Der Reformkatholizismus der jüngeren Ordnung (19. Jhd.)
1. Die Dinge standen zu Ende des 18. Jahrhunderts derart, daß ein Mann wie Weissenbach ein Buch über die Zeitlage schreiben konnte unter dem Titel: Die Vorboten des neuen Heidentums. Aber was allzu gewaltsam ist, sagt das Sprichwort, das dauert nicht. Die entsetzlichen Schläge der Revolution und der Säkularisation schienen zwar die kühnsten Erwartungen des Unglaubens erfüllen zu wollen, sie trafen aber zugleich die ganze Gesellschaft so furchtbar, daß die auf völlige Zerstörung der Religion gerichteten Bestrebungen ebenso plötzlich zur Einstellung gebracht wurden wie die politische Revolution selber.
2. Nicht als ob sich die Vertreter beider Richtungen bekehrt hätten. Ihre Zwecke und Grundsätze blieben nach wie vor die gleichen. Nur begriffen sie, daß die bisher gewählten Mittel zu gewalttätig und zu rasch gewirkt hatten. Deshalb suchten sie nach neuen, langsamer wirkenden Mitteln, um das alte Ziel, die Untergrabung der Religion, zu erreichen, ohne daß die Gesellschaft selber mit in den Untergang hineingezogen würde.
4. Damit ist aber auch schon der Charakter dieser neuen Richtung ausgesprochen. Von einem Aufgeben der alten glaubens- und religionsfeindlichen Gesinnung war so wenig bei ihr die Rede, daß sie vielmehr ausdrücklich deren Ergebnis und Krönung, „die Grundsätze von 1789“, als ihren Ausgangspunkt erklärte. Die Berufung auf die „Menschenrechte“ bildete für sie sozusagen die Existenzbedingung.
Aus diesem obersten Grundsatz versteht sich der ganze Inhalt des neuen Systems: Naturalismus im Gegensatz zu allem Übernatürlichem, Humanismus als Gegensatz zum Streben nach einem höheren, jenseitigen Ziel, Individualismus als Gegensatz zur Gemeinverpflichtung, Rechte ohne Pflichten, Freiheit, Autonomie, Selbstherrlichkeit jedes einzelnen gegenüber jedem einzelnen, gegenüber der Gesamtheit, gegenüber der Religion, der Kirche, der Offenbarung, der Heiligen Schrift, ja selbst gegenüber Gott.
5. Dieses System nannte man Liberalismus. Es ist augenscheinlich das alte System des englischen Deismus, das ja auch geschichtlich durch die englischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, zumal durch Adam Smith und Thomas Paine der Neuzeit als Ausgangspunkt für eine neue Entwicklungsreihe von Ideen übermittelt worden ist.
Nur unterscheidet sich der Liberalismus vom Deismus und seinen älteren Kindern äußerlich durch die vorsichtigere und glattere Form, zur Entschädigung dafür aber in seinem innerlichen Wesen dadurch, daß er die alten Grundsätze, die bisher meist nur auf Kirche, Staat und Gesellschaft waren angewendet worden, nun unterschiedslos auf alle Gebiete des geistigen wie des öffentlichen Lebens ausdehnt…
7. Kaum hatte darum der Liberalismus das politische und das soziale Gebiet erobert, so drang er auch reformierend in die katholischen Kreise ein, die sich inzwischen von der entsetzlichen Heimsuchung durch glückliches Vergessen wieder erholt hatten. Seit Anfang der dreißiger Jahr ist er bereits Herr und Meister. In Frankreich führen ihn La Mennais und die Seinigen durch, in den deutschen Ländern Hermes und Günther mit den Ihrigen. Durch 40 Jahre macht er trotz aller Schwierigkeiten stille, aber beständige Fortschritte, bis endlich durch das Konzil die Katastrophe herbeigeführt wird, die den entschlosseneren Teil der gefährlichen Bewegung aus der Kirche hinaus ableitet.
8. Wieder tritt für einige Zeit Ruhe ein, teils ein Zeichen der Erschöpfung und der Bedenklichkeit, keineswegs aber der vollen Besserung, teils wegen der äußeren Stürme. Inzwischen ist eine neue Zeit angebrochen, die des Materialismus – man nennt sie kurzweg die des Verismus oder des Realismus, des Historismus, des Positivismus.
Sie macht ihren Einfluss auch in religiösen Dingen geltend. Der liberale Katholizismus zeigt in Folge davon, sobald er sich wieder mehr und mehr bemerklich macht – es ist das der Fall seit der achtziger Jahren -, nach zwei Seiten hin, nicht eine andere Natur, wohl aber einen andern Ton und ein verändertes Gepräge.
Indes er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im spekulativen, im philosophischen Gewand auftrat – des katholischen Glaubens als der Versuch zu einer Verschmelzung mit den Zeitphilosophen von Kant, von Hegel, von Schelling -, läßt er sich nunmehr zuerst beeinflussen von dem Überwiegen der geschichtlichen Forschung, die inzwischen alle und jede Philosophie in Verruf gebracht hat. Mit Döllinger tritt der Gedanke auf, die Theologie sei wesentlich, wo nicht ausschließlich, eine historische Wissenschaft – daß sie auch eine solche sei, hat gewiß niemand je in Abrede gestellt – und die Vollendung der Theologie in der Zukunft sei die nach den neuen Grundsätzen zu bearbeitende Dogmengeschichte.
Allmählich aber nehmen die geschichtlichen Forschungen über das orientalische Altertum das erste Interesse in Anspruch, und nun sucht die modernisierende Richtung durch sie der Theologie abermals einen neuen Aufschwung zu geben. Dadurch werden jetzt die biblischen Studien in den Vordergrund gerückt, nicht aus religiösem Interesse für die Heilige Schrift oder für die Offenbarung selber, sondern aus Überschätzung der geschichtlichen und archäologischen Fragen. Diesen müssen die theologischen Studien nur noch weit mehr den Platz räumen als früher.
Damit ist der sog. historischen Richtung erst völlig der Sieg erkämpft, denn nirgends wird diese rücksichtsloser angewendet als gerade auf dem Gebiet der Bibel und der Offenbarung.
9. Trotz alledem bleibt aber all diesen jüngsten Versuchen zur Neuerung der Charakter des Liberalismus gemeinsam. Dieser besteht seinem Wesen nach in einem Amalgam zwischen dem Modernismus und der Tradition. Während der alte radikale und revolutionäre Geist alles Hergebrachte völlig wegwarf und zerstörte und blind auf Herstellung einer neuen Welt losstürmte, will der Liberalismus die Vorteile der Tradition und der Geschichte mit dem Eingehen auf alles Neue vereinbaren, …
Dieser selbe Kompromiss-Charakter gibt sich am deutlichsten kund in der Parole, womit der neuere katholische Liberalismus nunmehr die Geister berückt: „Ausgleich zwischen Katholizismus und der modernen Welt“, Rettung des Katholizismus und der modernen Welt zugleich durch die Aussöhnung beider.
Diese neuere Richtung hat auch sonst im einzelnen so ziemlich alles mit dem älteren Liberalismus gemein, jene optimistische Überzeugung von der Güte des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, die oft hart an der Leugnung des Sündenfalls und der biblischen Lehre von der Welt streift, die Überschätzung der Wissenschaft und der Kultur als Mittel zur Verbreitung der Wahrheit, die Überhebung des Natürlichen und die Vernachlässigung, oft beinahe die Zurückweisung des Übernatürlichen, insbesondere aber die falsche Stellung zu den beiden Begriffen von Autorität und Freiheit.
15. Verbindung mit den Zeitideen, Aussöhnung mit der „modernen Kultur“, Ausgleich zwischen dem „Katholizismus“, wie man zu sagen beliebte, und der öffentlichen Meinung, Amalgam zwischen dem Evangelium und dem Abfall von ihm, ein modernisiertes Christentum, das ist das Ziel, auf das auch die bescheideneren dieser Reformbestrebungen hinarbeiten, für viele freilich schon der als unvermeidlich bezeichnete Ausgangspunkt, von dem aus sie ihre weitere Tätigkeit entfalten…
Also verlange das Heil der Menschheit eine Allianz zwischen der Kirche und dem modernen Geist. Diese aber sei nicht möglich ohne Transformation des Katholizismus. Aber was sei denn auch daran so Großes? Kann denn „auf dem Gebiet der Orthodoxie“ nicht eine größere philosophische Freiheit durchgeführt werden? Es handle sich ja nur um eine Änderung in der Auslegung der dogmatischen Formeln. An die Stelle gewisser dunkler Dogmen klare, verständliche, der Vernunft zugängliche Ideen setzen, die religiöse Sprache in eine vernünftige umwandeln, „zwei oder drei gute Definitionen geben“ – und alles sei geschehen.
23. Betrachtet man aber den Reformkatholizismus der Neuzeit im einzelnen, so fällt einem bald auf, daß er fast von Satz zu Satz, oft bis zum Ausdruck, den alten Reformkatholizismus (siehe den Beitrag: Reformkatholizismus des 18. Jahrhunderts) erneuert. Niemand wird glauben, daß das auf Abschreiben beruhe, da die neuen Reformer ihre Vorgänge kaum viel besser kennen als die Scholastiker…. Darum kann man mit Gewissheit zum voraus sagen, daß die Reformer von heute zu denselben Verirrungen kommen werden und müssen wie die von ehemals, vorausgesetzt, daß sie die Kirche nicht völlig verlassen. Und das will der Reformkatholizismus sicherlich nicht. –
aus: Albert Maria Weiß O.P., Die Religiöse Gefahr, 1904, S. 296 – S. 310; S. 317
siehe auch den weiteren Beitrag: Die Logik des Reformgeistes des Reformkatholizismus