Liberalismus als Vorbote einer Katastrophe

Der Liberalismus als Gefahr für den Katholizismus

Der Liberalismus als Vorbote einer Katastrophe

Der Liberalismus ist immer ein schleichendes Gift; tritt er in heftiger Weise auf, dann ist er der Vorbote eines schweren Ausbruches.

4. Wenn die Anhänger der Kirche nicht mehr genug Kraft hätten, um sich gegen den Liberalismus zu erheben und ihn entweder zur Umkehr oder zur entschiedenen Absage zu nötigen, dann wäre es ein trauriges Zeichen für die Erschlaffung ihres Geistes.

5. Aus dem früher Gesagten ist es klar, daß hier Gegensätze aufeinander stoßen, die in das Allerinnerste des Glaubens und des christlichen Lebens hineingreifen. Wo solche auftreten, da ist für jeden, der seiner Christenpflicht treu bleibt, Widerstand als Gewissenspflicht geboten. Aus Furchtsamkeit, aus Menschenrücksicht, mit der Ausrede, da möge die Kirche selber zusehen, das sei Sache der kirchlichen Oberen, zu allem schweigen, wäre Verleugnung der Liebe zu Gott, der Treue gegen die Kirche, und auch der Pflicht gegen den irrenden Nächsten und gegen alle, die so leicht durch Ansteckung in Gefahr gebracht werden können. Denn einem jeden, sagt die Schrift, hat Gott befohlen, sich um seinen Nächsten zu kümmern. (Ekkl. 17,12)

7. Diese Dinge erwogen, können nicht anders als uns den ganzen Ernst der Lage klar machen. Es handelt sich nicht bloß um eine Kluft, die man ja wieder ausbessern könnte, wenn sie bliebe wie sie ist und wenn alle von beiden Seiten einträchtig daran arbeiten, sie wieder auszufüllen.

Daran ist aber hier nicht zu denken. Der Liberalismus müsste zu diesem Zwecke aufrichtig und vollständig umkehren und im Geiste der Buße wieder gutmachen, was er gefehlt hat. Er müsste also nicht bloß einzelne irrige Ansichten berichtigen, sondern seine ganze Geistesrichtung ins Gegenteil umkehren. Und er müsste anerkennen, daß er nicht bloß einfach geirrt, sondern daß er gefehlt hat, daß sein Weg entweder mit sündhafter Gesinnung beginnt oder doch allmählich in diese übergeht. Wer möchte ihm aber dieses Geständnis abringen?

Dann aber ist klar, daß die Kluft nicht bloß bestehen bleibt, sondern daß sie sich beständig erweitern muss. Ändern will er sich nicht, der Widerstand von der entgegengesetzten Seite reizt ihn immer noch mehr. So tritt er immer mehr von der verlassenen Wahrheit zurück. Anfänglich sucht er durch jeden möglichen Kunstaufwand die Kirche auf seine Seite zu ziehen. Je mehr er einsieht, daß dazu keine Aussicht besteht, desto mehr wächst seine Verstimmung, seine Abneigung, zuletzt der Kampf gegen die Kirche. Das muss mit einer Katastrophe endigen.

8. Diese Gefahr ist umso größer, als es sich hier nicht bloß um vereinzelte Personen, sondern um eine große Partei handelt, die sich im Bewusstsein ihrer weiten, fast darf man sagen, ihrer allgemeinen Verbreitung stolz und stark fühlt.

12. Ist es betrübend, diese Verirrungen und diese Unbeugsamkeit der Geister auf dem politischen und dem wissenschaftlichen Gebiete anzutreffen, so ist es doch noch schmerzlicher, dieselben Erfahrungen auf dem religiösen, dem theologischen und dem kirchlichen Gebiete machen zu müssen.

13. Und nun fragen wir, ob nicht nach allen Gesetzen des Denkens und nach allen Erfahrungen der Geschichte aus all diesen Voraussetzungen notwendig über kurz oder lang ein Umsturz folgt. Wenn der Liberalismus wirklich das ist, als was wir ihn kennen gelernt haben und als was wir ihn noch genauer werden kennen lernen, dann kann es keinem Zweifel unterliegen, daß er seiner eigensten Natur gemäß zu einer Katastrophe, zum Abfall von der Kirche drängt. Das liegt nicht an der Schuld einzelner, sondern am System, nicht an der Unnachgiebigkeit der Menschen, sondern an der unerbittlichen Logik der Tatsachen.

Wenn sich der Jansenismus durch drei Jahrhunderte über alle päpstlichen Entscheidungen hinweg setzt, wenn er allen Gehorsam gegen die Autorität durch die spitzfindigsten Ausflüchte lächerlich gemacht, wenn er – wir werden noch davon sprechen – das ganze Gebäude der kirchlichen Hierarchie aufgelöst hat, und wenn der Gallikanismus trotz alles scheinbaren Kämpfens gegen ihn um des jammervollen nationalen Hochmutes willen ihm treulich Bruderdienste geleistet hat, kann man da den Zusammenbruch der französischen Kirche anders bezeichnen denn als unvermeidliche Konsequenz?

Unter den Klöstern waren manche, denen jene Fakultäten und die eigenen Lehranstalten noch nicht liberal genug erschienen. Sie sandten ihre jungen Leute nach Königsberg, um dort moderne Philosophie bei Kant, und nach Göttingen, um von Eichhorn die Kunst der Bibelzersetzung im vollendetsten Maße zu lernen. Nach Hause zurückgekehrt, fanden begreiflicherweise diese jungen Höchstgebildeten das Joch des ohnehin bis aufs äußerste gelockerten Ordenslebens unerträglich und warfen das Ordenskleid ab, oder baten die Staatsgewalt, die Klöster aufzuheben, soweit diese nicht ohnehin schon zum Untergang bestimmt waren.

Der Klerus hatte auch seine Mitglieder, die schon im Seminar den Gehorsam gegen die Autorität unverträglich mit ihrer Menschenwürde gefunden und Revolution erhoben hatten wie in Würzburg, Mitglieder, die theologische Vorlesungen bei Paulus und bei Schelling dem katholischen Studium vorzogen, Mitglieder, die „mit wahrem Frohlocken“ die zerstörenden Verordnungen von Joseph II. und von Montgelas vollzogen, Mitglieder, deren Predigt, deren Pastoral aller Dogmatik und allem Übernatürlichen entsagte und sich nur auf die praktische Lebensweisheit warf, auf soziale Verbesserung des bürgerlichen Lebens, auf Wirken, Wirken, Wirken und immer wieder Wirken im Dienst der Humanität und der Volksbildung.

14. Nicht immer ist der Zusammenbruch so entsetzlich gewesen wie am Anfang des 16. und am Ende des 18. Jahrhunderts und wie nach dem Vatikanischen Konzil, wo übrigens eine vollständige Ausscheidung durch den Krieg und durch den Kulturkampf hintertrieben wurde. Es hat eben auch nur selten der Liberalismus so ungeheure Ausdehnung erlangt und Wurzel und Stamm des Christentums so zerfressen wie damals. Aber auch dort, wo seiner Wühlarbeit früher ein Ziel gesetzt wurde, hat sich deren zerstörende Wirksamkeit nie verleugnet.

15. Wo immer wir die Geschichte des Liberalismus in vergangenen Tagen verfolgen, überall finden wir über kurz oder lang eine Katastrophe im Christentum verzeichnet. Es wird auch die Geschichte der Zukunft kein anderes Ergebnis zu verzeichnen haben. Denn ewig steht das oft bewährte Wort des Herrn: „Ich bin gekommen, um zu trennen zwischen Vater und Mutter, zwischen Tochter und Mutter, und des Menschen Feind sind seine eigenen Hausgenossen.“ (Matth. 10, 35-36) –
aus: Albert Maria Weiß O.P., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 68 – S. 77

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