Der heilige Papst Pius X. über die Humanitätsduselei
sowie zur Verkehrtheit der Gleichberechtigung aller Religionen und Weltanschauungen
aus dem Apostolischen Schreiben „Notre charge apostolique“ über die Sillon-Bewegung
Vor kurzem ist der Name des „größeren Sillon“ wieder verschwunden, und eine neue Organisation ist dazwischen getreten, ohne den Geist und die Grundlage der Sache zu ändern, im Gegenteil, um Ordnung in die Arbeit zu bringen und die verschiedenen aktiven Kräfte zu organisieren. Der Sillon bleibt immer eine Seele, ein Geist, der die Gruppen durchdringen und ihre Tätigkeit beseelen wird. Und alle die neuen Gruppen, die anscheinend selbständig geworden sind: die katholischen, die protestantischen, die freidenkerischen, werden eingeladen, sich ans Werk zu begeben. Die katholischen Genossen arbeiten unter ihnen in einer gesonderten Organisation für ihre (eigene) Ausbildung und Erziehung. Die protestantischen Demokraten und die Freidenker tun das Gleiche auf ihrer Seite. Alle: die Katholiken, die Protestanten und die Freidenker, bemühen sich, die Jugend wehrhaft zu machen: nicht für einen brudermörderischen Kampf, sondern für einen großmütigen Wettstreit im Bereich der sozialen und staatsbürgerlichen Tugenden.
Es gibt keine wahre moralische Zivilisation ohne die wahre Religion
Diese Erklärungen und diese neue Gestaltung der sillonistischen Aktivität verlangen sehr schwerwiegende Überlegungen.
Es handelt sich um eine von Katholiken gegründete interkonfessionelle Vereinigung zur Arbeit an der Reform der Zivilisation: einem in höchstem Grade religiösen Werk. Denn es gibt keine wahre Zivilisation ohne moralische Zivilisation, und keine wahre moralische Zivilisation ohne die wahre Religion: das ist eine bewiesene Wahrheit, das ist eine historische Tatsache. Und die neuen Sillonisten können nicht vorgeben, sie arbeiteten ja nur im Bereich der praktischen realen Wirklichkeiten, wo die Verschiedenheit der Überzeugungen keine Rolle spiele. Ihr Anführer spürt selbst so genau diesen Einfluss der geistigen Überzeugungen auf das Ergebnis der Aktivität, dass er sie auffordert, welcher Religion sie auch immer angehören mögen, im Bereich der praktischen realen Wirklichkeiten die Überlegenheit ihrer persönlichen Überzeugungen zu beweisen. Und mit Recht: denn die Verwirklichungen in der Praxis nehmen die Gestalt der religiösen Überzeugungen an: so wie die Gliedmaßen eines Leibes bis in ihre äußersten Enden ihre Gestalt durch das Lebensprinzip empfangen, das sie beseelt.
Die düsteren Werkstätten dieser tödlichen Lehren
Wir kennen nur zu gut die düsteren Werkstätten, in denen diese tödlichen Lehren ausgearbeitet werden, von denen klarsichtige Geister sich nicht verführen lassen sollten. Die Anführer des Sillon haben sich nicht davor schützen können: die Überspanntheit ihrer Gefühle, die blinde Güte ihres Herzens, ihr mit Elementen des Illuminatentums vermischter weltanschaulicher Mystizismus haben sie zu einem neuen Evangelium hingezogen, in welchem sie das wahre Evangelium des Erlösers zu erkennen meinten, so dass sie es sogar wagten, unseren Herrn Jesus Christus mit einer aufs höchste ehrfurchtslosen Vertraulichkeit zu behandeln; und dass sie, da ihr Ideal dem der (Französischen) Revolution nah verwandt ist, nicht davor zurückschreckten, gotteslästerliche Vergleiche zwischen dem Evangelium und der (Französischen) Revolution zu ziehen, welche nicht damit entschuldigt werden können, sie seien ihnen nur aus irgendeiner wilden Unbedachtheit heraus entschlüpft.
Entstellung des Evangeliums und der Heiligkeit unseres Herrn Jesus Christus
Wir wollen Eure Aufmerksamkeit, Ehrwürdige Brüder, auf diese Entstellung des Evangeliums und der Heiligkeit unseres Herrn Jesus Christus, des Gottmenschen, lenken, wie sie im Sillon und anderswo üblich ist. Sobald man die soziale Frage anschneidet, ist es in gewissen Kreisen Mode, zunächst die Gottheit Jesu Christi beiseite zu stellen, um dann nur von seiner überaus großen Sanftmut zu sprechen, seinem Mitleid mit jeglichem menschlichen Elend, seinen eindringlichen Ermahnungen zur Nächstenliebe und Brüderlichkeit.
Gewiss, Jesus hat uns mit unermesslicher, grenzenloser Liebe geliebt, und Er ist in die Welt gekommen, um zu leiden und zu sterben, damit alle Menschen, um Ihn herum versammelt, in Gerechtigkeit und Liebe und erfüllt von den gleichen Empfindungen gegenseitiger Achtung, in Frieden und Glück leben. Aber an die Verwirklichung dieses zeitlichen und ewigen Glückes hat Er mit höchster Autorität die Bedingung geknüpft, dass man Teil Seiner Herde werde, dass man Seine Lehre annehme, dass man die Tugend übe, und dass man sich belehren und leiten lasse durch Petrus und dessen Nachfolger. Und wenn Jesus auch gut gewesen ist zu den Verirrten und den Sündern, so hat Er doch niemals deren falsche Überzeugungen respektiert, so aufrichtig diese auch scheinen mochten: Er hat sie alle geliebt, um sie zu belehren, zu bekehren und zu retten.
Wenn Er die Mühseligen und Beladenen zu Sich gerufen hat, um sie zu erquicken, so geschah dies nicht deshalb, um ihnen den Neid einer verstiegenen Gleichheit zu predigen. Wenn Er die Niedrigen erhöht hat, so nicht, um ihnen das Gefühl einer unabhängigen und mit dem Gehorsam unvereinbaren Würde einzuflößen. Wenn Sein Herz überströmte von Milde für die Seelen guten Willens, so konnte Ihn doch ebenso ein heiliger Zorn erfassen gegen die Entweiher des Hauses Gottes; gegen die Erbärmlichen, die den Kleinen Ärgernisse bereiten; gegen die Autoritäten, die das Volk mit schweren Lasten überhäufen und keinen Finger rühren, um sie zu erleichtern.
Er war ebenso kraftvoll wie sanft; Er hat gescholten, gedroht und gestraft; Er wusste und hat es uns gelehrt, dass die Furcht oft der Anfang der Weisheit ist; und dass es manchmal nötig ist, ein Glied abzuschneiden, um den Leib zu retten. Schließlich hat Er für die zukünftige Gesellschaft nicht die Herrschaft eines glücklichen Gedeihens angekündigt, aus der das Leiden verbannt sein würde. Aber durch Seine Lehre und Sein Beispiel hat Er uns den Weg eines möglichsten Glückes auf Erden und der vollkommenen Glückseligkeit im Himmel gewiesen: den königlichen Weg des Kreuzes. Dies sind Lehren, die man zu Unrecht ausschließlich auf das Leben des Einzelmenschen im Hinblick auf das ewige Heil anwenden würde: es sind in höchstem Maße soziale Lehren, und sie zeigen uns in unserem Herrn Jesus Christus etwas ganz anderes als eine Humanitätsduselei ohne Festigkeit und ohne Autorität.
aus: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung (Hrsg. Dr. Arthur Utz), 1976