Das Gebot des Gebrauches der Vernunft
Der Gesunde redet nicht von Gesundheit, er denkt nicht einmal an sie. Fängt einer an, aller Welt mit seinen Gesundheits-Skrupeln lästig zu fallen, kauft er alle Gesundheits-Ratgeber und Geheimmittel zusammen, so weiß man, daß er krank ist, krank am Körper oder krank am Geist.
Auch der Freie weiß nicht, was Freiheit ist. Hat sich aber die Türe des Kerkers hinter ihm geschlossen, so ist Freiheit sein erster Gedanke beim Erwachen, sein letzter beim Einschlafen und die süßeste Täuschung seiner Träume.
Nicht anders ist es in der Geschichte. Die Griechen, die Römer waren einstens frei. Damals taten sie Taten von Freien und hatten zu leeren Worten über die Freiheit weder Lust noch Zeit. Als sie Sklaven wurden, war ihr Traum die Freiheit. Zwar taten sie nichts der Freiheit Würdiges mehr; dafür ließen sie sich von ihren stoischen Philosophen Predigten darüber halten, wie der Weise auch in Fesseln frei sei. Auch im Mittelalter war Freiheit eines von den Worten, die man am seltensten aussprach; man begnügte sich damit, frei zu leben im Gehorsam gegen das Gesetz und in der Furcht Gottes und fand keinen Grund, nach Freiheit zu seufzen. Als Luther seine Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen“ herausgab, da zeigte die allgemeine Erregung, daß eine andere Zeit angebrochen war, in der die wahre christliche Freiheit verloren war und blieb.Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aber, seitdem die Menschheit unter dem dreifachen Joch des Radikalismus, der mißtrauischen Reaktion und der sog. Öffentlichen Meinung seufzt, hat das Geschrei um Freiheit einen Grad angenommen, daß man begreifen lernt, warum alles so nervös geworden ist.
Ähnliches können wir in Bezug auf die meisten Güter der Menschheit beobachten. Von dem Ruf nach einer neuen, befriedigenden Religion wollen wir hier nicht sprechen, …
Solange die Christen Christen waren, das heißt solange sie Glauben hatten, machten sie keinen Lärm damit und lebten ruhig nach ihrem Glauben. Als der Humanismus das Heidentum erneuert hatte, da schienen selbst die Sperlinge auf dem Dach kein anderes Lied mehr zu kennen als das vom neuen Glauben, den die Reformation endlich gefunden habe.
Keine Zeit machte so affektiert Parade mit dem Wort Tugend wie die Zeit Voltaires und der Pompadour. Nie hörte man mehr von Bruderliebe reden als in der Schreckensherrschaft, da man Gräben ziehen musste, um das Menschenblut abzuleiten.
Und seitdem sich der Karren der Weltverbesser so tief im Schlamm eingegraben hat, daß ihn alle Maschinen nicht mehr vorwärts bringen, erinnert einen der ewige Ruf vom Fortschritt an jene italienischen Fuhrleute, die mit Ohren zerreißendem Zuruf um ihren Esel herum springen, indes dieser hartnäckig stehen bleibt, weil er, klüger als sie, zum voraus weiß, daß er diese Last nie über den Berg hinauf bringt, wenn ihm nicht kräftigere Hilfe wird.
Dann wird es wohl mit unserem Feilbieten der Vernunft auch nicht viel mehr auf sich haben. Seit zwei Jahrhunderten seufzt die Welt nach Vernunft. Brächten nicht Revolution und Krieg manchmal Abwechslung, es müsste ihr selber längst zum Ekel geworden sein. Erst der rücksichtslose Deismus, der echt englisch der Vernunft mit den Ellenbogen Platz bahnen will. Dann Voltaire mit den Seinigen, die ihr eine Gasse mit Kot und Steinwürfen machen. Dann die dürre, geistlose Aufklärung, jene Vogelscheuche in der Nachthaube, der jeder schon aus Schrecken aus dem Weg ging. Dann die Mitleid erregende Gassenbuben-Literatur der Wiener Fünf- und Zehnkreuzer-Schreiber unter Joseph II. Schließlich die leibhaftige Anbetung der Vernunft-Göttinnen auf den entweihten Altären des lebendigen Gottes.
Man sollte denken, das wäre genug gewesen, um die Welt zur Vernunft zu bringen. Aber nein. Mehr als jemals füllt der Ruf nach Vernunft die entferntesten Winkel der Erde. Den Kindern und den Frauen möge ja im allgemeinen die Religion noch belassen werden, und auch der gemeine Haufe möge vorläufig seine Religion behalten, es sei ihm sonst nicht zu trauen. Aber der wahrhaft Gebildete brauche etwas Besseres, etwas, was seiner würdiger sei. Es sei hoch an der Zeit, ihr endlich den Sieg zu verschaffen und sie zur unbeschränkten Herrschaft zu erheben.
Das ist aber der große Irrtum und die schwache Seite des Rationalismus, daß er glaubt, man brauche, um zu Vernunft zu kommen, bloß davon zu reden. Das Christentum geht umgekehrt von dem Grundsatz aus, man solle die Vernunft nur gebrauchen, dann sei sie von selber da. Der Rationalismus führt die Vernunft im Mund, das Christentum lieber im Kopf und ein wenig auch im Herzen. Der Unglaube meint, man könne sich vernünftig wünschen und schelten. Der Glaube sagt: Vernunft kommt bloß vom vernünftigen Tun und Leben. Man kann sich nicht vernünftig träumen und schwätzen, wohl aber vernünftig machen.
Dies ist der große Unterschied zwischen Welt und Christentum. Sicher fällt er auf der Waagschale eines besonnenen Richters nicht zu Ungunsten des Glaubens aus.
Am allerwenigsten aber auf der Waagschale des ewigen Richters. Dieser wird einst den Menschen nicht darum fragen: Wie oft hast du das Wort Vernunft im Munde geführt? Sondern die Frage wird lauten: Wie hast du die Vernunft , die ich dir verliehen, gebraucht? Wie hast du nach deiner oder vielmehr nach meiner Vernunft gelebt? Danach wird sich das Urteil für alle gestalten, zumal für jene, die nicht nach der Offenbarung lebten. Die ohne ihre Schuld vom Glauben nichts gewußt haben, werden ohnehin bloß nach der Vernunft und nach ihrem Gewissen gerichtet. Die aber, welche aus eigener Schuld ohne Glauben lebten, werden doppelt streng nach der Vernunft geprüft, einmal, weil sie sich mit so viel Zuversicht und Stolz auf die Vernunft beriefen, und dann, weil sie die Wahrheit der Offenbarung hätten finden müssen, wenn sie nur anders von der Vernunft nicht bloß gesprochen, sondern auch Gebrauch gemacht hätten.
Das wird eine der größten Enttäuschungen beim Gericht sein, wenn die, welche jetzt das Gesetz Gottes anklagen, daß es die Vernunft unterdrücke, wenn diese die erschreckliche Erfahrung machen werden, daß sie gerade deswegen verurteilt werden, weil sie von der Vernunft zu wenig Gebrauch gemacht haben.
Denn das erste wie das strengste Gebot des Christentums ist ja eben, daß wir unsere Vernunft anwenden. Warum beurteilt ihr denn nicht von euch selber, was recht ist? (Lk 12, 57) So sprach der Herr schon im Leben zu denen, die alles am Himmel und unter dem Himmel zu verstehen meinten und deshalb glaubten, sich über das hinweg setzen zu dürfen, was er ihnen von den Dingen im Himmel offenbarte. Und warnend mahnt er jeden: Siehe nur zu, daß das Licht, welches in dir ist, nicht Finsternis werde. (ebd. 11, 35) Denn wenn dieses Licht in dir Finsternis ist, dann ist deine Finsternis vollständig. (Mt. 6, 23) Solange also einer seine Vernunft gebraucht, so lange ist er nicht von allem Licht und von aller Hoffnung auf Rettung verlassen. Wer aber die Finsternis mehr liebt als das Licht, so daß er, um dem Licht des Glaubens zu entkommen, lieber die Augen verschließt und auch die natürliche Leuchte seines Verstandes auslöscht oder doch verbirgt, der spricht sich selbst das Gericht als Feind des Lichtes. (Röm. 12, 1)
Was verlangt denn der Glaube mehr als einen vernünftigen Dienst Gottes? Was kann also, sagt Justin der Märtyrer, der Mensch Besseres tun, als daß er seine Vernunft herrschen lasse? Zum Denken hat er seine Vernunft, und denken ist seine Pflicht. Das ist das größte und Beste, was ihm zu vollbringen obliegt; alles andere ist dagegen Nebensache. So schon der erste Verteidiger des Offenbarungs-Glaubens. Die übrigen folgen ihm alle darin nach, daß sie es für die erste, für die unerläßliche Pflicht des Menschen erklären, von der Vernunft Gebrauch zu machen. Um die Wahrheit zu erkennen, sagt in ähnlichem Sinn Athenagoras, gibt es keinen besseren und sichereren Weg, als die von Gott verliehene Vernunft in Anwendung zu bringen. Jeder Mensch ist verpflichtet, nach Wahrheit zu streben. Der Weg dazu ist aber der Gebrauch der Vernunft. Denn die natürliche Vernunft führt, richtig benutzt, sicher zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Ablegung der Torheit. So Hieronymus. Ich bitte dich, ruft darum der hl. Augustin jedem zu, siehe nur einmal, ob du in der menschlichen Natur etwas Erhabeneres findest als die Vernunft, das Haupt, das Auge der Seele. Wenn ja, so halte dich an dies. Wenn aber nicht, so gebrauche die Vernunft in der Tat und rede nicht bloß von ihr, damit du zur Wahrheit und dadurch zum Frieden kommst. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 63 -68