Was zum unfehlbaren Lehren erforderlich ist
Gibt es zwei unabhängige Träger der kirchlichen Unfehlbarkeit?
Man muss beachten, daß dem kirchlichen Lehramt nicht eine zweifach geartete Unfehlbarkeit verheißen ist, eine für seine feierlichen Entscheidungen, eine andere für seine gewöhnliche, alltägliche Betätigung. Eine solche Unterscheidung ist in der Offenbarung nicht begründet; vielmehr wird durch sie die Unfehlbarkeit einfach zugesagt für „alle Tage bis an das Ende der Welt“ (Matth. 28,20). Und in der Tat, wesentlich ist der Kirche das unfehlbare Lehren, nicht wesentlich ist ihr eine gewisse Feierlichkeit des Lehrens; die Konzilien, von denen die die feierlichen Lehrdekrete des Gesamtepiskopates herrühren, sind der Kirche überhaupt nicht schlechtweg notwendig, geschweige denn wesentlich, und auch das sonstige Lehren ist in keinem Fall an eine feierliche Form gebunden. Erfordert zum unfehlbaren Lehren ist nur das selbstverständliche Eine, daß etwas zu glauben, d. h. nicht zu einem vorläufigen und bedingten, sondern einem unwiderruflichen und unbedingten Fürwahrhalten vorgelegt werde, und darauf weist das Vatikanum hin, wenn es an der von Sp. zitierten Stelle erklärt: „Mit göttlichem und katholischem Glauben ist alles das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche, sei es durch feierliches Urteil, sei es durch das ordentliche und allgemeine Lehramt als göttlich geoffenbart zu glauben vorgestellt wird.“ (Sess. 3 cap. 3; Denzinger 1792) Nun hat aber keine feierliche Entscheidung des kirchlichen Lehramtes die göttliche Gewähr der Unfehlbarkeit ohne die Richtung gebende Mitwirkung des Papstes; wie wir sahen, kann von jedem feierlichen Lehrurteil, auch eines noch so großen Konzils von Bischöfen, an den Papst zum Zweck einer von ihm allein ausgehenden endgültigen Berichtigung appelliert werden. Folglich ist das kirchliche Lehramt auch in seiner ordentlichen Tätigkeit nicht unfehlbar ohne die bestimmende päpstliche Einflussnahme. Der Papst ist eben der unfehlbare Fels der Kirche, der unfehlbare Bestärker aller Brüder, der unfehlbare Hirt der ganzen Herde Christi nicht nur bei außerordentlichen Anlässen, sondern im ordentlichen, gewöhnlichen Gang des kirchlichen Lebens. Daher feiert auch z. B. Irenäus lange vor dem ersten allgemeinen Konzil die römische Kirche als diejenige, nach der alle übrigen mit Notwendigkeit sich in der Lehre richten.
Das gewöhnliche Walten des Lehramtes
Es liegt in der Natur der Sache, daß beim gewöhnlichen Walten des Lehramtes der ausschlaggebende Einfluß des Papstes mit minderer Deutlichkeit hervortritt. Gleichwohl läßt er sich auch hier zur Genüge aufzeigen. Man unterscheidet eine doppelte Klasse von Glaubensgesetzen. Die eine bezieht sich auf jene Wahrheiten, die von Anfang in der ganzen Kirche kraft der apostolischen Verkündigung stets ausdrücklich geglaubt wurden. Deren unfehlbare Richtigkeit wird zweifelsohne durch die normhafte Unfehlbarkeit Petri als des ersten Papstes und aller seiner an denselben Gesetzen festhaltenden Nachfolger gewährleistet, wenn auch im apostolischen Zeitalter eine weitere Bürgschaft vermöge der Unfehlbarkeit der einzelnen Apostel vorlag. Die andere Klasse hat solche geoffenbarte oder damit enge verknüpfte Wahrheiten zum Gegenstand, die im Laufe der Zeit einer unfehlbaren Festsetzung bedürfen. Wird diese nicht durch ein förmliches, vom Papst allein erlassenes oder doch entscheidend beeinflußtes Lehrgesetz herbei geführt, so erfolgt sie nach Art eines allgemeinen kirchlichen Gewohnheits-Gesetzes. Nun erlangt aber auch das allgemeine kirchliche Gewohnheits-Gesetz nur dadurch seine Gültigkeit, daß der Papst es wenigstens durch stillschweigende, aus den Umständen erkennbare Zustimmung als die Kirche bindend anerkennt. Daher ist auch das durch die gewöhnliche Wirksamkeit des ordentlichen kirchlichen Lehramtes allmählich eingeführte Glaubens-Gesetz endgültig die ganze Kirche verpflichtend und somit unfehlbar nur durch das maßgebende Eintreten des Papstes. (Vgl. mein Werk De ecclesia Christi N. 828)
Widerlegung der Bedenken
Die dagegen erhobenen Bedenken lassen sich unschwer erledigen. Ex cathedra sprechen ist an sich nichts anderes, als kraft der durch die cathedra versinnbildeten Autorität sprechen. Da es aber auch dem höchsten kirchlichen Lehrer, dem Papst, freisteht, auf verschiedene Weise, etwa bloß vorläufig und darum nicht unfehlbar, sich zu äußern, so pflegt man mit dem Vatikanum als Kathedralspruch, gleichsam per excellentiam, nur einen solchen zu bezeichnen, der definitiv oder endgültig ist. (Vgl. ebd. N. 971) Dieses päpstliche Endurteil kann feierlich und förmlich sein; es kann aber auch in einer weniger auffälligen Gestalt erscheinen; das einzig Wesentliche ist, daß der Papst seine Billigung einer Lehre als einer zu glaubenden oder unbedingt anzunehmenden hinlänglich zu erkennen gibt. Entweder versteht nun das Vatikanum unter Kathedral-Entscheidung jeden endgültigen Lehrentscheid oder nur den feierlichen. Im ersten Fall hat nach ihm auch der in einfacher Gutheißung oder Nichtbeanstandung sich kundgebende endgültige Lehrentscheid des Papstes als unfehlbar zu gelten. Im zweiten Fall hat es unmittelbar nur den feierlich und formell endgültigen Lehrentscheid als unfehlbar erklärt, aber die Unfehlbarkeit auch des nicht-feierlichen als eines dem feierlichen und formellen wesentlich äquivalenten oder gleichwertigen, ergibt sich dann ex paritate rationis. Sie ergibt sich gerade so, wie sich die Gehorsamspflicht auch für ein durch päpstliche Genehmigung rechtsgültiges allgemeines Gewohnheitsgesetz ergeben würde, wenn es dem Konzil gefallen hätte zu definieren, daß jedem vom Papst förmlich für die ganze Kirche erlassenen Gesetze zu gehorchen sei.
Unfehlbare Kathedralentscheidung
Also nicht auf das Wort Kathedral-Entscheidung kommt es an, sondern darauf, ob sachlich eine päpstliche Lehrkundgebung als unbedingt und endgültig sich darstelle oder nicht. Überdies ist nicht erfordert, daß die endgültige Lehrkundgebung direkt sich an die ganze Kirche wende; es genügt, daß aus den Worten oder den Umständen sicher feststeht, der Papst wolle zur Annahme einer Lehre bedingungslos oder auf immer verpflichten; da in Sachen des Glaubens nicht, wie in der Disziplin, irgendwelche Mannigfaltigkeit gestattet ist, so versteht es sich von selbst, daß jede, wenngleich in der äußeren Form nur an Teile der Kirche adressierte Glaubensverordnung des Papstes die ganze Kirche angeht; hierher gehört das berühmte Schreiben des Papstes Innozenz I. an die Afrikaner, Cölestins an Cyrill, Leos an Flavian und so viele andere Dokumente. (Siehe ebd. N. 1072) Wenn sohin der Papst nur „als Bischof in seiner Diözese Rom“, d. h. von seiner Vollgewalt nicht den vollen Gebrauch machend und deshalb noch nicht endgültig, eine Lehre vorträgt, so ist dieser Lehrvortrag keine unfehlbare Entscheidung, mögen auch alle andern Bischöfe in ihren Diözesen dasselbe mit ihm lehren; es ist eben nicht jede in der Kirche allgemein verkündete Lehre unfehlbar, sondern nur die als endgültig oder absolut zu halten verkündet wird. Will hingegen der Papst durch seinen Vortrag den Gläubigen, zunächst auch nur seiner römischen Diözese, das Festhalten einer Lehre endgültig auferlegen, so haben wir eine unfehlbare Entscheidung; diese hängt jedoch von der Übereinstimmung der Bischöfe nicht ab; vielmehr zieht sie die Zustimmung der Bischöfe, die bis dahin noch zweifelten, bei sonst erfolgender Trennung von der Kirche, notwendig nach sich. Übrigens fällt der Papst sicher eine wirkliche und förmliche Kathedral-Entscheidung, „wenn er bei einem Konzil mit anderen Bischöfen zusammen seine Stimme“ für eine zu glaubende oder unbedingt zu haltende Lehre „abgibt“. So legt er ja definitiv als Hirt und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität eine von der ganzen Kirche über den Glauben oder die Sitten festzuhaltende Lehre vor und erfüllt mithin alle Anforderungen, die das Vatikanum an eine Kathedral-Entscheidung stellt. (Sess. 4 cap. 4; Denzinger 1839) Daß diese päpstliche Entscheidung unter Billigung des Konzils erfolgt, entkleidet sie nicht ihres Ranges einer aus sich endgültigen und unfehlbaren Kathedral-Entscheidung; es verleiht ihr nicht erst ihre Endgültigkeit und Unfehlbarkeit, wie sehr sie auch ihre Feierlichkeit erhöht. Eine derart feierliche Lehrentscheidung gab z.B. Pius IX., als er in der dritten Sitzung des vatikanischen Konzils erklärte: „Die Dekrete und Kanones, die in der eben verlesenen Konstitution enthalten sind, fanden den Beifall aller Väter ohne eine Ausnahme, und Wir definieren sie, unter Billigung des heiligen Konzils, so wie sie verlesen sind, und bestätigen sie mit apostolischer Autorität“. –
aus: Anton Straub SJ, Gibt es zwei unabhängige Träger der kirchlichen Unfehlbarkeit?, Separatdruck aus der Zeitschrift für katholische Theologie Jahrgang 1918, Heft 2, S. 38 – S. 42
siehe zu diesem Thema auch die Beiträge von Joseph Clifford Fenton