Wo findet der Mensch seine wahre Natur?
Vor grauen Jahren, schon am Anfang der Zeiten, ist plötzlich eine große Katastrophe über ihn herein gebrochen, die das fruchtbare und schöne Land seiner Seele in eine traurige Wildnis umgewandelt hat. Dieser Zustand der Verwilderung, die Folge des ursprünglichen Falles, wäre immerhin mit Hilfe der Gnade zu überwinden. Es ist ja dem Menschen zu unnatürlich, er muss ihm, wenn ihm die Augen nur etwas geöffnet werden, selber schrecklich und unerträglich sein. Aber leider hat sich der Mensch, weit entfernt davon, seinen ursprünglichen Zustand wieder aufzusuchen, nach der entgegen gesetzten Seite noch mehr von seiner ehemaligen Gestalt durch die falsche, weltliche und gottentfremdete Kultur entfernt, die er später selber auf den Schutt gepflanzt hat, statt diesen hinweg zu räumen und so zu seiner wahren Natur zurück zu kehren. Diese spätere Eigenkultur widersteht auch weit zäher jedem Versuch einer Zurückführung auf die anfängliche Bestimmung des Menschen als seine wie immer geschwächte Natur. Denn begreiflich könnte ein solcher Versuch nur gelingen, wenn sich der Mensch entschließen wollte, das hinzuopfern, was er so lange Jahre mit so viel Mühe auf seine verdorbene Natur hinauf gepflanzt hat. Je mehr er aber an dieser falschen Kultur gearbeitet hat und je stolzer er auf sie als auf sein eigenstes Werk ist, um so hartnäckiger hängt er an ihr, um so entschiedener weist er die Zumutung von der Hand, sich von ihr loszusagen, um so weniger will er zu seiner unverfälschten ersten Natur zurück kehren, zu jener, die Gottes Hand selbst in ihm begründet hat.
Nun ist es aber unmöglich, zur wahren, ursprünglichen Natur des Menschen anders zu gelangen, als indem wir durch diese beiden Schichten hindurch graben, das Verderbnis der falschen Kultur und die anfängliche Verwilderung des ganzen Menschengeschlechtes selber. Nur unter einer zweifachen Bedingung hat das Forschen nach der wahren Natur des Menschen Aussicht auf Erfolg. Und nur unter dieser zweifachen Voraussetzung hat es Sinn, der Natur zu folgen, wie die Stoiker sagten, mit andern Worten, dem, was die natürliche Philosophie, Sittenlehre und Religion dem Menschen auferlegen, will er anders als Mensch, das heißt menschenwürdig leben.
Die erste dieser Bedingung ist die Anerkennung des ursprünglichen Sündenfalles, durch den die menschliche Natur zwar keineswegs, wie so viele Irrlehrer alter und nicht wenige Philosophen neuerer Zeit fälschlich behaupteten, in Grund und Wesen verschlechtert worden ist, der ihn aber doch tief verdorben und geschwächt hat.
Die zweite Bedingung verlangt, daß wir gestehen, wieviel Unheil und Irrtum in der Weltbildung enthalten ist, die sich angeblich auf rein menschlichem Gebiet, in Wahrheit aber auf Grund des uranfänglichen Falles und durch hartnäckiges Beharren in diesem entwickelt hat. Wir brauchen deshalb nicht die ganze menschliche Kultur als eitel Lüge und Sünde oder gar als wahres Teufelswerk zu verschreien. Behüte uns Gott vor solcher Sünde und Lüge, mit der unser Glaube nichts gemein hat, wenn wir gleich den Zorn für die Übertreibungen tragen müssen, die sich der finstere Rottengeist des Puritanismus, des Jansenismus und ähnlicher Sekten in diesem Stück zu Schulden kommen ließ. Aber das muss nun einmal anerkannt werden, daß eine rein menschliche Entwicklung nie und nirgends möglich ist, wo der Mensch von der Wahrheit absieht, daß er gefallen ist, und daß alle, auch die höchste Kultur große Irrtümer enthalten und irreführen muss, wenn sie nicht von dem Satz ausgeht, mit dem alles steht und fällt: Die wahr Natur und die Bestimmung des Menschen können nur durch Umkehr in Buße und durch Rückkehr zu Gott wieder gefunden werden.
Wende niemand ein, diese Grundsätze würdigten den Menschen herab und verrammelten von vornherein den Weg zu einer unbefangenen Wertschätzung der menschlichen Kultur. Nein, die, welche den Menschen ungebührlich entwerten, die, welche ihn aus seiner natürlichen Stellung zwischen dem, was unter ihm, und dem, was über ihm ist, verdrängen, die welche ihm damit den Weg zu seiner Bestimmung versperren, diese muss man dort suchen, wo man den Fall des Menschen leugnet, dort, wo man behauptet, er befinde sich in seinem naturgemäßen Zustand, dort, wo man ihm also auch nichts Besseres zutrauen kann, als was man tatsächlich an ihm vorfindet.
Das ist einer der Vorwürfe, die wir der weltlichen Literatur machen müssen, daß sie dem Menschen das Bewusstsein von seiner wahren Stellung und Aufgabe raubt, daß sie ihm die Achtung vor sich selber nimmt, daß sie ihn damit unverbesserlich macht. Die moderne Philosophie hat schon bei ihrem Eintritt in die Geschichte durch den Mund Charron`s, eines von den Patriarchen des jetzigen Weltgeistes, den Ausspruch getan: um den törichten Menschen zur Vernunft und zur Weisheit zu bringen, müsse man ihn behandeln wie ein wildes Tier, entweder ihm Staunen und Furcht einjagen oder ihn durch Autorität und Glanz blenden und einschüchtern. Charron`s Schüler Montaigne geht noch weiter und sagt, man könne den Menschen nie nach Verdienst verachten; nur unser Unverstand und unser eigensinniger Hochmut gebe uns den Gedanken ein, als seien wir besser denn die Tiere, indes uns diese vielleicht mit der nämlichen Münze bezahlten. Die Vertreter der schönen Literatur bleiben hinter diesen nicht zurück. Wollten wir all den bissigen Spott sammeln, womit Molière, die vornehme Geringschätzung, womit La Rochefoucauld, die anatomische Kaltblütigkeit, womit La Bruyère, die boshaften Sarkasmen, womit Madame de Sevigné den Menschen zergliedert und zerfetzt haben, wir müssten ein langes, unerquickliches Kapitel schreiben. Und doch haben wir hier vier der elegantesten Schriftsteller genannt, die Zierden des feinsten aller Höfe, den Ruhm der delikatesten aller Literaturperioden. Wie erst, wenn wir uns an andere, minder prüde Zeiten wenden wollten!
Mit gerechtem Stolz können wir hier betonen, daß das Wort Gottes anders mit dem Menschen umgeht. Es sagt ihm die Wahrheit, aber es zerschmettert ihn nicht; es führt ihn auf seinen richtigen Wert zurück, ohne ihn zu entwerten; es weist ihm seine gebührende Stellung an und behandelt ihn gleichwohl mit großer Ehrfurcht. Das Christentum ist durchaus einverstanden mit dem obersten Lehrsatz des Stoizismus: Um besser zu werden, um zu werden, was du sein sollst, musst du nach der Natur leben. Freilich versteht es ihn etwas anders als die humanistische Literatur. Diese nimmt den Menschen, wie sie ihm begegnet, blind und unbesehen als Vertreter der echten Natur hin. Die christliche Lehre aber besagt: Um nach der Natur leben zu können, musst du erst zur wahren Natur zurückkehren, zu jener Natur, die dir Gott gab, als du aus seiner Hand hervor gingst. Um aber das zu bewerkstelligen, fügt es sofort hinzu, musst du erstens umkehren von allem Bösen, das in dich eingedrungen ist (Weish. 12, 18), musste du zweitens einkehren in deine wahre Natur, das heißt forschen in deiner Vernunft, folgen deinem Gewissen, leben in deinem Herzen (Is. 46, 8), musst du drittens zurückkehren zum Urheber der Natur, zu Gott selber (Apg. 14, 14; 26, 20).
Umkehr vom Bösen, Einkehr in sich, Rückkehr zu Gott, daß sind also die drei Bedingungen, unter denen der Mensch seine wahre Natur wieder findet, seine richtige Stellung wieder einnehmen lernt und auf den Weg zurück geleitet wird, der ihn zu seinem Ziel führt. All unser Unheil stammt daher, daß wir den uns von Natur aus gebührenden Platz verlassen haben. Darum verlieren sich die einen an das, was tief unter der Menschenwürde ist, indes sich die andern in Höhen versteigen, die für den Staubgeborenen unwegsam sind; darum erniedrigen sich die einen bis zum Tier und überheben sich die anderen, als wären sie Gott selber.
Es hängt also alles davon ab, daß der Mensch wisse, wohin er gehört, wie er sich findet und wie er dazu gelangt. Er gehört aber sich selber an, er findet sich in sich selber, er gelangt zu sich selber nur, wenn er seine reine Natur sucht, und dieser kommt er nur nahe, wenn er all die Auswüchse entfernt, die sich daran festgesetzt haben. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 47 – S. 51