Pius X Die modernistischen Irrtümer

Hut, bischöflicher Krummstab, Kleidungsstücke eines Papstes

Der Katechismus über den Modernismus

nach der Enzyklika Pascendi Dominici gregis des hl. Pius X.

Pius X. in weißer Papstkleidung sitzt auf dem päpstlichen Stuhl, die Arme auf den Stuhllehnen, im Gesicht ist ein leichtes Lächeln zu sehen

Einleitung

Pius X. Die modernistischen Irrtümer

Zweck und Einteilung.

„Da die Modernisten diesen schlauen Kunstgriff anwenden, daß sie ihre Lehren niemals in schöner Ordnung und Einheit, sondern nur zerstreut und aus dem Zusammenhang gerissen, vortragen, um sich so den Anschein zu geben, als würden sie noch suchen und umher tasten, obwohl sie doch fest und entschieden sind: ist es nützlich, Ehrwürdige Brüder, diese Lehren hier zuerst übersichtlich darzustellen und ihren inneren Zusammenhang zu zeigen, um dann die Ursachen der Irrtümer aufzusuchen und die Mittel vorzuschreiben, durch die dem Unheil entgegen gearbeitet werden soll.“

Erster Teil: Die modernistischen Irrtümer.
Zweiter Teil: Die Ursachen der modernistischen Irrtümer.
Dritter Teil: Die Mittel gegen die modernistischen Irrtümer.

Erster Teil.

Die modernistischen Irrtümer.

18. Wie viele Persönlichkeiten gleichsam kann man in den Modernisten betrachten, um die Irrtümer des Modernismus klar auseinander zu setzen?

„Um aber in dieser verwickelten Sache ordnungsgemäß voran zu gehen, muss vorerst bemerkt werden, daß jeder Modernist mehrere Persönlichkeiten in sich vereinigt und vermischt, nämlich den Philosophen, Gläubigen, Theologen, Historiker, Kritiker, Apologeten und Reformator. Diese Persönlichkeiten müssen genau auseinander gehalten werden, wenn man deren System richtig erkennen und die Prämissen und Konsequenzen ihrer Lehren gut durchschauen will.“

Erstes Kapitel.

Die religiöse Philosophie der Modernisten.

§ 1. Der Agnostizismus.

19. „Um mit dem Philosophen zu beginnen“, welche Grundlage haben die Modernisten für ihre Philosophie?

„Als Grundlage der religiösen Philosophie betrachten die Modernisten jene Lehre, die man allgemein den Agnostizismus nennt.“

20. Worin besteht die Lehre des Agnostizismus?

„Nach ihr ist die menschliche Vernunft ganz auf die Phänomene beschränkt, d. h. die Dinge, welche äußerlich erscheinen und wie sie erscheinen; diese Grenzen darf und kann sie nicht überschreiten. Deshalb kann sie sich nicht bis zu Gott erheben, noch Gottes Dasein aus den sichtbaren Dingen erkennen.“

21. Welche Folgerungen ziehen die Modernisten hieraus?

„Hieraus folgern sie, daß Gott nicht direkt Gegenstand der Wissenschaft sein kann; und in Bezug auf die Geschichte, daß Gott keineswegs als geschichtliche Person betrachtet werden kann.“

22. „Wenn dem aber so ist, was wird dann aus der natürlichen Theologie, was aus den Gründen der Glaubwürdigkeit, was aus der äußeren Offenbarung?“

„Das ist leicht einzusehen. Dies alles setzen die Modernisten vollständig beiseite und verweisen es an den Intellektualismus, dieses lächerliche und längst veraltete System, wie sie es nennen.“

23. Lassen sich die Modernisten wenigstens durch die Verurteilung seitens der Kirche aufhalten?

„Sie lassen sich keineswegs dadurch aufhalten, daß die Kirche solche Ungeheuerlichkeiten ganz offen verurteilt hat.“

24. Was lehrt das Vatikanischen Konzil gegen solche Ansichten?

„Das Vatikanische Konzil bestimmte folgendes: Wenn jemand behauptet, der eine und wahre Gott, unser Schöpfer und Herr, könne aus den geschaffenen Dingen durch das Licht der natürlichen menschlichen Vernunft nicht mit Gewissheit erkannt werden, so sei er im Banne (De Revelat. Can. 1.); ebenso: Wenn jemand behauptet, es sei nicht möglich oder nicht nützlich, daß durch göttliche Offenbarung der Mensch über Gott und den ihm schuldigen Kult unterrichtet werde, so sei er im Banne (Ebenda, can.2.); endlich: Wenn jemand behauptet, die göttliche Offenbarung könne nicht durch äußere Zeichen glaubwürdig gemacht werden, und deshalb könne man nur durch die eigene innere Erfahrung der durch eine besondere Erleuchtung zum Glauben bestimmt werden, so sei er im Banne (De Fide can. 3.).“

25. „Wie können nun die Modernisten vom Agnostizismus, der nur in Nichtwissen besteht, zum wissenschaftlichen und historischen Atheismus, der im Gegenteil eine positive Leugnung ist, übergehen; mit welchem Recht können sie daher, die doch nicht wissen, ob Gott in die Weltgeschichte eingegriffen habe oder nicht, den Schluß ziehen, daß die Geschichte so erklärt werden müsse, als habe Gott tatsächlich nicht eingegriffen?“

„Das begreife, wer es vermag. Das steht jedenfalls für sie ganz fest, daß Wissenschaft und Geschichte keinen Gott anerkennen dürfen; auf diesen Gebieten gibt es ja nur Platz für die Phänomene und deshalb muss Gott und Göttliches davon gänzlich ausgeschlossen sein.“
„Was nach dieser vernunftwidrigen Lehre von der heiligsten Person Christi, von den Geheimnissen seines Lebens und Todes, von seiner Auferstehung und Himmelfahrt zu halten ist, das werden wir gleich deutlich erkennen.“

§ 2. Vitale Immanenz

„Der Agnostizismus ist jedoch nur als der negative Teil der modernistischen Lehre anzusehen; der positive besteht, wie sie sagen, in der vitalen Immanenz.“

26. Wie gehen die Modernisten vom Agnostizismus zur vitalen Immanenz über?

„Folgenderweise gehen sie von einem zum andern über. Die Religion, natürliche wie auch übernatürliche, muss, wie jede andere Tatsache, eine Erklärung zulassen. Ist nun einmal die natürliche Theologie beseitigt und durch Verneinung der Beweggründe des Glaubens der Weg zur Offenbarung versperrt, ist auch jede äußere Offenbarung gänzlich verworfen, dann sucht man außerhalb des Menschen vergebens eine Erklärung. Folglich muss man diese im Menschen selbst suchen; und weil die Religion eine Lebensäußerung ist, muss die Erklärung im Leben des Menschen zu finden sein. Hieraus folgt das Prinzip der religiösen Immanenz.“

27. Die Modernisten können also als Anhänger des Agnostizismus nur im Menschen und in dessen Leben die Erklärung der Religion suchen. Was ist nun nach ihrer Lehre die letzte Triebfeder und die erste Kundgebung der Lebens-Erscheinungen und besonders der Religion?

„Für jedes Lebensphänomen, wie nach dem Gesagten auch die Religion eines ist, liegt die letzte Triebfeder in einem gewissen Bedürfnis oder Impuls; reden wir aber vom Leben im engeren Sinne, so findet sich der Anfang in einer Bewegung des Herzens, die man Gefühl nennt.“

28. Wo ist demnach der Anfang des Glaubens und der Religion?

„Weil also Gott der Gegenstand der Religion ist, folgt notwendig, daß der Glaube, Anfang und Grundlage jeder Religion, in einem inneren Gefühle liege, welches aus dem Bedürfnis nach dem Göttlichen entsteht.“

29. Ist dieses Bedürfnis nach dem Göttlichen wenigstens im Gebiet des Bewusstseins, oder wo ist es zu finden?

„Dieses Bedürfnis nach dem Göttlichen kann, weil es nur unter gewissen günstigen Bedingungen wahr genommen wird, an und für sich nicht zum Gebiet des Bewusstseins gehören; es bleibt vorerst unterhalb des Bewusstseins, oder wie das der modernen Philosophie entlehnte Wort lautet, im Unterbewusstsein; da ist auch dessen Wurzel verborgen, die wir nicht fassen können.“

§ 3. Ursprung der Religion im allgemeinen

30. „Nun könnte jemand fragen, wie denn dieses Bedürfnis nach dem Göttlichen, das der Mensch in sich selbst verspüren soll, zur Religion werde?“

„Die Modernisten antworten hierauf: Wissenschaft und Geschichte sind auf zweifache Art begrenzt; erst nach außen durch die sichtbare Welt, und dann nach innen durch das Bewusstsein. Erreichen sie eine dieser Grenzen, dann können sie nicht mehr weiter voran, denn über diese Grenzen hinaus liegt das Unerkennbare. Vor diesem Unerkennbaren, sei es außerhalb des Menschen und jenseits der sichtbaren Natur der Dinge, sei es innerhalb im Unterbewusstsein verborgen, erregt das Bedürfnis nach dem Göttlichen, in dem zur Religion hinneigenden Gemüte ein eigenartiges Gefühl, wie der Fideismus sagt, ohne ein vorher gehendes Verstandesurteil. Dieses Gefühl enthält die göttliche Realität selbst als seinen Gegenstand und seine innerste Ursache und vereinigt gewissermaßen den Menschen mit Gott. Dieses Gefühl nun ist es, was die Modernisten Glauben nennen, es ist ihnen auch der Anfang der Religion.“

§ 4. Begriff der Offenbarung

„Ihr Philosophieren, oder besser ihr Träumen hat hier noch kein Ende.“

31. Was finden die Modernisten noch in diesem vorgeblichen Gefühl?

„Sie finden in diesem Gefühl nicht nur den Glauben, sondern mit und in diesem Glauben, wie sie ihn verstehen, behaupten sie auch, die Offenbarung zu haben.“

32. Inwiefern ist die Offenbarung darin enthalten?

„Was würde denn jemand zur Offenbarung noch mehr verlangen? Warum sollte man es nicht Offenbarung oder wenigstens den Anfang der Offenbarung nennen, wenn dieses religiöse Gefühl im Bewusstsein entsteht? Warum sollte man nicht sagen, daß Gott selbst in diesem Gefühl sich zeige, wenngleich noch etwas undeutlich? Sie sagen ferner: weil Gott zugleich Gegenstand und Ursache des Glaubens ist, so ist auch diese Offenbarung über Gott und von Gott; Gott ist in ihr zugleich der Offenbarende und der Geoffenbarte.“

33. Welche unvernünftige Lehre folgt aus diesen modernistischen Träumereien?

„Daher kommt, Ehrwürdige Brüder, die widersinnige Behauptung der Modernisten, daß jede Religion zu gleicher Zeit eine natürliche und eine übernatürliche sei, je nach dem verschiedenen Standpunkt, von dem aus sie betrachtet wird. Daher kommt es auch, daß sie Bewusstsein und Offenbarung als gleich bedeutende Begriffe hinstellen.“

34. Welch höchstes und allgemeines Gesetz wollen sie hieraus aufstellen?

„Daher ihr Gesetz, demgemäß das religiöse Bewusstsein als die allgemeine Norm aufgestellt wird, die gleichen Wert hat mit der Offenbarung, der alle sich unterwerfen müssen, sogar die höchste kirchliche Gewalt, ob sie Lehren oder Kultus- und Disziplinar-Gesetze aufstelle.“

§ 5. Verklärung und Entstellung der Phänomene durch den Glauben

35. Was ist noch zu beachten, um einen vollständigen Begriff von Glaube und Offenbarung zu haben, wie ihn die Modernisten sich denken?

„In diesem ganzen Entwicklungsgang des Glaubens und der Offenbarung, wie ihn die Modernisten sich denken, ist eines noch besonders zu beachten, was von nicht geringer Bedeutung ist für die historisch-kritischen Folgerungen, welche sie daraus ziehen. Das Unerkennbare nämlich, von dem sie sprechen, stellt sich dem Glauben nicht rein für sich allein dar, sondern in engem Zusammenhang mit irgend einem Phänomen, das allerdings in das Gebiet der Wissenschaft oder der Geschichte gehört, dieses Gebiet aber dennoch in etwa überragt.“

36. Was wird wohl dieses Phänomen sein?

„Dieses Phänomen kann eine Tatsache innerhalb der Natur sein, die etwas Geheimnisvolles in sich schließt, oder es wird irgend ein Mensch sein, dessen Charakter, Handlungen oder Reden mit den gewöhnlichen Gesetzen der Geschichte nicht überein zu stimmen scheinen.“

37. Was ergibt sich aus dieser Verbindung des Unerkennbaren mit einem Phänomen für den Glauben?

„Der Glaube erfaßt dann, angeregt von dem Unerkennbaren, das mit dem Phänomen verbunden ist, dieses ganze Phänomen und durchdringt es gleichsam mit seinem eigenen Leben. Daraus geht eine zweifache Folgerung hervor.“

38. Welches ist diese zweifache Folgerung?

„Zuerst entsteht eine gewisse Verklärung des Phänomens dadurch, daß dieses über seine wirklichen Verhältnisse erhoben wird, um es so für die Aufnahme der Form des Göttlichen, welche der Glaube verleiht, geeigneter zu machen. Zweitens folgt, wenn man so sagen darf, eine Art Entstellung des Phänomens, indem der Glaube es von den Bedingungen des Ortes und der Zeit trennt und ihm Eigenschaften beilegt, die es eigentlich nicht besitzt.

39. Wo findet man diese doppelte Arbeit der Verklärung und Entstellung besonders?

„Besonders findet man dies bei jenen Phänomenen, die der Vergangenheit angehören und zwar um so mehr, je älter sie sind.“

40. Welche Gesetze leiten die Modernisten aus dieser doppelten Tätigkeit her?

„Aus dieser doppelten Tätigkeit ergeben sich für den Modernisten zwei Kanones, die mit dem aus dem Agnostizismus gewonnenen die Grundlage der historischen Kritik bilden. Ein Beispiel wird die Sache erklären, und zwar nehmen wir es von der Person Christi her. In der Person Christi, sagen sie, finden Wissenschaft und Geschichte nichts als einen Menschen. Folglich muss in Kraft des ersten Kanons, welcher vom Agnostizismus hergeleitet wird, aus seiner Geschichte alles entfernt werden, was irgendwie göttlich ist. Nach dem zweiten Kanon ist die geschichtliche Person Christi verklärt vom Glauben; mithin muss alles von ihr weg genommen werden, was sie über die geschichtlichen Verhältnisse erhebt. Endlich ist nach dem dritten Kanon dieselbe Person Christi vom Glauben auch entstellt worden; folglich sind alle Reden und Taten, alles in einem Wort, was seinem Charakter, seinem Stand, seiner Erziehung, den Orts- und Zeitumständen, in denen er lebte, nicht entspricht, in Abzug zu bringen. – Das ist zwar ein ganz eigenartiges Denkverfahren: aber es ist dies die Kritik der Modernisten.“

§ 6. Ursprung der Religionen im besonderen

41. Nach den Aussagen der Modernisten wäre also das religiöse Gefühl der Keim aller Religion und die vollständige Erklärung der ganzen Religion?

„Ja das religiöse Gefühl, das kraft der vitalen Immanenz aus den Tiefen des Unterbewusstseins entspringt, ist der Keim aller Religion und der Grund von allem, was je in einer Religion war oder je noch sein wird.“

42. Wie entwickelte sich dieses religiöse Gefühl?

„Anfangs war dieses Gefühl roh, und gleichsam formlos, allmählich entwickelte es sich dann unter dem Einfluß jenes geheimnisvollen Prinzips, von dem es herstammt, in gleichem Fortschritt mit dem menschlichen Leben, da es ja, wie gesagt, nur eine Äußerung dieses Lebens ist.“

43. Entstanden alle Religionen, auch die übernatürliche, auf diese Weise?

„Das ist der Ursprung einer jeden Religion, auch der übernatürlichen: sie sind nämlich alle nur Entfaltungen des religiösen Gefühles. Es erwarte niemand eine Ausnahme für die katholische Religion; sie ist den andern ganz gleich zu stellen.“

44. Welches war demnach die Entstehung der katholischen Religion?

„Sie ist entstanden im Bewusstsein Christi, dieses Mannes von ganz auserlesener Natur, dem niemals irgend ein Mensch gleich gewesen ist oder gleich sein wird, durch den Vorgang vitaler Immanenz und nicht anders. – Man ist voll des Staunens, wenn man solch verwegene Behauptung, solche Gotteslästerung hört?“

45. Und derartiges sollen Katholiken und Priester sagen?

„Und dennoch, Ehrwürdige Brüder, solche kühne Behauptungen sind nicht nur von Ungläubigen ausgesprochen worden. Katholische Männer, ja sogar mehrere Priester haben dies öffentlich bekannt; dazu rühmen sie sich noch, mit solchem Wahnsinn die Kirche erneuern zu wollen?“

46. Scheint dies nicht der alte Irrtum des Pelagianismus zu sein, oder ist es noch mehr?

„Es handelt sich hier nicht allein um den alten Irrtum, wonach der menschlichen Natur gewissermaßen ein Recht auf die übernatürliche Ordnung zugeschrieben wurde. Man ist viel weiter gekommen; man behauptet, unsere heilige Religion sei, im Menschen Christus und in ganz gleicher Weise auch in uns, einzig und allein aus unserer eigenen Natur geboren. Es kann nichts mehr geben, was geeigneter wäre, jede übernatürliche Ordnung zu zerstören.“

47. Was lehrt dies bezüglich das Vatikanische Konzil?

„Deshalb hat das Vatikanische Konzil mit allem Recht bestimmt: Wenn jemand behauptet, der Mensch könne nicht von Gott zu einer Erkenntnis oder zu einer Vollkommenheit erhoben werden, welche die natürliche überragt, sondern er könne und müsse in beständigem Fortschritt aus sich selbst schließlich zum Besitz alles Wahren und Guten gelangen, so sei er im Banne.“ (De Revel. Can. 3.)

§ 7. Tätigkeit des Verstandes im Glaubensakt

48. Wenn nach den Modernisten der Glaube im Gefühl besteht, hat dann der Verstand gar keinen Anteil daran?

„Bis hierher nun, Ehrwürdige Brüder, sahen wir dem Verstand keinen Platz eingeräumt. Dennoch hat auch er nach der Lehre der Modernisten seinen Anteil am Glaubensakt; es ist der Mühe wert, zu erfahren, wie sie sich diesen denken.“

49. Das Gefühl scheint aber noch zu genügen, um uns Gott, den Gegenstand und Urheber des Glaubens, zu geben?

„In dem Gefühl, das wir schon öfters erwähnt haben, zeigt sich zwar Gott dem Menschen, sagen sie, weil es Gefühl ist und nicht Erkenntnis; aber dies geschieht so undeutlich und unbestimmt, daß er vom glaubenden Subjekt kaum oder gar nicht unterschieden wird.“

50. Was fehlt nun diesem Gefühl noch und was tut der Verstand im Glaubensakt?

„Daher ist es notwendig, daß dieses Gefühl noch von einem Licht durchleuchtet werde, damit Gott hervor trete und unterschieden werde. Das gehört nämlich zum Verstand, der denkt und analysiert; durch ihn formt der Mensch seine inneren Lebensphänomene zu Erkenntnis-Bildern um und drückt sie dann in Worten aus. Daher der den Modernisten geläufige Ausdruck: der religiöse Mensch müsse seinen Glauben denken.“

51. Welchen Vergleich gebrauchen die Modernisten, um die Aufgabe des Verstandes hier zu erklären?

„Der Verstand kommt also zum Gefühl hinzu, betrachtet dasselbe und arbeitet daran wie ein Maler, der die Züge eines verwischten Gemäldes genau studiert, um sie wieder klarer hervor zu heben: so ungefähr erklärt einer der Führer der Modernisten diese Sache.“

52. Welche Arbeit leistet der Verstand in der Hervorbringung des Glaubensaktes?

„Der Verstand verrichtet hierbei eine doppelte Arbeit: zuerst setzt er einen natürlichen und spontanen Akt und drückt das Ergebnis in einem einfachen, gemeinverständlichen Satz aus; sodann arbeitet er mit Reflexion und eingehender, d. h. nach dem Ausdruck der Modernisten, er arbeitet seinen Gedanken aus und faßt das Ergebnis in sekundäre Sätze, die zwar von dem ersten einfachen Satz hergeleitet sind, aber gefeilter und genauer lauten.“

53. Wie entsteht dann hieraus ein Dogma?

„Werden diese sekundären Sätze schließlich vom höchsten Lehramt der Kirche fest bestimmt, dann bilden sie ein Dogma.“

§ 8. Das Dogma

„Somit sind wir zu einem der Hauptpunkte der modernistischen Lehren gelangt, zum Ursprung nämlich und zum Wesen des Dogmas.“

54. Welches ist der Ursprung des Dogmas nach der modernistischen Ansicht?

„Den Ursprung des Dogmas verlegen sie in jene anfänglichen und einfachen Formeln, die in einer Hinsicht dem Glauben notwendig sind; denn um tatsächlich eine Offenbarung zu haben, ist im Bewusstsein eine deutliche Erkenntnis Gottes erfordert. Das eigentliche Dogma scheinen sie aber in die sekundären Sätze zu verlegen.“

55. Welches ist dann die Natur des Dogmas?

„Um die Natur des Dogmas zu untersuchen, muss man zuerst sehen, welches Verhältnis zwischen den religiösen Formeln und dem religiösen Gefühle bestehe. Dieses ist leicht zu verstehen, wenn man nur festhält, daß derartige Formeln keinen andern Zweck haben, als dem Gläubigen zu ermöglichen, daß er sich von seinem Glauben Rechenschaft gebe.“

56. Wie verhalten sich diese Formeln zu dem Gläubigen und seinem Glauben?

„Sie stehen in der Mitte zwischen dem Gläubigen und seinem Glauben; in Bezug auf den Glauben sind sie nur unzulängliche Zeichen seines Gegenstandes, die man allgemein Symbole nennt; in Bezug auf den Gläubigen aber sind sie nur Hilfsmittel. – Man kann also durch keinen Grund beweisen, daß sie die Wahrheit absolut enthalten.“

57. Was sind diese Formeln nach den Modernisten als Symbole, und was als Hilfsmittel betrachtet?

„Als Symbole sind sie Bilder der Wahrheit und deshalb müssen sie sich dem religiösen Gefühl anpassen, insofern dieses zum Menschen in Beziehung steht. Als Hilfsmittel sind sie Vehikel der Wahrheit und sind so dem Menschen anzupassen, insofern er zum religiösen Gefühl Beziehungen hat.“

§ 9. Veränderlichkeit des Dogmas

58. Sind nun diese dogmatischen Formeln, Symbole des Glaubens und Hilfsmittel des Glaubenden wenigstens unveränderlich?

„Der Gegenstand des religiösen Gefühles ist in dem Absoluten enthalten und hat deshalb unendlich viele Erscheinungsweisen, wovon bald diese bald jene hervortreten kann. Desgleichen kann der gläubige Mensch in den verschiedensten Lagen sich befinden. Folglich müssen auch die Formeln, die wir Dogma nennen, dem nämlichen Wechsel unterworfen sein, auch sie müssen notwendig sich verändern können. Somit ist der inneren Entwicklung des Dogmas der Weg geebnet. Das ist eine Ansammlung von Sophismen, die jede Religion schädigt und zerstört.“

59. Ist diese Entwicklung des Dogmas nur möglich oder ist sie auch notwendig?

„Die Modernisten behaupten hartnäckig, daß das Dogma nicht nur sich entwickeln und verändern kann, sondern auch sich entwickeln und verändern muss; dies geht auch aus ihren Ansichten selbst hervor.“

60. Aus welchem Grundsatz leiten die Modernisten diese notwendige innere Wandelbarkeit des Dogmas ab?

„Zu ihren wichtigsten Lehren gehört folgender Grundsatz, der aus dem Prinzip der vitalen Immanenz folgt, daß nämlich die religiösen Formeln, um wirklich religiös und nicht reine Erzeugnisse des Verstandes zu sein, lebendig sein und das Leben des religiösen Gefühls selbst mitleben müssen.“

63. Inwiefern verlangt die Notwendigkeit dieser lebendigen Aneignung die Veränderung der Dogmen?

„Die Formeln müssen also, um lebendig zu sein, dem Glauben und dem Gläubigen angepaßt sein und bleiben. Wenn nun aus irgend einem Grund dieses Angepasstsein aufhört, dann verlieren sie ihre ursprüngliche Bedeutung und bedürfen einer Änderung.“

64. Welche Achtung schenken die Modernisten den dogmatischen Formeln?

„Da die Kraft und das Los dieser dogmatischen Formeln so unbeständig sind, ist es nicht zu verwundern, daß sie den Modernisten nur zum Spott und zur Verachtung sind, während sie andererseits das religiöse Gefühl und das religiöse Leben über alles erheben.“

65. Wie verhalten sich dann die Modernisten zur Kirche bezüglich der dogmatischen Formeln?

„Sie tadeln die Kirche auf das kühnste, als wandelte diese auf abschüssiger Bahn, weil sie zwischen der äußeren Bedeutung der Formeln und ihrem religiösen und moralischen Wert nicht unterscheide, weil sie an nichtssagende Formeln in vergeblicher Anstrengung sich hartnäckig anklammere und dabei die Religion selbst in Verfall geraten lasse.“

66. Wie muss man die Modernisten beurteilen in Bezug auf die dogmatische Wahrheit?

„Sie sind blind und Führer der Blinden; aufgeblasen vom stolzen Namen der Wissenschaft gehen sie in ihrem Wahn so weit, daß sie den ewig wahren Begriff der Wahrheit und die eigentliche Bedeutung der Religion verkehren; sie gründen ein neues System, worin sie aus wilder, zügelloser Sucht nach Neuem die Wahrheit da nicht suchen, wo sie sicher ist; die heiligen, apostolischen Überlieferungen achten sie nicht, suchen aber dafür andere eitle, nichtige, ungewisse und von der Kirche nicht gebilligte Lehren, wodurch diese eitlen Menschen die Wahrheit selbst zu stützen und aufrecht zu erhalten wähnen.“ (*)
„Soviel, Ehrwürdige Brüder, über den Modernisten als Philosoph.“

(*) Gregor XVI. in der Enzyklika Singulari nos vom 25. Juni 1834.

aus: J.B. Lemius Obl. M. J., Der Modernismus Sr. H. Papst Pius X. Pascendi dominici gregis, 1908 S. 6 – S. 22

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