Papst Pius X über die Brüderlichkeit

Hut, bischöflicher Krummstab, Kleidungsstücke eines Papstes

Ein Porträt von Papst Pius X.; er ist in weißer päpstlicher Kleidung zu sehen, er trägt ein schönes Kreuz und schaut ernst, aber fest entschlossen

Der heilige Papst Pius X. über Brüderlichkeit

aus dem Apostolischen Schreiben „Notre charge apostolique“ über die Sillon-Bewegung

Es gibt keine wahre Brüderlichkeit außerhalb der christlichen Liebe.

Genauso steht es um den Begriff der Brüderlichkeit, die sie in der Liebe zu den gemeinsamen Interessen begründen oder, über alle Weltanschauungen und alle Religionen hinweg, einfach im Begriff der Humanität, wobei sie mit gleicher Liebe und gleicher Toleranz alle Menschen mit allen ihren Nöten umfassen, den geistigen und moralischen ebenso, wie den körperlichen und irdischen. Die katholische Lehre zeigt uns aber, dass die erste Pflicht der Nächstenliebe nicht in der Toleranz gegenüber irrigen Überzeugungen, so aufrichtig dieselben auch sein mögen, besteht; auch nicht in der theoretischen oder praktischen Indifferenz gegenüber dem Irrtum und dem Laster, wohin wir unsere Brüder gestürzt sehen: sondern sie besteht in dem Eifer, sie geistig und moralisch zu bessern, nicht weniger, als in der Sorge für ihr materielles Wohlergehen.

Die gleiche katholische Lehre zeigt uns auch, dass die Quelle der Nächstenliebe sich in der Liebe zu Gott befindet, dem gemeinsamen Vater und gemeinsamen Ziel der ganzen Menschheitsfamilie; und in der Liebe zu Jesus Christus, dessen Glieder wir in einer Weise sind, dass die Hilfe für einen Unglücklichen eine Jesus Christus selbst erwiesene Wohltat ist. Jede andere Liebe ist eine Illusion oder ein unfruchtbares, vergängliches Gefühl. Die menschliche Erfahrung beweist es wahrlich, dass in den heidnischen und laizistischen Gesellschaften aller Zeiten unter gewissen Umständen die Rücksicht auf die allgemeinen Interessen oder auf die gleiche Menschennatur sehr wenig Gewicht hat gegenüber den Leidenschaften und Begierden des Herzens.

Nein, Ehrwürdige Brüder, es gibt keine wahre Brüderlichkeit außerhalb der christlichen Liebe, die aus Liebe zu Gott und Seinem Sohn Jesus Christus, unserem Erlöser, alle Menschen umfasst: um allen beizustehen und alle zum selben Glauben und zum selben Glück des Himmels zu führen. Wenn die Demokratie die Brüderlichkeit von der derart verstandenen christlichen Liebe trennt, so bedeutet sie keinen Fortschritt, sondern schafft einen unheilvollen Rückgang der Zivilisation. Denn wenn man, wie Wir es aus ganzer Seele wünschen, zum größtmöglichen Wohlergehen der Gesellschaft und jedes einzelnen ihrer Glieder durch die Brüderlichkeit oder, wie man auch sagt, durch eine allgemeine Solidarität gelangen will, dann bedarf es der Einheit der Geister in der Wahrheit, der Einheit der Willensrichtungen in der Moral, der Einheit der Herzen in der Liebe zu Gott und zu Seinem Sohn, Jesus Christus. – Jedoch: diese Einheit ist nur zu verwirklichen durch die katholische Liebe, welche demzufolge allein die Völker im Gang des Fortschritts zum Ideal der Zivilisation führen kann.

Was soll man denken von dieser Ehrfurcht gegenüber allen Irrtümern?

Was muss man nach dem hier Gesagten von dem bunten Durcheinander denken, zu dem die jungen Katholiken mit Irrgläubigen und Ungläubigen aller Art in einem derartigen Werk verpflichtet sind? Ist es nicht für sie tausendfach gefährlicher als eine neutrale Vereinigung? Was soll man denken von diesem Appell an alle Irrgläubigen und an alle Ungläubigen, die Überlegenheit ihrer Überzeugungen auf dem sozialen Gebiet zu beweisen, in einer Art von apologetischem Wettbewerb: so als ob dieser Wettbewerb nicht bereits seit neunzehn Jahrhunderten im Gange wäre, und zwar unter für den Glauben der Gläubigen weniger gefährlichen Umständen, und ganz zur Ehre der katholischen Kirche? Was soll man denken von dieser Ehrfurcht gegenüber allen Irrtümern und von der befremdlichen Aufforderung, die ein Katholik an alle Dissidenten gerichtet hat, ihre Überzeugungen durch Studien zu festigen und daraus immer reichere Quellen von neuen Kräften entstehen zu lassen?

Was soll man denken von einer Vereinigung, in der alle Religionen und selbst die Freidenkerei ermuntert werden, sich öffentlich zu äußern und hervorzutun? Denn die Sillonisten, die in öffentlichen Versammlungen und anderswo stolz ihren persönlichen Glauben bekennen, sie beabsichtigen in keiner Weise, andere mundtot zu machen und den Protestanten zu hindern, seinen Protestantismus zu bekennen, oder den Skeptiker seinen Skeptizismus. Was soll man schließlich denken von einem Katholiken, der beim Eintritt in einen Studienzirkel seinen Katholizismus an der Tür lässt, um seine Genossen nicht zu erschrecken, die von einer uneigennützigen sozialen Aktivität träumen und abgeneigt sind, die selbe in den Dienst des Triumphes von Interessen, Cliquen, oder selbst von Überzeugungen irgendwelcher Art zu stellen?

Zusammenfassend ergibt sich: nicht mehr katholisch.

Ach ja, leider! Die Mehrdeutigkeit ist zerbrochen! Die soziale Aktivität des Sillon ist nicht mehr katholisch. Der Sillonist als solcher arbeitet nicht für eine Clique, und die Kirche, er sagt es, wird in keinem Fall Nutznießer der Sympathie sein, die er künftig durch seine Aktivität hervorzubringen vermag. Wirklich eine befremdende Unterstellung! Man fürchtet, die Kirche könnte von der sozialen Aktivität des Sillon zu egoistischen und gewinnsüchtigen Zwecken Nutzen ziehen: so als ob nicht alles, woraus die Kirche Nutzen zieht, nicht auch zum Nutzen der Menschheit wäre! Eine befremdende Verkehrtheit der Ideen! Die Kirche sei Nutznießer der sozialen Aktivität- so als ob nicht die größten Sozialwissenschaftler anerkannt und bewiesen hätten, dass (umgekehrt) die soziale Aktivität es ist, welche, um seriös und fruchtbar zu sein, Nutznießerin der Kirche sein muss.

Wovon Männer, die sich Katholiken nennen, träumen – ein Wahngebilde

Aber noch mehr befremdend, erschreckend und betrübend zugleich, sind die Verwegenheit und die geistige Leichtfertigkeit von Männern, die sich Katholiken nennen, und die davon träumen, unter derartigen Bedingungen die Gesellschaft umzugestalten, und auf Erden, über die katholische Kirche hinweg, das Reich der Gerechtigkeit und der Liebe zu errichten: mit von allen Richtungen her gekommenen Arbeitern aus allen Religionen oder ohne Religion, mit oder ohne Glaubensüberzeugungen; vorausgesetzt nur, dass sie das vergessen, was sie trennt: ihre religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen; und dass sie das einsetzen, was sie eint: einen großmütigen Idealismus, sowie moralische Kräfte, von dort her genommen, wo sie können.

Wenn man die Kräfte, Erkenntnisse und übernatürlichen Tugenden bedenkt, welche nötig waren, um den christlichen Staat einzurichten, an die Leiden von Millionen Märtyrern, an die Erleuchtungen der Kirchenväter und Kirchenlehrer, an die Opferbereitschaft der Heroen der Nächstenliebe, an die machtvolle, vom Himmel gestiftete Hierarchie, an die Ströme göttlicher Gnade; und daran, wie dies alles auferbaut, zusammengehalten und durchdrungen ist vom Leben und Geist Jesu Christi, der Weisheit Gottes, dem Mensch gewordenen Wort: wie gesagt, wenn man all das bedenkt, so ist man entsetzt, wenn man sieht, wie neue Apostel darauf erpicht sind, all das noch besser zu machen: unter Einsatz eines verschwommenen Idealismus und von Staatsbürgertugenden.

Was werden sie zustandebringen? Was wird aus einer solchen Zusammenarbeit hervorgehen? Eine reines Wortgebilde, ein Hirngespinst, in dem mischmaschartig in einer faszinierenden Verwirrung die Worte von Freiheit, von Gerechtigkeit, von Brüderlichkeit und von Liebe, von Gleichheit und von Erhöhung des Menschen aufleuchten, und das alles auf dem Grund einer falsch verstandenen Menschenwürde. Es wird eine tobende Agitation geben, wirkungslos für das gesetzte Ziel, die nur den weniger utopistischen Massenaufwieglern nutzbringend sein wird. Ja, man kann wirklich sagen, dass der Sillon, den Blick auf ein Wahngebilde geheftet, den Sozialismus herbeiführt.

Das Endergebnis: Man arbeitet nicht für die Kirche, sondern für die Menschheit

Wir fürchten, dass es noch schlimmer kommt. Das Endergebnis dieses bunten Durcheinanders in der Arbeitsweise, der Nutznießer dieser gemischten sozialen Aktivität kann nur eine Demokratie sein, die weder katholisch, noch protestantisch, noch jüdisch sein wird; eine Religion (denn der Sillonismus ist, seine Anführer haben es gesagt, eine Religion), die universaler ist als die katholische Kirche, welche alle Menschen, die endlich Brüder und Genossen geworden sind, im „Reich Gottes“ vereinigt. – Man arbeitet nicht für die Kirche, man arbeitet für die Menschheit.

Durchdrungen von tiefster Traurigkeit fragen Wir Uns nun, Ehrwürdige Brüder, was aus dem Katholizismus des Sillon geworden ist. Ach! Der klare und mächtige Strom, der früher zu so schönen Hoffnungen Anlass gab, wurde in seinem Lauf abgefangen von den modernen Feinden der Kirche, und er bildet künftig nur noch einen trüben Nebenfluss der großen Strömung der Apostasie, welche in allen Ländern durch die Errichtung einer universellen Kirche organisiert wird, die weder Dogmen noch Hierarchie, weder Regeln für den Geist noch Schranken für die Leidenschaften hat, und die unter dem Vorwand von Freiheit und Menschenwürde überall in der Welt, wenn sie triumphieren könnte, auf die Herrschaft der List und der Gewalt durch die Gesetze und auf die Unterdrückung der Schwachen, derer, die leiden und arbeiten, hinauslaufen würde.

aus: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung (Hrsg. Dr. Arthur Utz), 1976, Hervorhebungen hinzugefügt.

siehe auch den Beitrag: Die wahre Brüderlichkeit

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