Der Liberalismus ist noch nicht tot
Sieben Dinge, die den Liberalismus ausmachen
8. So stehen wir heute abermals mitten im alten Liberalismus, nur daß wir uns das nicht gerne gestehen. Was den Liberalismus in den Zeiten vor und nach dem Konzil so gefährlich gemacht hat, das ist alles ohne Änderung der Sache manchmal unter modern klingenden Namen, oft auch mit den alten Phrasen, sozusagen zum Gemeingut in weiten Kreisen geworden. (siehe den Beitrag: Brennende Fragen zur Sünde des Liberalismus)
Die Abneigung gegen die kirchliche Autorität, zumal gegen die jenseits der Berge, das leidige Erbstück aus vergangenen Jahrhunderten, steht allen frommen Redensarten zum Trotz in der üppigsten Blüte. Darüber kann uns kein Zürnen und kein Leugnen hinwegtäuschen und es täuscht sich auch darüber niemand, der die Dinge kennt.
Der Haß gegen die Prinzipien der altüberlieferten Philosophie und Theologie gibt sich nicht einmal Mühe, sich zu verstecken oder zu beschönigen.
Über das Wort Minimismus erhebt sich allerdings oft Entrüstung, in Wirklichkeit jedoch gesteht man ohne Scheu, daß man nur das als verbindlich gelten lasse, was die Kirche ausdrücklich ex cathedra unter Strafe des Bannes befehle oder verbiete, daß man sich aber sonst nichts gefallen lasse, also nichts, was die Theologie aufgrund ihrer Gesetze als zum Glauben gehörig fest stellt, nichts, was die Geschichte aus der Tradition, aus der gemeinsamen Lehre der Väter, aus alten kirchlichen Entscheidungen aufs Gewissen bindet – sicher Minimismus oder auch Laxismus in der echtesten Gestalt.
Immer und überall die Furcht, es könnte dem Glauben zu viel zugemutet werden, das Übernatürliche, das Wunderbare, die Offenbarung könnten sich für unsern nüchternen Verstand allzu unbequem breit machen, die Anforderungen der christlichen Sitte und Askese uns Pflichten und Überwindungen auferlegen, die unserm Geschmack nicht mehr zusagen.
In eben demselben Maße steigt dagegen die Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die Wissenschaft, die Bildung, die Kultur der Zeit, die krankhafte Sucht, mit der Welt in Frieden, ja in Freundschaft und Gemeinschaft zu leben.
Selbstverständlich folgt daraus wieder das Bestreben, die schroffen Anforderungen des Katholizismus mit Rücksicht auf den Zeitgeist zu mildern und mit diesen in Ausgleich zu bringen, Prinzipienlosigkeit, Eklektizismus, Halbheit, Hin- und Herschwanken, Unzuverlässigkeit in Wort und Leben.
Das alles wäre aber unmöglich, wenn der alte Begriff von innerer Gebundenheit fortbestände; es wird also, seltener ausdrücklich in der Lehre, desto mehr in der Tat durch das Prinzip der Selbstherrlichkeit, des Subjektivismus, der Autonomie ersetzt.
Nun sage jemand, ob wir in diesen sieben Dingen nicht alles haben, was den Liberalismus ausmacht. Es hieße den sogenannten Zeitgeist völlig verkennen, wenn wir nicht zugestehen wollten, daß er, so wie er im Durchschnitt auftritt, in diesen wenigen Sätzen gekennzeichnet ist. Er herrscht nicht überall gleichmäßig, das ist unleugbar. Aber wo er die Herrschaft hat, da wirkt wenigstens ein Gutteil des Gesagte in den Geistern und in den Herzen. –
aus: Albert Maria Weiß O.P., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 7 – S. 9