Das öffentliche Leben unter dem Einfluss der modernen Ideen
Der Absolutismus im antiken Orient
1. Alles redet von den sog. modernen Ideen, bald rühmend, bald tadelnd. Die einen glauben, wenn das Gespräch auf diese verfällt, die vergangenen Zeiten nicht gering genug schätzen und das Lob der Gegenwart nicht laut genug singen zu können. Die andern verfallen bei dieser Gelegenheit in Zürnen und Klagen ob der traurigen Verhältnisse, unter denen wir leben müssen, und verlieren zuletzt den Mut, gegen sie anzukämpfen, indem sie sich die Meinung einreden, so schlecht habe es noch nie um die Welt gestanden wie jetzt.
Beide würden gut tun, sich an den Ausspruch Salomos zu erinnern: Es ist nichts Neues unter der Sonne. Niemand kann sagen: Siehe, da ist einmal sicher etwas Neues! Alles ist schon längst da gewesen in den Jahrhunderten, die vor uns waren, nur denkt man nicht mehr daran. (Prd. 1, 10) Nicht mit Unrecht behauptet darum eines unserer deutschen Sprichwörter: Es ist nichts so neu als das, was in Vergessenheit geraten war. Nicht selten nennen wir Dinge modern, die eigentlich uralt sind. Von manchen aus ihnen und vielleicht gerade von jenen, die wir mit besonderem Stolz als Errungenschaften der Neuzeit zu betrachten gewohnt sind, würde der alte Zinkgref in seiner ehrlichen Derbheit sagen: Nichts Neues unter der Sonne – alte Komödien, neue Komödianten. Und wenn das auch nicht immer zutrifft, so ist doch meistenteils das Neue an der Sache nur eine weitere Folgerung aus dem längst Bekannten oder eine andere Anwendung des Uralten.
2. Ganz besonders trifft das bei jenem Gedanken zu, den man als eine von den größten Errungenschaften der Neuzeit zu rühmen pflegt, dem Gedanken vom modernen, man will damit sagen, vom absoluten Staat.
Weit entfernt davon, daß dieser Begriff eine Errungenschaft der Neuzeit wäre, muss er vielmehr als Atavismus, als Rückfall in alte, wie man glauben durfte, längst überwundene Anschauungen des Heidentums betrachtet werden. Daß die Allgemeinheit alles, der einzelne nichts sei, daß die Rücksicht auf das Staatswohl alle anderen Erwägungen und Rechte zurück drängen müsse, daß das Gesetz Ausfluss des Allgemeinwillens sei, diese und ähnliche Sätze bilden ja eben die Grundlage des antiken Staatsrechtes. Sie wurden zwar von einzelnen Lehrern, zumal von Aristoteles und von Cicero, bekämpft, übrigens auch von ihnen nur halb und matt, im öffentlichen Leben jedoch führten sie unbestritten die Herrschaft.
Der Unterschied von ehemals und jetzt liegt nur darin, daß man früher die Übermacht des Staates meistens in einer Person oder in einer Körperschaft vereinigt dachte, während sie jetzt gewöhnlich dem allgemeinen Begriff der Gesamtheit zugeschrieben wird, wie das übrigens auch in Griechenland und im römischen Staat bereits der Fall war. Was aber den Inhalt dieser Gewalt betrifft, so hat sich unsere Zeit so ziemlich wieder zu den Grundsätzen verirrt, wie sie nur jemals in den schlimmsten Zeiten des Altertums die Geister berückten.
Am weitesten wurde die Vorstellung von dem absoluten Recht, von dem göttlichen Wesen der Staatsgewalt im Orient getrieben. In Persien galt das Gesetz, daß alles recht sei, was der König wolle und befehle, und daß er selber das, was er einmal entschieden habe, so wenig zu ändern vermöge, als Gott seinen Willen widerrufen könne. Von dieser Auffassung ausgehend gab man ihm den Titel Herr und Gott und erzeigte ihm dieselbe Verehrung wie den Göttern, indem man sich vor ihm in anbetender Stellung zu Boden warf.
Die Griechen hatten bekanntlich gegen eine derartige Verherrlichung der Person einen unüberwindlichen Abscheu. Dem abstrakten Staat gegenüber waren sie aber nicht weniger Sklaven als die Perser oder die Ägypter, die den Knechtssinn so weit trieben, daß selbst ein sklavischer Jude wie Josephus Flavius von ihnen verächtlich sagte, unter ihnen sei noch niemals einer frei gewesen. Aber kaum hatte sich bei den Griechen die Allgewalt in einer Person vereinigt, als auch in ihrer Mitte die gleiche Erscheinung auftrat wie im ganzen Orient. Bereits Alexander der Große ließ sich Herr aller Länder und der ganzen Welt nennen, verlangte die Huldigung durch Anbetung und hätte sich gern göttliche Würde zugeschrieben, hätte ihn nicht der entschiedene Widerspruch einiger edler Männer erschreckt, die mit den Hofschranzen und Schmeichlern nicht gemeinsame Sache machen wollten.
Nicht anders ging es bei den Römern. In den Zeiten des verfallenden Reiches, da Glaube und Charakter gleichmäßig zu Grunde gegangen waren, schmeichelte man den Kaisern und den Kaiserinnen mit dem gotteslästerlichen Titel Gott und verehrte ihre Bilder und Tempel mehr als die der verachteten Götter. Augustus hatte noch die Vergötterung in Rom selbst abgelehnt – in den Provinzen ließ er sie sich reichlich gefallen. Der gräßliche Tiberius duldete sie anfänglich, doch kam selbst ihm schließlich wieder das Gewissen, und er verbot den Frevel. Erst seitdem das berauschende Gefühl der Macht über eine ganze Welt einem Caligula, einem Nero Verstand und Selbstbeherrschung geraubt hatte, wurde der göttliche Name und die göttliche Verehrung von den Kaisern selbst gefordert und deren Verweigerung als Hochverrat gestraft. Den Christen kam es teuer zu stehen, daß sie für die Kaiser und den Staat bloß beten, opfern und sterben, daß sie aber nicht den Namen Gottes zur Schmeichelei für die Person eines Commodus oder eines Heliogabal missbrauchen wollten. Sogar Männer wie der jüngere Plinius, der für seine Person diese Anmaßung der göttlichen Würde missbilligte, nahmen keinen Anstand, es den Christen als todeswürdiges Verbrechen anzurechnen, daß sie sich nicht vor der kaiserlichen Gottheit beugten.
3. Vom heidnischen Rom nahmen die Kaiser die alten Ansprüche in die neue Residenz am Bosporus hinüber. Hier fanden diese, dank dem Knechtessinn des entarteten Griechenvolkes, erst den rechten Boden, um den Setzling zu jenem Giftbaum groß zu ziehen, dem die neue Stadt für ewige Zeiten den Namen verliehen hat. Eine solche Pflanze gedeiht immer nur auf faulem Grund. Der Staat war nach langen Kämpfen, wie man in milder Weise zu sagen pflegt, christlich geworden. Aber von den gewohnten gottesräuberischen Ansprüchen gab er nichts auf. Vielmehr bot ihm gerade das Christentum einen neuen, willkommenen Anlass, um zu zeigen, daß sich nichts auf Erden seiner Allmacht entziehen könne, nicht einmal die Stiftung Gottes selber. Er wolle die Religion, erklärte er, großmütig in Schutz nehmen, jedoch unter der Bedingung, daß er ihr Herr, ihr sichtbarer Gott hienieden sei. Jene despotischen Kaiser, die aus dem Moder römischer Brutalität, griechischer Heuchelei und orientalischer Kriecherei das ekle Gewächs des Byzantinismus züchteten, Arkadius, Theodosius II., Justin, Justinian, die Vollender des römischen Rechts, verteidigen in ihren Gesetzen den christlichen Glauben und scheuen sich nicht, dabei eine Sprache zu führen, als wären sie Gott im Himmel selber.
Wie wenig diese christlichen Byzantiner von der alten heidnischen Selbstüberhebung preisgegeben hatten, das ersieht man aus ihren Ausdrücken: Wir allerheiligste Kaiser, unsere Gottheit befiehlt das, unser göttliches Wort will so, so lautet unser göttliches Gebot. Sie lassen Eide bei ihrem Name schwören. Wo andere, menschlich denkende Herren sagen würden: Wer unsern Befehlen widerspricht, ist strafwürdig, da lautet ihr Stil: Wer unsern göttlichen Wohltaten widersteht, der begeht einen Gottesraub. Während selbst ein Trajan erklärt hatte, nicht der Fürst stehe über dem Gesetz, sondern das Gesetz über dem Fürsten, während ein Alexander Severus den Ausspruch hinterlassen hat, nichts sie so kaiserlich, als nach dem Gesetz zu leben, sagt Justinian, Gott habe jedes Gesetz der kaiserlichen Macht unterworfen, da er diese selber den Menschen als beseeltes Gesetz gegeben habe.
Daß all dieses nicht leere Phrasen, sondern sehr ernst gemeinte Überzeugungen waren, das hat Chrysostomus, das hat Maximus, der heilige, gelehrte Dulder, das hat Papst Martin I., das hat so mancher andere Ehrenmann erfahren, der das Vorurteil, als gehe der Dienst gegen Gott im Himmel über die Pflichten gegen diese irdischen Götter, mit Verbannung, mit Schlägen und mit dem Tod bezahlte. Leider fanden sich unter den Griechen Mietlinge in Menge, die Gottes Sache ihrem Ehrgeiz opferten, und so wurden Despotismus und Feilheit in der orientalischen Kirche zu jenem erblichen Krebsschaden, der zuerst ihre Lostrennung vom Leib Christi und dann ihre völlige Verknöcherung unter dem Druck des Halbmondes und unter der Knute des Cäsaropapismus nach sich zog. –
aus: Albert Maria Weiß, Apologetik, Bd. IV. 1., Soziale Frage und Soziale Ordnung oder Handbuch der Gesellschaftslehre, Erster Teil, 1904, S. 33 – S. 38