mißbrauchte Kirchengut, das den Armen gehöre, an sich nehmen. Diese Thesen fanden weithin Beifall, besonders beim Adel, den es nach den Kirchengütern gelüstete, auch beim gewöhnlichen Volk und bei den Franziskanern. Die begüterten Orden und die Bischöfe erhoben jedoch Einsprache; so wurde Wiclif im Februar 1377 vom Londoner Bischof zur Verantwortung gezogen, aber die Lords, besonders der Herzog Johann von Lancaster, schützten ihn wirksam. Von den Vorgängen benachrichtigt, forderte Papst Gregor XI. in 5 Bullen v. 22.5.1377 die geistlichen und weltlichen Behörden in England zum Einschreiten gegen Wiclif auf und verurteilte 18 seiner Sätze über das Kirchenregiment und das Kirchengut als irrig, kirchen- und staatsgefährlich. Doch König Richard II. bzw. der Herzog von Lancaster, das Parlament und die Universität Oxford stellten sich auf seine Seite. Auch ein neues Verhör vor dem Erzbischof v. Canterbury im März 1378 war erfolglos; Wiclif hielt das auferlegte Stillschweigen nicht. Er ward in Verteidigung seiner 18 Thesen zusehends radikaler und seit Ausbruch des abendländischen Schismas 1378 offen häretisch.
Damit beginnt die eigentliche reformatorische Periode Wiclifs, eingeleitet durch die Schriften De veritate sacrae scripturae, De ecclesia, De officio regis und De potestate papae (1378/79). Er erklärte darin die Hl. Schrift als die alleinige Grundlage des Glaubens und als die schlechthinige Norm in geistlichen und weltlichen Dingen und veranlaßte, um sie jedermann zugänglich zu machen, ihre Übersetzung ins Englische (nach der Vulgata); das Neue Testament übertrug er wahrscheinlich selbst. Die Kirche ist nachihm die unsichtbare Gemeinschaft der zur Seligkeit Prädestinierten; doch machte Wiclif nicht, wie später die böhmischen Wiclifiten, d.h. Husiten, die Heilswirkung der Sakramente vom Gnadenstand des Spenders abhängig. Er griff nicht nur die Päpste Gregor XI. und Urban VI. maßlos an, sondern verwarf das Papsttum an sich: der wahre Papst sei Christus, jeder Auserwählte ein wirklicher Priester vor Gott; der Bann des Papstes oder Bischofs schade dem nicht, der nicht zuvor von Gott gebannt sei. In späteren Schriften (De Christo et suo adversario Antichristo u.a.) bezeichnet er das Papsttum sogar als Einrichtung des Antichrist. Die „evangelische“ Herrschaft über den Klerus wird dem König zugewiesen. Das Mönchtum lehnte Wiclif überhaupt ab, als er sich auch von den Mendikanten, seinen früheren Freunden in der Armutsfrage, bekämpft sah, und nannte die Orden „Sekten“. Er verwarf die Ohrenbeichte als späte Erfindung, den Zölibat als unsittlich und verderblich, ferner die Abstufungen des Klerus, die kirchlichen Sündenvergebung, die Reliquien-, Heiligen- und Bilderverehrung, die Wallfahrten, Totenmessen und Benediktionen und wollte die Firmung und letzte Ölung nicht als Sakramente anerkennen. In den 12 Conclusionen von 1381 und namentlich in De eucharistia tractatus maior leugnete er die Wesensverwandlung im Altarsakrament und ließ Brot und Wein auch nach der Konsekration fortdauern (Remanenztheorie); der Gläubige empfange den Herrn nur geistlich und im Glauben.
An Stelle der hierarchischen Kirche setzte er einfach „arme Priester“ (poor priests), zunächst Kleriker, dann auch Laien, und sandte sie als Wanderprediger aus; ihre Gegner nannten sie Lollarden. 1381 brach ein großer Bauernaufstand aus; die aufreizenden Reden Wiclifs und und der Lollarden trugen Mitschuld daran. Der englische Episkopat trat daher energischer gegen die Irrlehre auf. Unter Vorsitz des Erzbischofs W. Courtenay v.Canterbury verwarf die sog. Erdbeben-Synode zu London im Mai 1382 24 Sätze Wiclifs, 10 als ketzerisch, 14 als irrig. Seine Parteigänger in Oxford wurden gebannt und zum Widerruf genötigt. Er selbst wurde November 1382 vor eine Synode zu Oxford zitiert, aber wegen des Ansehens, das er bei Hofe und im Parlament besaß, nicht gemaßregelt und blieb unbehelligt bis zum Tod in seiner Pfarrei Lutterworth. In dieser Zeit verfaßte er weitere Schriften, teils lateinisch, teils englisch (Streitschriften für das Volk). Von den ersteren sind besonders wichtig: der Trialogus, der die Summe seiner Lehre zeiht, der Dialogus sive speculum ecclesiae militantis, die Sermones (4 Bde) und als letztes, unvollendetes Werk das Opus evangelicum (Buch 3 u. 4: de Antichristo). Während Wiclif ein Meister der englischen Prosa ist, zeigen seine lateinischen Schriften die Formlosigkeit der verfallenden Scholastik; seine Beweisführung ist oft willkürlich. Wiclifs theologischer Determinismus stammt von seinem Lehrer Bradwardine; in praktischen und kirchenrechtlichen Fragen berührt er sich mit R. Fitzralph. Augustinus und Duns Scotus haben stark auf ihn eingewirkt.
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. X, 1938, S. 861-863