Der Liberalismus ist noch nicht tot
Der Liberalismus als guter Katholizismus?
2. Wer die Geschichte gelten läßt und wer die Menschheit nimmt so wie sie wirklich ist, der muss zugeben, daß die Beantwortung der Frage nach dem rechten Mittelmaß aussichtslos ist, wenn man den Menschen sich selber überläßt. Denn dann gibt es so viele Mittelmaße als es Individuen gibt, und der Maßstab, nach dem diese rechte Mitte festgestellt wird, ist bald chinesische Mittelmäßigkeit, bald autonome Brutalität, hier rationalistische Oberflächlichkeit, dort unbelehrbarer Subjektivismus. Es gibt nicht viele Gebiete, auf denen einem so klar wie hier wird, daß der Mensch einer überlegenen Autorität und einer unbestechlichen Richtschnur bedarf, wenn er den Platz einnehmen soll, der ihm für dein Denken und sein Handeln gebührt.
3. Daran wird man lebendig erinnert, wenn man den Liberalismus mit solcher Zuversicht sagen hört, er lasse sich den Ruhm nicht nehmen, gute Christen, gute Katholiken zu erziehen, die Katholiken der rechten Mitte. Darin finde er eben den Beweis für die Berechtigung seiner Richtung, daß diese allen Extremen gleichmäßig entgegentrete. Ihm sei alles Zuviel ebenso verhaßt wie alles Zuwenig. Und nur dann ließe sich hoffen, daß das Christentum seinen Platz in der Welt behaupte, wenn man es mit der gebührenden Mäßigung als die Religion der rechten Mitte darstelle, das heißt nach den Grundsätzen des Liberalismus, denn das Zuwenig stoße die Menschen lange nicht so sehr ab wie das Übermaß.
Bekämpfung des Hyperkatholizismus
4. Deshalb müsse eben der „Hyperkatholizismus“ mit solcher Schärfe bekämpft werden. Es sei geradezu der gefährlichste Feind des Christentums. Ihm mit seiner ewigen Betonung der Sünde, ihm mit seiner verletzenden Anklage gegen die angeblich grundverdorbene Welt, ihm, dem geschworenen Feind der modernen Wissenschaft und Kultur, ihm, der von nichts zu reden wisse als von Abtötung und Selbstverleugnung, vom Ungenügen der natürlichen Kräfte und von den Herrlichkeiten der übernatürlichen Ordnung, ihm, dem verhängnisvollen Hemmschuh für die Ausnützung der Natur, ihm, der Hauptursache für unsere Inferiorität und für unsere allgemeine Verachtung, ihm, dem unbelehrbaren Gegner des Ausgleichs mit der modernen Welt, ihm müsse der Krieg gemacht werden. Nicht dem Christentum sei die Welt feind, im Gegenteil, sie würde es mit Freuden umfangen, wenn es ihr nur in seiner wahren Gestalt vorgestellt werde. Aber da sie es nie anders zu sehen bekäme als in der entstellten Gestalt, die es unter den Händen des Hyperkatholizismus angenommen habe, so glaube sie, dies sei das Christentum, und daher ihr Haß dagegen. Das aber könne man ihr nicht verdenken. Sie sei da weit weniger schuldbar als dieser Hyperkatholizismus, der, um das Prinzip zu retten, lieber die ganze Welt zugrunde gehen lasse, ganz wie jene hölzernen Juristen, von denen der Spruch stammt: Gerechtigkeit muss sein, geht auch die Welt drauf.
Amerikanismus und Minimismus
7. Sicher will der gewöhnliche Liberalismus, – von seinen radikalen Gestaltungen sehen wir vorerst ab – nichts, was katholisch ist, leugnen. Aber er möchte wenigstens, wie es der Amerikanismus tut, davon schweigen oder bis auf weiteres davon absehen. Er möchte wenigstens wie die früher angeführten Äußerungen zeigen, die katholischen Lehrsätze, die der heutigen Weltanschauung so verletzend klingen, die Lehre vom Sündenfall, von der Welt, von der Verpflichtung, das Natürliche in den Dienst des Übernatürlichen zu stellen, er möchte alles, was dem Ausgleich mit der Welt hinderlich im Wege steht, für die Kirche und für den Religionsunterricht vorbehalten, wie die Alten sagten, als esoterisch geheim halten, in der Öffentlichkeit aber davon keinen Gebrauch machen lassen. Er möchte das alles, auch wenn er es nicht leugnet, so auslegen, daß sich die moderne Welt daran nicht stoßen kann. Er möchte insbesondere die Anwendung der katholischen Lehre von der Autorität, von der Kirche, vom Glauben und vom Übernatürlichen auf die Fragen des öffentlichen Lebens, des wirtschaftlichen, des politischen, des wissenschaftlichen und Kulturlebens, gemildert oder gänzlich unterdrückt sehen. Daß es immer noch deren gibt, die damit nicht einverstanden sind, die keine Abschwächung der vollen katholischen Lehre, die keine Zurückdrängung der katholischen Grundsätze von gewissen privilegierten Ausnahmegebieten anerkennen wollen, das ist der Grund, warum er von Hyperkatholizismus redet.
Es ist daher gar nicht nötig, daß wir dem Liberalismus ohne weiteres den katholischen Glauben absprechen. Es genügt schon der Minimismus, sei es bei den einen in der Auslegung des Bekenntnisses, sei es bei den anderen in der Übung des katholischen Lebens, und es genügt zweitens die Widersetzlichkeit gegen die Anwendung der katholischen Grundsätze auf das öffentliche Leben, um ein Missverhältnis zu dem, was wirklich katholisch ist, herbeizuführen, so daß der Liberalismus selber gestehen muss, der Katholizismus reiche weit über ihn hinaus, sowohl was die Auffassung von seinem wahren Sinn und Gehalt, als insbesondere, was die Ausdehnung seiner Rechtsansprüche auf die Welt betrifft.
8. Einmal Minimismus. Man mag dafür einen Namen wählen wie immer, System des „Möglichstwenigen“, wie der selige Bischof Josard sich ausdrückte, oder das System des unbedingt Notwendigen, um mit der Aufklärungszeit, oder das des „annehmbaren Christentums“, um mit den modernistischen Franzosen zu sprechen, oder auch das System des echten, des gesunden, des zeitgemäßen Katholizismus, die Sache bleibt immer die gleiche. Daß aber der Liberalismus dieser Richtung huldigt, dafür liefert er den unwiderstehlichen Beweis eben durch seine Vorliebe für die Worte Übertreibungen und Hyperkatholizismus…
Das zweite Merkmal, an dem sich der Liberalismus verrät, ist die Trennung, oder doch die Richtung auf die Trennung des Natürlichen vom Übernatürlichen, des Geistlichen vom Weltlichen, des Religiösen, des Dogmatischen, des Kirchlichen vom Irdischen. Auf diesem Wege werden wir den Liberalismus immer finden. Vom Minimismus mag er sich manchmal frei erklären, wenigstens soweit er die Dinge versteht. Aber in unserer Frage ist er nie unbeteiligt…
Hyperkatholizismus – Verwirklichung des wahren Katholizismus
Daß aber die Sache selber sehr ernst zu nehmen ist, daß es sich hier um einen großen Riß handelt und um eine Gefährdung des katholischen Glaubens und Lebens, das ist doch unbestreitbar. Die wenigen Dinge, die wir im vorausgehenden nach den Kundgebungen des Liberalismus berührt haben, die Fragen von Sünde, Gnade, Natur, Übernatur, Kirchengewalt und deren Ausdehnung, Askese und christlichem Leben sind doch wahrhaftig nicht derart, daß man so durchgreifende Verschiedenheiten in deren Auslegung und Anwendung als gleichgültige und nebensächliche Schulfragen bezeichnen könnte.
10. Eines ist sicher, die Heroen des Christentums, die Märtyrer, die großen Opferseelen, die Heiligen haben nicht verächtlich vom Hyperkatholizismus geredet. Im Gegenteil, sie haben für jedes Jota des Glaubens ,für jede Zeremonie der Kirche, für jedes Mittel, das zur Vollkommenheit führt, Blut und Leben hingegeben. Weit entfernt davon, diesen angeblichen Übertreibungen einen angeblich gemäßigten Katholizismus als die wahre Religion entgegen zu setzen, haben sie die äußerste Anstrengung um die Erreichung der höchsten Stufe gemacht. Sie hielten keine Gebetsübung, kein Tugendwerk, keine Überwindung für unnütz. Sie haben keinen erblickt, der sie an Glaubenseifer und an Streben nach Heiligkeit übertraf, ohne daß sie sich ans Wetteifern mit ihm gegeben hätten. Das ist der Geist der Heiligen, der wahren Diener Gottes, Nachahmung, Wettbestreben, aber nicht Neid, nicht Anfeindung. Und dabei glauben sie keineswegs etwas Überflüssiges oder gar etwas Schädliches getan zu haben. Und die Christenheit aller Zeiten hat ihnen das nicht als Hyperkatholizismus, sondern als die Verwirklichung des wahren Katholizismus angerechnet. Der Herr selber weiß nichts vom Hyperkatholizismus, sondern er schildert nur den echten Katholizismus mit den Worten: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen war – und wer getraut sich dessen zu rühmen! – dann sagt: wir sind unnütze Knechte, wir haben nur getan, was wir zu tun schuldig waren. (Luk. 17,10) –
aus: Albert Maria Weiß O.Pr., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 20 – S. 28
Gesamter Text: Der Liberalismus als guter Katholizismus? auf: Albert Maria Weiß Über den Liberalismus