Ohne Zittern auf die Heiligen als Vorbild blicken?

Der Liberalismus – eine Gefahr für den Katholiken

Die Heiligen sind die echten Vertreter des wahren Christentums

1. Die Erinnerung an die Heiligen und an alle die großen Diener Gottes, die sich uns soeben aufgedrängt hat, ist wohl geeignet, uns mit ernsten Gedanken zu erfüllen. Auch wenn einer vor Gott in aller Wahrheit sagen kann, daß er mit dem Liberalismus nichts zu hat, kann er nicht ohne Zittern auf jene Vorbilder des christlichen Lebens blicken. Wie nehmen wir es mit den Geboten Gottes und der Kirche, wie mit unseren Gebeten, wie mit der Ehrfurcht vor dem Worte Gottes! Und sie behandelten die kleinste Zeremonie des Gottesdienstes und die alltäglichen Übungen des christlichen Lebens so ehrerbietig, daß sie sich ob der leisesten Vernachlässigung anklagten, als hätten sie ein großes Unrecht begangen. Sie legten ihrem sittlichen Wandel und ihrem öffentlichen Wirken die unverbrüchliche Treue gegen die Kirche als Grundlage und als Maßstab unter. Von ihrem Gebetsgeiste wollen wir gar nicht reden. Und wenn wir an ihren Eifer für den Glauben denken, dann haben wir allen Grund zu erschrecken. Denn waren sie ja doch bereit, für jeden Buchstaben der Schrift den Tod in Martern zu sterben, indes wir glauben, etwas Großes getan zu haben, wenn wir daran deuteln und kritteln, wie wir es nie an den Schriften der heidnischen Klassiker oder an den Versen von Goethe wagen würden.

2. In der Beschämung über ihre Treue oder vielmehr um sich die heilsame Beschämung darüber zu ersparen, wagt man es mitunter sogar, die Heiligen der Übertreibung, der Skrupulosität, der Kleinigkeits-Krämerei zu bezichtigen. Wahrhaftig ein trauriges Zeugnis dafür, wie klein der Mensch werden kann, wenn er der wahren Größe gegenüber gestellt wird. Denn gerade darin zeigen die Heiligen die Größe ihres Glaubens und ihre Treue gegen Gott. Sie waren so durchdrungen vom Geiste des Christentums, daß sie auch im kleinsten Worte, das aus dem Munde Gottes kommt, den Geist Gottes fühlten. Und sie waren so erfüllt vom Geiste des Gehorsams, daß sie sich fürchteten, sich am ganzen Gesetze Gottes zu versündigen, wenn sie auch nur einen Buchstaben als bedeutungslos verworfen hätten.

3. Sind die Heiligen die echten Vertreter des wahren Christentums oder sind sie es nicht? Fast möchte man fürchten, sich am Christentum zu versündigen, indem man auch nur diese Frage stellt. Was sagen wir vom Christentum! Sagt denn nicht schon das Alte Gesetz: „Tuet nichts zu dem Worte, das ich zu euch spreche, und nehmet nichts davon.“ (Dt. 4,2; 12,32) Und damit niemand glaube, das verrate den sklavischen Geist des Judentums, schließt das Neue Testament mit den Worten: „Wenn jemand etwas zu diesen Worten hinzutut, auf den wird Gott alle Strafen legen, und wenn jemand von den Worten des Buches hinweg tut, dessen Anteil wird Gott hinweg tun vom Buch des Lebens.“ (Offb. 22,18 u. 19) Fürwahr, ein Wort, das schwer ins Gewicht fällt. Es handelt sich hier nicht um menschliche Anschauungen oder Auslegungen, über die man verschiedener Meinung sein und disputieren kann, sondern um das Gesetz Gottes, um das ganze, unteilbare Christentum, von dessen treuer, uneingeschränkter Befolgung das eigene Leben abhängt.

4. Dieses Gesetz Gottes ist ernst, sehr ernst, und doch barmherzig zugleich. Es verpflichtet uns auf seinen ganzen Umfang und auf seinen ganzen Inhalt in allem, was es zu glauben, in allem, was es zu tun befiehlt. Wer auswählen wollte, was ihm zusagt, wer auch nur ein Gebot, das ihm mißliebig ist, mit Bewusstsein zurückweist, der versündigt sich, wie der Apostel sagt (Jak. 2,19), am ganzen Gesetz. Und es ist nicht zufrieden damit, daß es einer nur äußerlich in der Tat erfülle, es verlangt auch den Geist und das Herz als die Seele der Tat. Es ist ein Wort, dessen Schwere keiner zu hoch anschlagen, dessen Inhalt keiner ganz erschöpfen kann, das Wort des göttlichen Meisters: Ihr müßt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. (Matth. 5,46)

5. Dieses Wort reicht vollständig hin, um den Christen vor Gleichgültigkeit und vor Lauheit zu bewahren. Es wäre sogar geeignet, ihn zur Mutlosigkeit zu treiben, hätten wir nicht in der Kirche das richtige Verständnis dafür, das uns aufrüttelt ohne uns zu erdrücken. Keiner ist verpflichtet, das volle Verständnis der christlichen Wahrheiten bereits erlangt, keiner ist verpflichtet, den Gipfel der Vollkommenheit bereits erstiegen zu haben. Aber jeder ist in seinem Gewissen verbunden, nach der Vollkommenheit zu streben und somit in der Erkenntnis der göttlichen Dinge, in der Liebe zu Gott, in der Treue gegen die Forderungen des Christentums beständig zu wachsen. Wer mit Absicht und mit Überlegung dieses Streben von sich weist, wer grundsätzlich Glauben und Leben auf das beschränken wollte, was er sich selber als annehmbares Christentum zurechtgelegt hätte, der setzte sich der Gefahr aus, das Tor zum Reiche Gottes verschlossen zu finden. (S. Weiß, Apologie V (4), 201ff; 614, 718f)

6. Mit dieser Grundlehre des Christentums ist das, was man Liberalismus nennt, kaum jemals vereinbar. Wer dessen Grundsätze festhält, wenigstens mit voller Einsicht, der bricht dem Christen den Weg ab, der zum Ziele führt. Er bricht aber auch dem Christentum die Krone ab, oder vielmehr, um es ganz zu sagen, er schneidet ihm die Wurzel ab, aus der es Leben und Wirken zieht. –
aus: Albert Maria Weiß O.Pr., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 29 – S. 31

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