Der Liberalismus als Gefahr für den Katholizismus
Der Liberalismus als Kluft unter den Katholiken
3. … selbst katholische Landsleute stehen ihren katholischen Landsleuten feindseliger gegenüber als den Irrgläubigen und den Ungläubigen. Nennt sich einer in der Öffentlichkeit katholisch, so muss er sich darob verteidigen, gleich als hätte er ein großes Unrecht begangen und den Keim der Spaltung in das eigene Lager geworfen. Tritt er vollends in Wort und Schrift nach alter katholischer Weise auf, so muss er sich darauf gefaßt halten, daß man den Kreuzzug gegen ihn predigt, ihn moralisch tot macht und seine Schriften mit Bann und Acht belegt. Dann braucht man sich aber wahrhaftig nicht darüber zu verwundern, daß das Wort christlich, wenn es dem Wort katholisch gleichsam wie eine Verurteilung gegenüber gestellt wird, Unruhe und Sorge auf der andern Seite hervorruft und beinahe als Losungswort für eine bedenkliche Richtung betrachtet wird.
Ablenkung von dem gemeinsamen Feind
Die Folge von all diesem Elend ist, daß über dieser inneren Zwistigkeit die Aufmerksamkeit von dem gemeinsamen Feind, dem immer mehr drohenden Geist des Umsturzes und des Unglaubens, abgelenkt wird. Ist es doch soweit gekommen, daß man zürnt oder spottet, wenn jemand von einer Gefahr für die Religion zu reden wagt. Die einzige Gefahr, für die der Blick noch offen steht, – schon aus politischen Gründen, – ist die Sozialdemokratie. Aber gerade die Art und Weise, wie man diesem Ungeheuer begegnen will, zeigt, wie sehr durch die Abweisung des Wortes katholisch der Blick für den Ernst der Lage und für deren wahre Gründe getrübt ist. Man vergißt über dem inneren Elend mehr und mehr, mit wem man es zu hat. Aus lauter Furcht, Religion und Konfession im öffentlichen Leben zur Sprache zu bringen, gewöhnt man sich, die Sozialdemokratie als fast rein politische Partei zu bekämpfen. Welche Verirrung! Nicht die sozialen Übelstände sind es, die das Unheil herauf beschworen haben, und nicht durch rein wirtschaftliche Maßregeln oder durch die Verbrüderung mir den sogenannten „staatserhaltenden“ Parteien kann ihm abgeholfen werden, sondern aus den sittlichen Übeln erwachsen die gesellschaftlichen, und aus den religiösen die sittlichen: die politischen und die sozialen Gefahren wären bald wieder beseitigt und selbst die wirtschaftlichen Zustände ließen sich leichter bessern, wenn man ohne Streit zugestehen wollte, daß das öffentliche Leben steht und fällt, je nachdem man es dem Einfluß der Religion unterstellt oder entzieht. Darum ist für jene Gefahr keine Hilfe möglich, wenn nicht die Gefahren des Unglaubens, des Monismus, der freien Wissenschaft, wenn nicht die Angriffe auf die Kirche, die Erziehung, die Ehe beschworen werden; wenn nicht die Ansprüche der übernatürlichen Ordnung, sagen wir kurz der katholischen Kirche, auf die Beeinflussung der natürlichen Ordnung anerkannt werden. Damit aber diese Aufgabe gelinge, bedarf es vollster Einigkeit unter den Katholiken. Wenn diese selber in den wichtigsten Grundfragen einander bekämpfen, kann man dann ein Verständnis dafür bei den Gegnern voraussetzen? Kann man erwarten, daß unsere Bemühungen um Besserung der Dinge Erfolg haben werden? Der leidige Hader hat nicht bloß unsere Kräfte lahm gelegt, sondern es dahin gebracht, daß wir den Feind fast nur im eigenen Lager suchen, für alles übrige aber das Verständnis verloren zu haben scheinen.
Die Kluft zwischen den Katholiken
4. Zürne niemand, wenn wir sagen, der Liberalismus habe das Verständnis für die religiöse Gefahr, d. h. für die große, für die einzige Frage der Zeit oder doch für den Inbegriff aller Zeitfragen, verloren. Er hat nicht bloß das Verständnis dafür eingebüßt, er hat sogar die Fundamente der Religion erschüttert und dadurch das Verständnis überaus erschwert, ja fast unmöglich gemacht. Darin liegt es eben, das die Kluft zwischen den Katholiken so groß, so unüberbrückbar geworden ist, und daß die Aufregung, die dadurch hervor gerufen worden ist, sich nicht legen will. Das treue katholische Volk hat, wie wir bei einer andern Gelegenheit gezeigt haben (Lebens- und Gewissensfragen I 486, 501f), einen über aus feinen Sinn für alles, was seiner Religion Gefahr bringt, und wird umso unruhiger, je tiefer diese Gefahr greift, auch wenn es darüber nicht klare Rechenschaft zu geben weiß. Der Liberalismus greift aber – wir haben es bereits gesehen und werden es noch mehr sehen – an die tiefsten Grundlagen des katholischen Lehr- und Lebensgebäudes. Somit ist es unvermeidlich, daß jene traurigen Wirkungen eintreten. Es verlohnt sich, diesem Gedanken unsere Aufmerksamkeit zu schenken, denn er führt uns näher zu unserer eigentlichen Aufgabe, zur Erkenntnis des Liberalismus nach seinem wahren Wesen.
5. Die gutmütigen Seelen, die da immer meinen, man solle doch auf einzelne, vielleicht nicht ganz genaue, im Grunde aber harmlose Äußerungen und Regungen einer freieren Anschauung nicht gar soviel Gewicht legen, sonst richte man eher Schaden an, diese vertrauensseligen Optimisten sind schon alt, nur leider noch immer unbekehrt.
Sie haben schon den Kölner Wirren und dem Auftreten Luthers mit der nämlichen Gemütsruhe, ja mit einer gewissen Schadenfreude zugesehen. Das sei nur Mönchs- und Schulgezänk, meinten sie, es werde sich bald wieder legen. Es legte sich aber nicht. Es zeigte sich vielmehr, daß sich eine Kluft aufgetan hatte, die heute noch offen gähnt, ein Abgrund, über den niemand hinüber und niemand herüber kann. Wer zu lernen fähig war, der hätte daraus wohl lernen können, daß das keine müßigen Quertreibereien von Doktrinären waren, die sich aus ihrer scholastischen Verbohrtheit nicht heraus und nicht in eine neue Zeit und in eine neue Denkweise hineinfinden konnten, sondern Prinzipienkämpfe, entscheidende Verhandlungen über die Grundlagen des christlichen Glaubens, des katholischen Lebens, der kirchlichen Autorität und Verfassung. Leider haben nur allzu viele das nicht gelernt.
Die Sekte des Jansenismus
6. So spielte sich das gleiche Schauspiel wieder ab in den jahrhundertlangen Kämpfen mit dem Jansenismus. Noch heute sagen manche wie damals: Aber das ganze Gerede vom Jansenismus ist nur ein Schreckgespenst für Kinder! (1) Wie viele Tausende hat man zu den Jansenisten gerechnet, die gar nicht wußten, was der Jansenismus lehrte? Ja, das ist es eben, was wir meinen. Die eigentümlichen Sonderlehren des Jansenismus waren längst vergessen, der ursprüngliche Rigorismus der Jansenisten hatte vielfach einem gräulichen Laxismus und Libertinismus Platz gemacht, man konnte oftmals schwer sagen, ob die Leute Jansenisten oder Gallikaner oder vollendete Freigeister waren. Was aber geblieben war, das war der eigentliche Geist, der von allem Anfang an die Treibfeder dieser unheilvollen Sekte war, jener Geist, der aller kirchlichen Autorität höhnte, jener Geist, der mit unglaublicher Zähigkeit alle Einfälle der eigenen Selbstherrlichkeit zur Untergrabung des Gehorsams, des katholischen Gottesdienstes und des kirchlichen Lebens zu verwenden verstand, jener Geist, der riet, eben deshalb in der Kirche zu bleiben, damit man sie leichter untergraben könne, jener Geist, der jeden treuen Sohn der Kirche als minderwertig verfolgte und als hyperorthodox oder hyperkatholisch der Verachtung preisgab. Begreiflich, daß dieser Geist sich nicht zu verleugnen brauchte, als die Revolution ausbrach; er fand sich ohne Widerstand mit ihr ab, er war es, der die Zivilkonstitution des Klerus verfaßte.
(1) Es war ja zu allen Zeiten ein Hauptmittel, um der Verbreitung einer verderblichen Geistesrichtung alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, daß deren Anhänger die tiefste Verehrung für die Verurteilung durch die Kirche zur Schau trugen, dabei jedoch versicherten: Bei uns haben diese verabscheuungswürdigen Irrtümer keinen Boden. Dadurch schläferten sie die Wachsamkeit der Mißtrauischen ein und gewannen die große Menge der Gutmütigen. Niemals ist aber dieses Spiel so beharrlich getrieben worden, wie in den Zeiten des Jansenismus. Seine ganze Literatur geht darauf aus, sein Vorhandensein abzuleugnen… Selbst Bischof Godeau von Vénce wagte das an Alexander VII. Und Bischof Choiseul von Tournay an Innozenz XII. zu erklären. Die Aufklärer unter Joseph II. übernahmen diesen Kunstgriff nach Deutschland und nach Österreich (…) und spotteten über die Warnung vor der drohenden Gefahr (…); und das zu einer Zeit, in der nach den Berechnungen des freilich sehr zweideutigen Blumauer innerhalb 5 Monaten (1. April bis 1. September 1781) 11072 Flugschriften gegen alles, was konservativ war, erschienen.
Neu erwachter katholischer Liberalismus
7. Aber da auch diese Erfahrungen nicht benutzt wurden, musste sich der alte Vorgang im 19. Jahrhundert wiederholen. Kaum waren die Schrecken der Säkularisation und der Revolution überstanden, da glaubte der mit frischem Mut erwachte katholische Liberalismus eine neue Zeit der Blüte dadurch herbeiführen zu können, daß er dem Febronianismus und dem Rationalismus die anstößigsten Spitzen abbrach, im übrigen aber ihnen die hauptsächlichsten Grundlehren entlehnte, um einen Ausgleich mit dem Zeitgeist herbeizuführen. Den der schroffe Hyperkatholizismus, oder wie man damals sagte, Ultramontanismus ewig unmöglich machen würde. Die Kirche verwarf eine Reihe von Sätzen dieses gemäßigten Liberalismus. Die Verurteilten unterwarfen sich, unterschrieben die Verurteilung ihrer bisherigen Lehren und traten augenblicklich wieder auf die Seite ihrer nächsten Nachfolger. Dieselben Männer, die zuvor Hermesianer waren, wurden Güntherianer, dann Frohschammerianer, endlich Staats- und Altkatholiken. Wenn sie heute noch lebten, stünden sie im Lager der Reformkatholiken und der Modernisten.
Natürlich auch. An ihren einzelnen Sätzen hängen sie selbst nicht, diese können sie leicht preisgeben und gegen andere umtauschen. Sie bleiben doch, was sie sind, Selbstherren, die sich ihren eigenen Weg suchen, ihren Glauben nach eigenem Gutbefinden zurechtlegen, ihr Leben nach den ihnen zusagenden Anschauungen einrichten, kurz um alles in ein Wort zusammen zu fassen, sie bleiben liberal.
Der katholische Liberalismus rüttelt an den Grundlagen
8. Sollten alle diese traurigen Erfahrungen nicht hinreichen, um endlich Klarheit über die entscheidende Frage zu schaffen? Es handelt sich nicht um einzelne falsche Lehren und Richtungen. Es liegt nicht am Namen, den man diesen oder jenen Abirrungen gibt. Es ist nur eines, was den Ausschlag gibt, der Geist, aus dem alles übrige hervorgeht, die Grundlage, die alles in Frage stellt, die Prinzipien, in denen Personen und Richtungen von der strengen Wahrheit abweichen.
Es ist eine höchst naive Vorstellung, wenn man glaubt, einen Historiker, einen Exegeten, einen Sozialpolitiker schon dadurch gewonnen zu haben, daß man ihn bewegt, ein paar irrige Ausdrücke zu berichtigen. Das vermag genügen bei gewöhnlichen Mitläufern, die sich fortreißen ließen, ohne zu wissen, was sie taten. Aber keinesfalls sind, wie schon früher angedeutet ward, die gesichert, die Liberale oder Modernisten im eigentlichen Sinne, d. h. Vertreter des modernen Geistes sind. Diese können ganz gut ein paar exegetische Irrtümer abschwören, sie behalten aber ihre geheime Sympathie bei für alles, was modernistisch ist auf dem sozialen und dem politischen Gebiet, und ereifern sich über jeden, der die sogenannte „neue Apologetik“ zurückweist, und umfassen mit derselben Bereitwilligkeit wie ihre eigenen Lehren einen bedenklichen Satz, den die moderne Philosophie oder die angebliche kritische Geschichtsschreibung oder Legendenforschung aufstellt, auch wenn sie von all diesen Wissenschaften und Systemen nicht ein Wort verstehen.
Nein, hier stehen nicht äußerliche oder oberflächliche Auswüchse in Frage, sondern die Grundfragen über Glaube und Autorität, über Natur und Übernatur, über Offenbarung, Tradition und Kirche. Nicht als ob der Liberalismus diese alle im einzelnen ausdrücklich umstöße. Er hat das auch nicht nötig. Denn er rüttelt an ihnen allen, weil er an ihren Grundlagen rüttelt. Darum sucht er sie alle auf das unbedingt notwendige einzuschränken und erschüttert so immer noch mehr den wahrhaft katholischen Geist.
Kurz, der Gegensatz zwischen dem Liberalismus und dem Katholizismus ist nicht eine kleine Verschiedenheit, die wieder ausgeglichen werden kann, sondern er ist eine Kluft, über die nicht leicht eine Brücke führt.
Der Sinn aller Zeitfragen
9. Wer diese entscheidende Wahrheit nicht würdigt oder nicht zugestehen will, der verzichtet auf das Verständnis aller sogenannten Zeitfragen. Tausende unter uns werden irre, sobald man ein zusammenfassendes Urteil über unsere Zeit fällt… Niemals wird man aber ein Urteil über eine Zeit oder über eine Geistesrichtung fällen können, wenn man sich nicht über jene positivistische, oder, wie man auch sagt, jene materialistische Geschichts-Auffassung erhebt, die lediglich an den Erscheinungen, den Personen und den Einzelheiten hängen bleibt. Wer die Welt verstehen will, der muss vom Einzelnen zum Ganzen, von den Äußerlichkeiten zum inneren Wesen, von den Wirkungen zu den Ursachen vorzudringen suchen, der muss sich klar machen, daß die Vielheit eher verwirrt und täuscht, als zu Erkenntnis der Wahrheit führt, wenn man nicht nach der Kunst strebt, durch Zusammenfassen in die Tiefe zu dringen, und von da aus die Gesamtheit zu erfassen.
Gilt das schon für vergangene Zeiten, so ist es die unerläßliche Bedingung für die Beurteilung der Gegenwart, deren Erscheinungen uns sonst erdrücken und verblenden.
10. Wer dieser Regel folgt, dem sollte es denn doch nicht so überaus schwer sein, zu erfassen, daß der Sinn aller sogenannten Zeitfragen der Satz ist: Entweder der Geist des Christentums, Christus, Kreuz und Kirche, oder der Geist der Welt, sei es der volle, ungeschmälerte im Modernismus, sei es der gedämpfte im Liberalismus. Ein Mittel zwischen diesen beiden Geistern ist undenkbar. –
aus: Albert Maria Weiß O.Pr., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 57 – S. 65