Papst Pius X. als Engel des Trostes
In Salzano war der junge Pfarrer Don Guiseppe Sarto während der Cholera-Epidemie 1873 Rückhalt und Stütze seiner Gemeinde gewesen. Die Betrübten tröstend, die Kranken labend, die Toten begrabend, lebte er einzig für seine schwer geprüften Pfarrkinder. Dieses zärtliche Mitleid für jede Art Kummer und Schmerz blieb ein charakteristischer Zug seines ganzen Lebens. Nicht umsonst hieß es von ihm, daß er unter allen Zeitgenossen das beste Herz besitze. Schon der Anblick irgend einer Pein rührte ihn zu Tränen. Es gab keine leibliche oder seelische Not, die nicht sein Mitgefühl erregte.
Als Patriarch von Venedig wandelte er eines Tages durch einen der ärmsten Stadtteile, redete wie gewöhnlich die Leute an, die ihm begegneten, und bedachte die um seinen Segen bittenden Kinder mit einem Lächeln oder einer Liebkosung. Plötzlich ertönte aus einem sehr ärmlichen, am Ende einer engen Straße gelegenen Hause das gellende Schreien eines Kindes, das von der eigenen Mutter grausam geschlagen wurde. Der Kardinal eilte das Gässchen hinab und zog kräftig an der Hausglocke. Oben wurde ein Fenster geöffnet, und in dessen Rahmen erschien der zornrote Kopf eines furienhaften Weibes. „Hört sofort auf, das Kind zu schlagen!“ lautete unten der entrüstete Befehl. Die Frau war so erstaunt, den Patriarchen an ihrer Türe zu erblicken, daß sie beschämt das Fenster schloß und sich zurückzog. Das grausame Schlagen hörte von nun an in diesem Hause auf.
Jede Art Tyrannei erregte seine Entrüstung. Als ausführliche und unzweifelhafte Berichte über die Lage gewisser Indianerstämme in Südamerika und über die grauenhafte Behandlung, die sie erfuhren, ihn erreichten, forderte er die dortigen Erzbischöfe und Bischöfe auf, ihr möglichstes zu tun, um der barbarischen Sklaverei ein Ende zu machen.
„Täglich höre ich neue Einzelheiten von der in Kleinasien und Mazedonien wütenden Verfolgung“, sagte der Papst eines Tages sehr betrübt in einer Privataudienz. „Wie viele arme Christen werden da hingeschlachtet! Welche Feigheit und welche Grausamkeit zeigt dieser Sultan, der selber vor Angst zittert. Er fleht um sein Leben und beteuert winselnd, daß er nie jemand ein Leid zugefügt habe.“
Das waren nur einige der vielen Schmerzen im Herzen jenes Hohenpriesters, „der die Sorge für alle Kirchen trug“. Alle Unglücksfälle, die in der Welt vorkamen, erregten sein Mitgefühl, mochten es Erdbeben, Springfluten, Feuersbrünste, Eisenbahn-Unfälle oder was immer sein. Die Beteiligten wurden väterlich getröstet und soviel wie möglich tatkräftig unterstützt. Hörte er dann von heldenmütigen Akten der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, so freute ihn das unendlich. Selbst die der Kirche fern stehenden Tagesblätter hoben das persönliche und väterliche Interesse hervor, das der Papst an Freud und Leid seines Volkes nahm.
Anläßlich des kalabrisch-sizilianischen Erdbebens vom Jahre 1908, das in wenigen Augenblicken die Städte Messina, Reggio, Scilla und die umliegenden Ortschaften zerstörte, dabei mehr als hunderttausend Menschen unter den Trümmern begrub, wandte Pius sich an die Nächstenliebe der katholischen Welt und fand glänzende Erwiderung. Die hochherzig geschenkte Summe von sieben Millionen Franken verwendete er dazu, der Not der Überlebenden abzuhelfen, die in vielen Fällen völlig mittellos da standen.
Aber nicht nur andere veranlaßte der Heilige Vater zum Geben. Er selber gab bis zum Äußersten. Am Tage nach dem Unglück von Messina sandte er unter Leitung des Msgr. Cottafavi eine Kommission dorthin ab, um die Lage der Dinge zu untersuchen, ihm zu berichten, die zumeist Bedürftigen ausfindig zu machen und nach Rom zu überführen. Täglich kamen Züge voll Verwundeter oder Leidender an, die in das päpstliche Hospiz Santa Marta gebracht wurden. Über fünfhundert Waisenkinder übernahm der Papst auf eigene Kosten. Diese liebevolle Teilnahme, tatkräftige Initiative und meisterhaft organisierte Hilfsaktion löste einen Ausbruch des Lobes aus, dem sogar der antiklerikale Bürgermeister von Rom sich anschloß. Ganz Europa bewunderte ihn. Dieser Papst, von dem es hieß, er kenne nur die Politik des Evangeliums und des Credo, er lege seine Diplomatie in die zehn Gebote, begeisterte jetzt die ganze Welt durch seine apostolische Furchtlosigkeit, Demut und Schlichtheit, seinen einfältigen Glauben.
Msgr. Benson erklärte: „Wer immer ihn gesehen hat, kann den außergewöhnlichen Eindruck nicht vergessen, den sein Antlitz und seine Haltung, sein gütiges Auge und seine sympathische Stimme hervorrufen. Unvergeßlich bleibt die überwältigende Väterlichkeit, die ihn befähigte, nicht nur seine eigenen tiefen Trübsale zu tragen, sondern auch all die persönlichen Schmerzen, die seine Kinder so reichlich auf ihn luden.“ Ein unwiderstehlicher Drang schien die Leidenden zu ihm zu führen; sie baten um sein Gebet und schieden selten ohne die Hilfe, die sie gesucht hatten. –
aus: F.A. Forbes, Papst Pius X. Ein Lebensbild, 1923, S. 139 – S. 141